Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Abstimmung“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 1 (1885), Seite 6566
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Abstimmung. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 65–66. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:Abstimmung (Version vom 21.01.2023)

[65] Abstimmung, die förmliche und ausdrückliche Willenserklärung der Mitglieder einer Versammlung oder eines Kollegiums über eine bestimmte Frage. Zu einem gültigen Beschluß ist Beschlußfähigkeit, d. h. die Anwesenheit der vorschriftsmäßigen Anzahl von Mitgliedern, und je nach dem einzelnen Fall und nach den bestehenden Vorschriften Stimmeneinhelligkeit oder Stimmenmehrheit erforderlich. In letzterer Beziehung wird entweder eine bestimmte Mehrheit, z. B. zwei Drittel der Mitglieder, oder absolute Majorität (eine Stimme über die Hälfte sämtlicher Stimmen), oder nur relative Majorität erfordert. Letztere liegt dann vor, wenn sich für eine Meinung nur mehr Stimmen erklären als für jede einzelne sonstige Meinung. Die A. erfolgt entweder öffentlich durch Handaufheben, Aufstehen von den Sitzen, Auseinandertreten, Zuruf (Akklamation), oder geheim durch Stimmzettel, Stimmtäfelchen oder schwarze und weiße Kugeln (Ballotage). Eine weitere Art der öffentlichen A. ist die durch Namensaufruf, bei welchem mit „Ja“ oder „Nein“ geantwortet wird. Letztere Art und Weise rechtfertigt sich aber für größere Versammlungen nur durch die besondere Bedeutung des Falles; sie kann leicht zur Verschleppung von Gegenständen und zur Parteiintrige gemißbraucht werden. Nach der Geschäftsordnung des deutschen Reichstags sind die Fragen, die zur A. kommen, so zu stellen, daß sie einfach durch „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden können. Unmittelbar vor der A. ist die Frage zu verlesen. Ist vor einer A. infolge einer darüber gemachten Bemerkung der Präsident oder einer der fungierenden Schriftführer zweifelhaft, ob eine beschlußfähige Anzahl von Mitgliedern anwesend sei, so erfolgt der Namensaufruf. Erklärt dagegen auf die erhobene Bemerkung oder einen diesbezüglichen Antrag auf Auszählung des Hauses der Präsident, daß kein Mitglied des Büreaus über die Anwesenheit der beschlußfähigen Anzahl von Mitgliedern (199) zweifelhaft sei, so sind damit Bemerkung und Antrag erledigt. Die A. geschieht nach absoluter Mehrheit durch Aufstehen oder Sitzenbleiben. Ist das Ergebnis nach der Ansicht des Präsidenten oder eines der fungierenden Schriftführer zweifelhaft, so wird die Gegenprobe gemacht. Liefert auch diese noch kein sicheres Ergebnis, so erfolgt die Zählung des Hauses und zwar, nach englischem Muster, in folgender Weise (sogen. Hammelsprung): Der Präsident fordert die Mitglieder auf, den Saal zu verlassen. Sobald dies geschehen, sind die Thüren zu schließen, mit Ausnahme einer Thür an der Ost- und einer an der Westseite. An jeder dieser beiden Thüren stellen sich je zwei Schriftführer auf. Auf ein vom Präsidenten mit der Glocke gegebenes Zeichen treten nun diejenigen Mitglieder, welche mit „Ja“ stimmen wollen, durch die Thür auf der Ostseite, rechts vom Büreau, diejenigen aber, welche mit „Nein“ stimmen wollen, durch die Thür an der Westseite, links vom Büreau, in den Saal wieder ein. Die an jeder der beiden Thüren stehenden Schriftführer zählen laut die eintretenden Mitglieder. Demnächst gibt der Präsident ein Zeichen mit der Glocke, schließt die A. und läßt die Thüren des Saals öffnen. Jede nachträgliche A. ist ausgeschlossen, nur der Präsident und die dienstthuenden Schriftführer geben ihre Stimmen nachträglich ab, worauf der Präsident das Resultat der Zählung des Hauses verkündet. Auf namentliche A. kann beim Schluß der Beratung vor der Aufforderung zur A. angetragen werden; ein solcher Antrag muß aber wenigstens von 50 Mitgliedern unterstützt werden. Der Präsident erklärt die A. für geschlossen, nachdem der namentliche Aufruf sämtlicher Mitglieder des Reichstags erfolgt und nach Beendigung desselben durch Wiederholung des Alphabets Gelegenheit zur etwanigen nachträglichen A. gegeben worden ist. Bei allen nicht durch Namensaufruf erfolgten Abstimmungen hat jedes Mitglied des Reichstags das Recht, seine von dem Beschluß der Mehrheit abweichende A., kurz motiviert, schriftlich dem Büreau zu übergeben u. deren Aufnahme in die stenographischen Berichte, ohne vorgängige Verlesung im Reichstag, zu verlangen.

Für die A. in den Richterkollegien hat das deutsche Gerichtsverfassungsgesetz (§§ 194 ff.) besondere Vorschriften gegeben. Hiernach soll die Entscheidung der Regel nach auf Grund absoluter Majorität der Stimmen erfolgen. Bilden sich in Beziehung auf Summen, über welche zu entscheiden ist, mehr als zwei Meinungen, deren keine die Mehrheit für sich hat, so werden die für die größte Summe abgegebenen Stimmen den für die zunächst geringere abgegebenen so lange hinzugerechnet, bis sich eine Mehrheit ergibt. Bilden sich in einer Strafsache, von der Schuldfrage abgesehen, mehr als zwei Meinungen, deren keine die Mehrheit für sich hat, so werden die dem Beschuldigten nachteiligsten Stimmen den zunächst minder nachteiligen so lange hinzugerechnet, bis sich eine Mehrheit ergibt. Zur Bejahung der Schuldfrage wird nach der deutschen Strafprozeßordnung (§ 262) die Mehrheit von zwei Dritteilen der Stimmen erfordert. Die Reihenfolge bei der A. richtet sich nach dem Dienstalter, bei den Schöffengerichten und in den Kammern für Handelssachen nach dem Lebensalter: der jüngste stimmt zuerst, der Vorsitzende zuletzt. Wenn ein Berichterstatter ernannt ist, so gibt dieser seine Stimme zuerst ab. Bei der [66] A. der Geschwornen richtet sich die A. nach der Reihenfolge der Auslosung. Der Obmann stimmt zuletzt. Nicht selten wird übrigens auch der Ausdruck A. gleichbedeutend mit „Wahl“ (s. d.) gebraucht.