Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Affekte“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 1 (1885), Seite 139
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Affekte. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 139. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Affekte (Version vom 29.10.2021)

[139] Affekte (lat.), plötzlich entstehende und ebenso rasch vorübergehende Abweichungen vom natürlichen Gleichgewicht des Seelenlebens, die mit gewissen teils allgemeinen, teils spezifischen Erscheinungen am leiblichen Organismus verbunden sind. Durch erstern Umstand sind dieselben von bloßen Gefühlen, die „oft sehr stark, dauerhaft und in die Grundlage eines menschlichen Charakters tief verwachsen sein können“ (Herbart), z. B. Familienliebe, Ehrgefühl, von den sogen. Leidenschaften aber dadurch unterschieden, daß letztere tief eingewurzelte Begierden sind. Je nachdem die Abweichung dadurch hervorgebracht wird, daß zu viel, oder dadurch, daß zu wenig Vorstellungen zugleich im Bewußtsein vorhanden sind, teilt man (nach Kant) die A. in rüstige (sthenische) und schmelzende (asthenische) ein. Die sonst beliebte Einteilung in handelnde und leidende ist deshalb unpassend, weil im Grund alle A. als Affiziert-(Ergriffen-)sein des Gemüts ein Leiden (gleichsam eine vorübergehende Gemütskrankheit) darstellen und dadurch auch die Zurechnungsfähigkeit des im Affekt Befindlichen für die Dauer desselben aufheben. Die Wirkung des Affekts ist in beiden Fällen die nämliche: die Fähigkeit zur besonnenen Überlegung wird sowohl durch das Übermaß der auf einmal auftauchenden, sich untereinander gegenseitig verdunkelnden Vorstellungen als durch die Abwesenheit solcher erschwert, ja vernichtet, die, wenn sie vorhanden wären, den Gegenstand des Affekts in einem andern Licht erscheinen lassen würden (Flut und Ebbe des Vorstellens). Der sthenische Affekt (z. B. Zorn, Freude) ist daher ganz, der asthenische (z. B. Furcht, Traurigkeit, Schrecken) wenigstens teilweise „mit Blindheit geschlagen“. Jener ist dem Rausch, dieser der Ohnmacht verwandt. Jener führt, da die psychischen Vorgänge jedesmal von entsprechenden physischen begleitet, durch solche verursacht oder Ursachen von solchen sind, durch das Zuviel im seelischen auch ein Zuviel im leiblichen, dieser aus gleichem Grund ein Zuwenig im Lebensprozeß (Hypertrophie, Atrophie) herbei, wobei die Wirkung, ganze oder teilweise Stockung desselben, die nämliche ist. Sind die dem Affekt zu Grunde liegenden Vorstellungen derart, daß sie jede für sich eine Bewegung erzeugen würden, so bringen die von allen Seiten zugleich und nach allen Richtungen hin ausgehenden Bewegungsimpulse dieselbe Wirkung hervor, wie wenn überhaupt gar keine solchen vorhanden wären: sie heben sich untereinander auf. Der Affekt ist ebensowohl ein psychologischer wie ein physiologischer Gegenstand. In ersterer Hinsicht macht er durch das Zuviel oder Zuwenig der Vorstellungen blind, in letzterer durch das Zuviel oder Zuwenig der Muskelbewegungsanreize starr. Der höchste Grad des Affekts ist mit Sprach- und Bewegungslosigkeit verknüpft. Der Zorn, die Freude lähmen alle, Furcht und Schrecken diejenigen Glieder, mit welchen der Furchtsame sich verteidigen, der Erschreckte entfliehen könnte. Zorn und Schrecken, aber auch plötzliche Freude können den Tod oder doch bleibende Lähmung (durch Schlagfluß) herbeiführen. Der Affekt gleicht einem Windstoß, der das Meer aufwühlt; die Wellenbewegung währt fort, nachdem er vorübergebraust ist. Schwindet die organische Lähmung früher als der Affekt, und pflanzt sich der Aufruhr im Gemüt widerstandslos auf die Glieder des Leibes fort, so erfolgen Handlungen, welche Thaten des im Affekt Befindlichen zu sein scheinen, aber im strengen Sinn des Worts nicht sind, da sie ohne Überlegungs- und folglich ohne Zurechnungsfähigkeit vollbracht werden. Der Zorn wird Tobsucht, die Freude Ausgelassenheit, der Feige greift zur Notwehr und schreit um Hilfe, der Erschrockene läuft davon. Schwindet dagegen, wie meistens, der Affekt früher als die durch denselben verursachte Aufregung im Körper (Wallung des Bluts, Zittern der Glieder), so wirkt diese umgekehrt nun auf die Seele zurück und unterhält den Affekt, der, sich selbst überlassen, vorübergehen würde. Diese mit dem Affekt verbundenen leiblichen Zustände, die teils allen Affekten oder doch mehreren gemein, teils einzelnen derselben eigen sind (Erröten bei der Scham, Erbleichen bei der Furcht, Lachen bei der Freude, Weinen bei der Trauer, aber auch umgekehrt), können daher sowohl als Zeichen zur Darstellung wie als Mittel zur künstlichen Erregung der A. verwandt werden; der Redner, der Schauspieler stellen nicht nur A. dar, sondern sie reden und agieren sich selbst in den Affekt hinein, indem sie Ton, Stellung, Gebärde des in demselben Befindlichen nachahmen. A. als krankhafte Gemütszustände sind keiner direkten, sondern nur einer indirekten Behandlung zugänglich; da sie vernünftige Überlegung unmöglich machen, so richten Gründe (z. B. Trostgründe bei Traurigen) gegen dieselben nichts aus. („Den Traurigen gib Wein!“) Alles, was sich thun läßt, ist, daß man die (äußern und innern) Anlässe zu denselben so gut wie möglich fern hält, durch Konzentrierung des Vorstellungskreises einer zusammenhangslosen Mannigfaltigkeit, durch Erweiterung desselben einer kurzsichtigen Einseitigkeit desselben entgegenarbeitet. Dabei werden bleibende, in Geschlecht, Alter, Temperament und individuellem Naturell begründete organische Dispositionen für oder gegen A. (im allgemeinen oder besonderer Art; Frauen und Kinder affektvoller als Männer und Erwachsene; Choleriker mehr zu sthenischen, Melancholiker zu asthenischen Affekten geneigt; Phlegmatiker von Natur affektlos; Sanguiniker mehr gefühl- als affektvoll) sich niemals gänzlich beseitigen lassen.