MKL1888:Ätherische Öle

Meyers Konversations-Lexikon
4. Auflage
Seite mit dem Stichwort „Ätherische Öle“ in Meyers Konversations-Lexikon
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Band 1 (1885), Seite 10111012
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Ätherische Öle. In: Meyers Konversations-Lexikon. 4. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig 1885–1890, Band 1, Seite 1011–1012. Digitale Ausgabe in Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/wiki/MKL1888:%C3%84therische_%C3%96le (Version vom 25.04.2023)

[1011] Ätherische Öle (flüchtige Öle, Essenzen), flüchtige Flüssigkeiten, welchen die Pflanzen in der Regel ihren eigentümlichen Geruch verdanken. Sie finden sich in großer Mannigfaltigkeit und sehr verbreitet im Pflanzenreich, am reichlichsten in den Familien der Umbelliferen, Labiaten, Kompositen, Kruciferen, Aurantiaceen, Myrtaceen, Laurineen, Kupressineen, Koniferen, Amomen, und zwar in den verschiedensten Organen, besonders in Blüten, Samen, Fruchtschalen, meist bei der nämlichen Pflanze in allen Organen von gleicher Beschaffenheit, bisweilen auch in jedem Organ ein eigentümliches Öl. Sonnenschein und Wärme begünstigen die Bildung der ätherischen Öle, und daher liefert dieselbe Pflanze im Süden oft viel mehr und feineres ätherisches Öl als im Norden. Auch Klima und Kulturverhältnisse beeinflussen die ätherischen Öle. Über ihre Entstehung in den Pflanzen ist nichts bekannt; doch hat man in Ericeen, Koniferen und andern Pflanzen Substanzen aufgefunden, welche bei Behandlung mit verdünnten Mineralsäuren in ein Kohlehydrat und flüchtiges Öl gespalten werden. Derartige Spaltungen mögen auch in der lebenden Pflanze vor sich gehen und Kohlehydrat und ätherisches Öl oft aus derselben Muttersubstanz entstehen. Einige ä. Ö. finden sich nicht fertig gebildet in der lebenden Pflanze, sondern entstehen erst bei der Zerstörung des Pflanzengewebes aus Stoffen, welche bis dahin getrennt voneinander waren. So sind bittere Mandeln geruchlos; wenn man sie aber mit Wasser zerreibt, wirkt das in ihnen enthaltene Emulsin auf das Amygdalin fermentartig ein, und letzteres spaltet sich nun in Bittermandelöl, Blausäure und Zucker. Ähnlich entsteht das ätherische Senföl erst beim Zerreiben der Senfsamen mit Wasser. Eigentümliche ä. Ö. bilden sich bei der Gärung frischer oder abgestorbener Pflanzensubstanz (Fermentöle), reichlich z. B. aus dem im Herbst abfallenden Laub, wo sie dann den charakteristischen Geruch im entblätterten Laubwald bedingen. Im Tierreich finden sich nur wenige hierher gehörige Körper, da die meisten tierischen Gerüche durch flüchtige, fette Säuren hervorgebracht werden. Einige ä. Ö. hat man auch ohne Hilfe der Pflanzen künstlich dargestellt (Senföl, Bittermandelöl, Wintergrünöl).

Man gewinnt die ätherischen Öle aus einigen sehr ölreichen Pflanzenteilen, wie Bergamott-, Zitronen-, Orangeschalen, durch Aufreißen der Öldrüsen derselben an einem Reibeisen und Auspressen, in der Regel aber durch Erhitzen der Pflanzensubstanz mit Wasser oder Wasserdampf in einem Destillationsapparat und Verdichten der Wasserdämpfe, welchen die Dämpfe des ätherischen Öls beigemengt sind, mittels eines Kühlapparats. Das Destillationsprodukt ist ein meist trübes Wasser, welches ätherisches Öl gelöst enthält und daher stark nach demselben riecht (aromatisches, ätherisches, abgezogenes Wasser). War die Pflanzensubstanz reich an ätherischem Öl, so verflüchtigt sich von demselben mehr, als in dem Wasser gelöst bleiben kann, und ein Teil des Öls schwimmt auf dem letztern. Wenn dagegen die Pflanzensubstanz nur wenig Öl enthält, so muß man das erhaltene Destillat mit einer neuen Menge derselben Pflanzensubstanz abermals destillieren, um zur Abscheidung von ätherischem Öl zu gelangen. Zur bequemen Trennung des ätherischen Öls vom Wasser bei der Verarbeitung großer Mengen dient die Florentiner Flasche (s. d.). Manche Pflanzen geben bei der Destillation überhaupt kein ätherisches Öl, und einige sehr zarte Pflanzengerüche (Veilchen) werden durch die Destillation bedeutend modifiziert; in diesen Fällen muß man sich begnügen, die betreffenden ätherischen Öle an Fett zu binden (s. Parfümerie). In neuerer Zeit hat man angefangen, aromatische Vegetabilien mit Methylchlorür auszuziehen. Man erhält dann eine Lösung des ätherischen Öls, von welchem das sehr flüchtige Lösungsmittel leicht getrennt werden kann.

Die ätherischen Öle sind bei mittlerer Temperatur flüssig, meist farblos oder gelb, einige braun oder rot, wenige grün oder blau (Kamillenöl); sie sind in Wasser wenig, in Alkohol, Äther, Chloroform, Schwefelkohlenstoff und fetten Ölen leicht löslich. Sie riechen durchdringend und geben den Geruch der Pflanze, von welcher sie stammen, oft dann erst ganz treu wieder, wenn man sie in viel Alkohol löst und die Lösung mit Wasser verdünnt. Sie schmecken brennend, brechen das Licht sehr stark, lenken den polarisierten Lichtstrahl ab, machen auf Papier einen Fettfleck, der an der Luft allmählich wieder verschwindet, lösen Fette, Harze, Schwefel, Phosphor, brennen mit rußender Flamme, sind meist leichter als Wasser, sieden meist über 140°, können destilliert werden, wobei sie aber in der Regel mehr oder weniger ihren Geruch verändern, und verflüchtigen sich am leichtesten mit Wasserdämpfen. Die Zusammensetzung der ätherischen Öle ist sehr verschieden. Viele sind Gemenge von Kohlenwasserstoffen, die meist der empirischen Formel C10H16 entsprechen (Kamphene, Terbene). Diese ätherischen Öle weichen in ihren Eigenschaften im allgemeinen nur wenig voneinander ab, unterscheiden sich aber durch Geruch, Geschmack und optisches Verhalten; sie verbinden sich meist mit Wasser und mit Salzsäure zu oft kristallisierbaren Körpern. Andre ä. Ö. enthalten neben Kohlenwasserstoffen sauerstoffhaltige Körper, wie Aldehyde, Alkohole, Acetone, Säuren, zusammengesetzte Äther; nur wenige sind schwefelhaltig (Senföl, Knoblauchöl). Bei niederer Temperatur scheiden manche a. Ö. feste Körper aus (Stearoptene, Kampfer), während Eläopten flüssig bleibt. An der Luft nehmen die ätherischen Öle Sauerstoff auf, werden dabei meist dunkler und dickflüssig, und die Kohlenwasserstoffe verwandeln sich in harzartige, nicht flüchtige Produkte unter gleichzeitiger Bildung von Ameisensäure, Essigsäure, Kohlensäure. Die aldehydhaltigen Öle liefern an der Luft Säuren, welche sich kristallinisch ausscheiden (Zimtsäure aus Zimtöl, Benzoesäure aus Bittermandelöl). Viele ä. Ö. sind eminente Ozonträger (s. Ozon). Sauerstofffreie Öle erhitzen sich, wenn sie frisch sind, lebhaft mit Jod und erleiden eine Art Verpuffung, während die sauerstoffreichen das Jod ohne oder unter geringer Erhitzung lösen. Sauerstofffreie Öle geben, mit trocknem Nitroprussidkupfer einige Minuten gekocht, einen grünen oder blaugrünen Niederschlag, ohne sich zu färben; sauerstoffhaltige geben aber einen schwarzen, grauen oder braunen Niederschlag und färben sich selbst dunkler gelb- oder [1012] grünbraun. Diese und ähnliche Reaktionen benutzt man zur Prüfung der ätherischen Öle auf Verfälschungen, doch bleibt für feinere Unterscheidungen vielfach die Nase das beste Reagens. Die meisten, vielleicht alle ätherischen Öle wirken auf die Haut, wenn auch in sehr verschiedenem Grad, reizend. Im Mund bewirken sie in kleiner Dosis Absonderung von Speichel, im Magen und Darm vermehrte peristaltische Bewegung, vielleicht auch Vermehrung der Sekretion; größere Dosen rufen Entzündungen hervor, zugleich wirken sie auf das Nervensystem, besonders das Gehirn, auf die Zirkulation und die Nierenthätigkeit. Sie dienen als Arzneimittel (häufig in der Form von Ölzucker), zu Likören, Konditorwaren und Parfümen, die billigern als Lösungsmittel für Harze, zur Denaturierung des Spiritus, in der Porzellanmalerei, einige, welche reduzierend wirken, zur Darstellung von Silberspiegeln. Vgl. Husemann, Die Pflanzenstoffe (2. Aufl., Berl. 1884); Maier, Die ätherischen Öle (Stuttg. 1867); Mierzinski, Fabrikation der ätherischen Öle (Berl. 1871).


Jahres-Supplement 1890–1891
Band 18 (1891), Seite 6162
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[61] Ätherische Öle zeigen in ihrer Zusammensetzung große Mannigfaltigkeit. Neben den Terbenen, welche fast niemals fehlen und oft die Hauptmasse bilden, finden sich Aldehyde, Phenole, Ketone, zusammengesetzte Äther etc. Über diese Thatsachen hinaus ist wenig bekannt, was nähere Aufschlüsse über die Bedeutung der ätherischen Öle im Pflanzenleben, ihre Beziehungen zu andern Körpern etc. geben könnte. Erst einige neuere Arbeiten geben tiefere Einblicke und zeigen, welchen Atomgruppierungen die Natur bei den ätherischen Ölen den Vorzug gibt. In den ätherischen Ölen der Betelblätter findet sich eine Substanz, Chavicol, welche ihrer Struktur nach als Paraallylphenol C6H4.C3H5.OH aufzufassen ist. Sie ist also abzuleiten von Benzol C6H6, in welchem zwei Atome H, und zwar das erste und das vierte (Parastellung), durch Allyl C3H5 und Hydroxyl OH vertreten sind. Diese Struktur ist nun für viele ä. Ö. charakteristisch. In den Benzolkern C6H4 des Paraallylphenols treten noch ein, zwei oder drei Hydroxyle ein, die ganz oder teilweise durch Methyl CH3 oder Methylen CH2 ätherifiziert werden. Neben Chavicol enthält das Betelöl noch Chavibetol C6H3.C3H5.OH.OCH3, und dieser Körper ist isomer mit dem Eugenol, dem ätherischen Öl der Gewürznelken. Der Unterschied zwischen beiden besteht lediglich darin, daß eine andre Hydroxylgruppe durch Eintritt von CH3 ätherifiziert ist. Beide enthalten eine freie Hydroxylgruppe, und wenn man diese ätherifiziert, so erhält man aus Chavibetol und aus Eugenol einen und denselben Körper. Chavicol ist ein klares Öl von kreosotartigem Geruch, wirkt fünfmal stärker antiseptisch als Karbolsäure und doppelt so stark wie Eugenol. Man muß annehmen, daß dies bei der Wirkung der Betelblätter auf den Organismus zur Geltung kommt. Wenn im Chavibetol oder Eugenol des Methyl CH3 durch Methylen ersetzt wird, dann werden beide Hydroxylgruppen ätherifiziert, und es entsteht Safrol C6H3.C3H5.OCH2O, der Hauptbestandteil des ätherischen Sassafrasöls, welcher neben Eugenol im ätherischen Öl der Blätter des Sternanisbaums vorkommt. Safrol bildet eine leicht schmelzbare Kristallmasse, riecht aromatisch und steht in naher Beziehung zur Piperinsäure, die leicht aus dem Alkaloid des schwarzen Pfeffers, dem Piperin, gewonnen wird. Im Apiol, dem kristallinischen Bestandteil des ätherischen Petersilienöls, haben wir einen Körper, der hinsichtlich seiner chemischen Konstitution das Methyleugenol (oder Methylchavibetol) und das Safrol in sich vereinigt. Er ist C6H.C3H5.OCH2O.(OCH3)2. Das Apiol ist eine farblose Kristallmasse, riecht schwach petersilienartig und schmilzt bei 30°. – Die Gruppe C3H5 in den genannten ätherischen Ölen kann entweder, wie oben angenommen, Allyl CH2.CH.CH2 oder Propenyl CH.CH2.CH2 sein. Das optische Verhalten der ätherischen Öle beweist, [62] daß sie in der That Allyl enthalten, wenn man sie aber mit alkoholischem Kali erhitzt, so geht das Allyl in Propenyl über. Nun finden sich aber auch Propenylphenole in ätherischen Ölen. Der Hauptbestandteil des Anisöls, das Anethol, ist nämlich der Methyläther des Parapropenylphenols C6H4.C3H5.OCH3, also isomer mit einem methylierten Chavicol und aus solchem durch Behandeln mit alkoholischem Kali leicht zu erhalten. Man kann also ohne Schwierigkeit vom Betelöl zum Anisöl gelangen. Dieses Verhalten dürfte auch praktisches Interesse besitzen, da sich die Propenylderivate wesentlich leichter oxydieren lassen als die Allylderivate. Wenn man z. B. das leicht zugängliche Safrol durch Behandeln mit alkoholischem Kali in die isomere Propenylverbindung überführt, so erhält man durch Oxydation leicht den Aldehyd C6H3.CHO.OCH2O, das Piperonal, eine Substanz, die unter dem Namen Heliotropin in der Parfümerie benutzt wird.