MKL1888:Alpenstraßen und Alpenbahnen

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Alpenstraßen und Alpenbahnen“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 1 (1885), Seite 404406
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Alpenstraßen und Alpenbahnen. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 404–406. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Alpenstra%C3%9Fen_und_Alpenbahnen (Version vom 23.10.2023)

[404] Alpenstraßen und Alpenbahnen. Verbindungswege zwischen den nördlich und südlich von den Alpen gelegenen Ländern waren bereits im Altertum bekannt, doch galt der Übergang immer für ein überaus gefahrvolles Werk. Gallische Völker drangen frühzeitig nach Norditalien, und zwischen ihnen und ihren Stammverwandten jenseit des Gebirges scheint immer Verkehr stattgefunden zu haben; davon zeugt wenigstens die Sage von einer „heiligen Straße“, welche von den anwohnenden Völkerschaften unterhalten und geschützt wurde. Im 3. Jahrh. v. Chr. führte Hannibal seinen berühmten Übergang über die Alpen aus; das kühne Unternehmen ward wie ein Wunder angestaunt. Später hatten die Römer verschiedene Straßen über das Gebirge sowohl nach Gallien als nach Deutschland. Unter den erstern wurde die über Ocelium (Oulx) und den Matronenberg (Mont Genèvre) als die kürzeste am meisten benutzt; andre führten über die Penninischen, Grajischen und die Seealpen. Unter denen nach Germanien waren die vom Lacus Larius (Comer See) über den Splügen und die von Tergeste (Triest) über die Karnischen Alpen die bedeutendsten. Nach dem Verfall der alten Römerstraßen bestanden die Alpenwege bis ins 17. Jahrh. fast ohne Ausnahme aus Saumpfaden, die oft für Menschen und Tiere gefahrbringend waren und erst seit dem vorigen Jahrhundert allmählich in Fahrstraßen umgewandelt wurden. Noch Albrecht v. Haller konnte ausrufen: „Über die Alpen geht kein Rad!“ Es gab nur zwei zur Not fahrbare Wege über die Hochalpen, welche die Handelsstädte am Rhein und in Schwaben sowie im südöstlichen Frankreich mit der Lombardei verbanden. Der eine, seit 1772 fahrbar, führte über den Brenner, der andre, erst 1779–82 von Viktor Amadeus III. angelegt, über den Col di Tenda. Die ganze Zentralkette auf 480 km Länge aber war noch ohne Fahrweg; die Wagen mußten auseinander genommen und [405] so über das Gebirge geschafft werden. Napoleon I. baute und erweiterte sieben Heer- und Fahrstraßen über die Alpen. Über den 2010 m hohen Simplonpaß führte er von 1800 bis 1806 mit einem Aufwand von 15 Mill. Mk., um Genf und Mailand zu verbinden, eine 8,3 m breite, von Brieg im Rhônethal bis Domo d’Ossola am Toce 65 km lange Kunststraße; den seit alten Zeiten als Post- und Heerstraße benutzten, 2098 m hohen Paß über den Mont Cenis, welchen schon Catinat 1691 für Geschütze praktikabel gemacht hatte, baute er 1802–10 zu einer Straße aus, auf welcher sich bald der lebhafteste Verkehr zwischen Frankreich und Italien bewegte; die Straße von Grenoble nach Aosta, wohl die am frühsten benutzte zwischen Gallien und Italien, welche, 2157 m hoch, den Kleinen St. Bernhard überschreitet, machte er wenigstens für kleinere Wagen fahrbar; 1802 wurde die Straße über den 1860 m hohen Paß des Mont Genèvre erbaut, einer der niedrigsten Alpenübergänge und seit den Römerzeiten auch von Heeresmassen oftmals überschritten; weiter führte er Straßen über den Col de Traversette von Mont Dauphin nach Saluzzo, über den Col de l’Argentière in einer Paßhöhe von 1995 m von Gap nach Coni und wandelte die schon erwähnte, zu 1873 m aufsteigende Straße über den Col di Tenda, welche Nizza und Turin verbindet, fast gänzlich um.

Mit dem Sturz Napoleons erlahmte diese Thätigkeit keineswegs, dieselbe wurde vielmehr durch die darauf folgenden politischen und kommerziellen Umwälzungen aufs lebhafteste angeregt, und die Schweiz wetteiferte mit Österreich in der Herstellung von Kunststraßen, welche bald Zentral- und Ostpartien der Alpen auf zahlreichen Punkten überbrückten.

Auf Schweizer Gebiet kamen, abgesehen vom Simplon, in rascher Folge (1818–24) Splügen und Bernhardin, St. Gotthard, dann Julier (1824–28) und Maloja (1835–39) sowie verschiedene Detailbauten an den ältern Anlagen, wie der Tunnel des Verlornen Loches, Neue Teufelsbrücke u. a. In den Österreichischen Alpen wurde das Stilfser Joch (1820–25) gebahnt, von andern Pässen der Brenner, Radstädter Tauern[WS 1], Predielpaß, Semmering u. a. 1856–62 erhielt auch der Brünig, eine der ersten Touristenrouten der Schweizer Alpen, seine Straße, unter Mithilfe eines Bundesbeitrags von 400,000 Fr. Zunächst im Interesse der Landesverteidigung beschlossen die eidgenössischen Räte 26. Juli 1861, also schon im Zeitalter der ersten Bestrebungen für den Bau von Alpeneisenbahnen, die Bergstraßen Furka und Oberalp, inbegriffen die kühne Axenstraße (s. Axenberg), mit 13/4 Mill. Fr. zu subventionieren; diese Arbeiten waren 1865 vollendet. Für den Ausbau seines internen Netzes erhielt Graubünden zugleich einen Bundesbeitrag von 1 Mill. Fr., so daß in den nächsten Jahren auch Bernina, Albula, Flüela und Ofenpaß sowie die Thallinien von Puschlav, Unterengadin, Schyn und (Davoser) Landwasser ihre Straße erhielten. Später folgten noch der Lukmanier, der Pillon und der Schwarzenberg[WS 2] (Belle-Boltigen), sämtlich 1877 vollendet. Noch ist für mehrere andre Pässe eine Fahrstraße in Aussicht genommen, hauptsächlich für die Grimsel und den Pragel (oder den Klausen); allein die Umstände haben den Bau noch nicht erlaubt, und immer noch wartet auch einer der berühmtesten Pässe der Zentralalpen, der Große St. Bernhard, auf eine Kunststraße.

Die neueste Zeit hat sich mit diesen Alpenstraßen nicht begnügt. Sie hat den kühnen Gedanken einer Überschienung des Gebirges mit Geschick und Glück ausgeführt, und die Eisenbahnen, welche über einige der wichtigsten Übergänge geführt worden sind, haben für Verkehr und Handel bereits große Bedeutung erlangt. Der Ruhm des Vorgangs gebührt Österreich, das 1850–54 über den Semmering, über welchen schon seit 1726 eine Kunststraße führte, von Gloggnitz bis Mürzzuschlag mit 16 Viadukten und 15 Tunnels, deren längster 1385 m mißt und 110 m unter der Paßhöhe (980 m) hinzieht, eine Eisenbahn erbaute, welche die Verbindung zwischen Wien und Triest herstellt, eins der kühnsten und großartigsten Bauwerke der Welt. Doch wird dasselbe noch übertroffen von der 1867 vollendeten Brennerbahn, welche, abweichend von andern großen Gebirgsbahnen, die Paßhöhe nicht mittels eines Tunnels, sondern im Freien überschreitet und zwar in einer Höhe von 1367 m. Von Innsbruck nach Bozen führend, zählt sie bei einer Länge von 122,5 km 22 Tunnels (der längste 855 m). Zwischen diese beiden Bahnen ist seit 1872 die von St. Valentin über Leoben und Villach nach Laibach führende österreichische Kronprinz Rudolf-Bahn getreten als ein dritter Übergang über die Österreichischen Alpen.

Fast gleichzeitig mit der Brennerbahn wurde im westlichen Alpengebiet ein nicht minder großartiges Riesenwerk begonnen. Unterstützt von französischem Geld, unternahm Italien den Bau einer Bahn über den Mont Cenis und vollendete denselben 1871. Die Bahn erklimmt von Chambéry aus den Col de Fréjus bis zu einer Höhe von 1294 m (1600 m unter seiner Gipfelhöhe), durchbohrt ihn dann in einem 13,45 km langen Tunnel, um jenseits nach Susa zu führen. Diese Bahn wurde sogleich nach ihrer Vollendung von der größten Wichtigkeit, nicht nur, weil sie die direkteste Verbindung zwischen Frankreich und Italien herstellt, sondern vor allem als Glied der sogen. Überlandroute, welche von London über Paris und Lyon nach Brindisi zum Anschluß an die großen Dampferlinien nach Indien, Ostasien und Australien sowie auch an die das Mittelmeer durchschneidenden kleinern führt. Großartig wie alle diese Arbeiten aber sind, so werden sie doch sämtlich weit übertroffen durch die 1872 begonnene und 1882 vollendete Gotthardbahn, ein Bahnnetz, dessen Hauptlinie von Immensee am Zuger See bis Dirinella (italienische Grenze), unweit Pino am Lago Maggiore, 175,7 km lang, die Zentralalpen von N. nach S. durchzieht, zwischen Göschenen und Airolo den St. Gotthardpaß mittels eines 14,9 km langen Tunnels unterfährt und den Kanton Tessin mit den deutschen Kantonen der Schweiz, also Italien mit Deutschland, Holland, Belgien und Nordfrankreich auf kürzestem Weg verbindet. Sie macht Genua zum Transitwelthafen für den Verkehr Mitteleuropas mit den asiatischen Hauptplätzen, mit den Hafenstädten der europäischen und asiatischen Türkei und den La Plata-Staaten. Während so die Gotthardbahn ihren Vorgängern eine bedeutende Konkurrenz zu bereiten im stande ist, erwuchs ihr selber eine Konkurrentin in der im September 1884 eröffneten Arlbergbahn, die 135,8 km lange Linie von Innsbruck nach Bludenz, welche den Arlberg in 1310 m Seehöhe in einem 10,270 m langen Tunnel durchbricht. Diese Bahn wird für die Schweiz, Südwestdeutschland und Nordfrankreich eine bedeutend abgekürzte Verbindung herstellen mit den adriatischen Seehäfen Venedig, Triest und Fiume sowie mit Südungarn, Serbien, Rumänien. Endlich ist noch ein Schienenweg zu erwähnen, der freilich die [406] Alpen mehr umgeht, als überschreitet: die sogen. Cornichebahn, welche von Nizza am Meeresufer entlang durch eine Reihe von Tunnels nach Genua führt.

Die volkswirtschaftliche Bedeutung der über die Alpen führenden Straßen ist mit der Entwickelung des gesamten Verkehrs enorm gestiegen. Während sie in frühen Zeiten nur dazu dienten, die ungeheuern von der Natur gezogenen Grenzwälle zu überschreiten, welche jahrhundertelang die germanischen und romanischen Völker trennten, sind sie heute die Schlußglieder geworden in den großen Verkehrsringen, welche sich um den Erdball legen. Dazu haben sie sich namentlich gestaltet, seitdem das Mittelmeerbecken sich wiederum durch einen kräftig erblühenden Handel neu belebte und der Verkehr nach Indien, China und Australien sich mehr und mehr von dem langwierigen Weg um die Südspitze Afrikas abwandte und seine Richtung über Ägypten nahm. Für Deutschland können sie von außerordentlicher Wichtigkeit werden, wenn genügende Tariferleichterungen seinen südlichen Teilen gestatten, für die Verschiffung ihrer Produkte die Häfen Triest, Venedig und Genua zu wählen, statt, wie bislang, an die weit langwierigern Routen gebunden zu sein, welche die deutschen Nordseehäfen sowie die nächstgelegenen Häfen Belgiens, Frankreichs und Englands einzuschlagen haben. Vgl. Memminger, Die Alpenbahnen und deren Bedeutung für Deutschland und Österreich (2. Aufl., Zür. 1878). Ausführlicheres über die einzelnen Bahnen enthalten die betreffenden Artikel. S. Karte „Alpen“ und die am Schluß des Registers zu derselben abgedruckte „Übersicht der Hauptalpenübergänge“.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Siehe im Artikel Radstadt.
  2. Siehe im Artikel Jaunthal.