Textdaten
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Autor: Paul Heyse
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Titel: Lorenz und Lore
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 50–52, S. 785–788, 801–804, 817–820
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Lorenz und Lore.
Von Paul Heyse.


Im Jahre 1854, am 25. Juli, Nachts um elf Uhr – so genau kennen wir den Zeitpunkt, in dem diese eben so wahre als einfache Geschichte begann – hielt die Postkutsche vor dem ansehnlichsten Gasthofe einer kleinen mitteldeutschen Stadt, ohne daß wie sonst der Postillon in’s Horn stieß und Kellner und Hausknecht heraussprangen, die Reisenden in Empfang zu nehmen. Es war nämlich in jenem bösen Cholera-Jahr die Stadt, die bisher immer verschont geblieben, so schwer von der Seuche heimgesucht worden, daß selbst die Handlungsreisenden, die zahlreich in der „Post“ einzukehren pflegten, schon seit Wochen ihre besten Kundschaften versäumten, um nur dem Essig und Chlorgeruch zu entgehen, der Tag und Nacht alle Häuser und Straßen erfüllte. Mehrere Tage schon hatte die Post keinen Passagier mehr gebracht, dagegen täglich in vielen Beiwägen Einwohner der Stadt hinausgeschafft, die in höher gelegenen Oertern des nahen Gebirges Zuflucht suchten, darunter viele schwarzgekleidete Gestalten mit verweinten Augen, bei deren Anblick dem Postillon das Blasen seiner muntern Stückchen verging.

In jener Nacht des 25. Juli führte vollends Einer die Peitsche, der überhaupt sich nicht auf solche Künste verstand, ein junger Mann in schwarzem Rock und grauem Filzhut, der als der einzige Reisende auf der vorletzten Station die Stelle des Schwagers eingenommen hatte, da dieser ebenfalls plötzlich erkrankte, und, bei der großen Scheu, die verpestete Stadt zu betreten, kein andrer Ersatzmann sich finden wollte. Es traf sich, daß der junge Mann als ein Landeskind dem dortigen Posthalter bekannt war, so daß dieser ihm, da er darauf bestand noch heute an Ort und Stelle zu kommen, auf die kurze Strecke unbedenklich den alten Thurn- und Taxis’schen Rumpelkasten anvertraute. Manchen, der ihm auf der dämmerigen Landstraße begegnete, wie er in rascherem Trabe, als üblich war, dahinrollte, mochte ein Schauer überlaufen, wenn er statt des Schwagers in der lustigen Jacke mit den gelben Lederhosen die schwarze Gestalt vom Bock herunter kutschiren sah, als habe nun der Tod leibhaftig das Fuhrwesen übernommen, da die bisherige Beförderung ihm zu langsam gewesen.

Auch der junge Mann konnte sich eines unheimlichen Gefühls nicht erwehren, als es immer finsterer und stiller wurde und endlich nichts mehr zu sehen war, als dicht vor ihm die dampfenden Pferderücken und links und rechts die Steine der Chaussee, über die aus den trüben Wagenlaternen ein ungewisser Schimmer glitt. Er war froh, als die Gäule, die blindlings ihres Weges fortgetrabt waren, endlich vor dem Posthause hielten, übergab dem verschlafenen Hausknecht, den er mühsam herausklopfen mußte, den Wagen sammt dem Briefbeutel, sagte, er werde morgen wieder vorsprechen, um dem Postmeister die nöthigen Aufklärungen zu geben, und schlug dann, sein Reisesäckchen in der Hand, eilig den wohlbekannten Weg ein, der zu seiner Eltern Hause führte.

Nun muß man wissen, daß sein Vater ein ehrsamer Glockengießermeister war, schon in den Siebzigen, der sich seit einigen Jahren zur Ruhe gesetzt, die Werkstatt verkauft und ein behagliches Stillleben begonnen hatte, nur unterbrochen durch Besuche seiner beiden Kinder, der älteren Tochter, die eine Tagereise entfernt an einen Pfarrer verheirathet war, und dieses Sohnes, der seit einem halben Jahr eine Lehrerstelle am Gymnasium der Provinzialhauptstadt bekleidete. Die Mutter, eine Lehrerstochter, hatte ihren Kindern eine sorgfältige Erziehung über die Ansprüche des Handwerkerstandes hinaus gegeben und im Laufe der Zeit auch ihrem Manne, in dem von Hause aus eine reiche künstlerische Ader steckte, seine groben Ecken abgeschliffen, so daß nichts anmuthiger war, als das bejahrte Paar zu beobachten, wie es in seiner späten Mußezeit des Miteinanderlebens erst recht froh wurde. Der Alte, der noch rüstig war, noch immer den schönen Kopf mit den grauen Locken aufrecht auf den breiten Schultern trug, hatte den ganzen Tag in seiner hellen geräumigem Wohnstube etwas zu basteln oder zu bosseln, schnitzte oder formte Modelle zu allerlei kunstreichem Hausgeräth und horchte dazwischen auf das, was ihm seine kleine saubere Frau mit ihrer noch immer wohlklingenden Stimme vorlas. Kam dann die Tochter mit ihrem Manne oder auch nur mit den Kindern auf ein paar Tage zum Besuch und der Sohn, der in Würzburg und Erlangen studirt hatte, konnte ebenfalls eine Ferienzeit benutzen, wieder einmal die Füße unter seiner Eltern Tisch zu strecken, so gab es in dem ganzen Städtchen keine glücklichere und stattlichere Familie, und die Schwester, die den Humor des Vaters geerbt hatte, war froh, einmal wieder ihre pastorale Würde ablegen und das übermüthige lachlustige Kind des Hauses sein zu dürfen, das auch den ernsteren Bruder bald wieder in den alten ungebundenen Ton hineinscherzte.

Diese sonnigen Tage waren plötzlich verdunkelt worden, als die schreckliche Krankheit über das Städtchen hereinbrach. Gleich zu Anfang hatte die Pfarrerin ihre Eltern auf’s Dringendste gebeten, sich in ihre höher gelegene Gegend zu flüchten, wo das Gespenst sich noch nicht hatte blicken lassen. Der Alte, der auch sonst schwer zu lenken war, hatte sich fest geweigert, seine Mitbürger [786] und Nachbarn in der allgemeinen Noth zu verlassen, vielmehr, wo er konnte, Hilfe geleistet und sich selbst und seine Frau durch ein mäßiges und vorsichtiges Leben lange Zeit jeder Anfechtung erwehrt. Seit sechs Tagen aber waren die Briefe der Mutter ausgeblieben, und in der Unruhe, was das zu bedeuten habe, hatte der Sohn sich plötzlich entschlossen, selbst hinzureisen und seinen Eltern, wenn es zum Schlimmsten kommen sollte, nach Kräften beizustehen. Der Hausknecht in der Post, den er sogleich befragte, war erst seit wenigen Tagen in der Stadt und kannte nicht einmal den Namen des alten Meisters; und während der Jüngling durch die finsteren Gassen hinschritt, begegnete ihm keine Menschenseele, die ihm im Vorbeigehn hätte Auskunft geben können, wie es im Hause stehe. Immer hastiger wurde sein Schritt, der Schweiß trat ihm in großen Tropfen vor die Stirn; dann und wann hörte er aus einem offenen Fenster das Stöhnen eines Kranken oder das Weinen eines armen Weibes, das neben ihrem hingerafften Manne oder Kinde die Leichenwache hielt, und in all’ den Jammer sahen die Sterne der Sommernacht so funkelnd herein, daß der Gegensatz himmlischer Ruhe und irdischer Noth dem einsamen Wanderer nur noch schwerer das Herz beklemmte.

Nun stand er vor dem alten hochgiebeligen Hause, drin seine Eltern wohnten, und that einen tiefen Athemzug, als er sah, daß alle Fenster geschlossen waren. Licht brannte hinter keinem, also wurde auch keine Krankenwache gehalten. Jetzt fiel ihm erst ein, daß die alten Leute erschrecken würden, wenn er so spät in der Nacht unangemeldet – einen Brief vorauszuschicken war nicht Zeit gewesen – ihnen in’s Haus fiele. Aber wieder fortgehen, in einem Gasthofsbette schlafen und sich bis morgen gedulden, brachte er nicht über’s Herz. Also zog er sacht an der Hausglocke, die unter einem zierlich aus Sandstein gemeißelten Dächlein zugleich als Handwerkszeichen neben der Thür angebracht war. Sie klang ganz so tief und rein, wie in den besten Tagen, aber sie schien die Kraft verloren zu haben, einen gastfreundlichen Wiederhall drinnen im Hause zu erwecken. Auch auf das zweite Läuten blieb Alles still – „todtenstill?“ dachte der späte Gast, und die Hand am Glockenzug bebte ihm. Zum dritten Mal, jetzt mit solcher Gewalt, daß die ganze Straße weithin davon erschallte, ließ er die eherne Zunge die angstvolle Frage thun, ob denn kein Lebendiger mehr hinter diesen dunklen Fenstern athme. Der schrille Klang hatte noch nicht ausgeschwungen, da hörte er oben im zweiten Stock, nicht seines Elternhauses, sondern ihm gerade gegenüber, ein Fenster klappen und eine Stimme rufen: „Wer läutet da noch so spät? Wenn es der Todtengräber ist, da drüben ist Nichts zu holen. Er soll morgen wiederkommen und an dieses Haus klopfen. Habt Ihr wohl verstanden, Meister Schwarz?“

„Bist Du’s, Lorchen?“ rief der junge Mann. „Nun, Gott sei Dank, daß Du noch wach bist und mir sagen kannst –“

„Herrgott!“ unterbrach ihn die Stimme, „Sie sind es, Lorenz? Und was wollen Sie hier? Und warum kommen Sie nun gerade dazu, wenn wir Alle sterben müssen?“

„Komm herunter, Lorchen,“ bat er, „und öffne mir das Haus und sage mir –“

Sie ließ ihn nicht ausreden. „Was denken Sie nur, Lorenz?“ sagte sie. „Was haben Sie in diesem Todtenhaus zu schaffen? Machen Sie, daß Sie aus der Stadt kommen, eh’ es Sie auch befällt. Sterben ist kein Spaß, wenn man noch so jung ist. Die Tante ist gestorben und mein kleiner Christel und zuerst der bucklige Schneider, der parterre wohnte, und nun kommt die Reihe an mich, aber bei mir braucht kein Mensch zuzusehen; denn es sieht sehr garstig aus, und helfen kann einem doch Keiner. Machen Sie also, daß Sie fortkommen, hören Sie wohl, und leben Sie noch recht lange und glücklich, und es freut mich, daß ich Ihnen noch einmal Gute Nacht habe sagen können, lieber Lorenz, und wenn Sie die Sophie sehen –“

„Um des Himmels willen, Lorchen,“ unterbrach sie der junge Mann, „was ist aus meinen Eltern geworden? Warum wird mir hier die Thür nicht aufgemacht? Und wenn es das Aergste wäre, ich muß es wissen, oder die Angst bringt mich auf der Stelle um.“

„Sein Sie nur ruhig!“ erwiderte die Stimme. „Die Eltern sind seit drei Tagen fort, zu der Sophie, der Pfarrerin, die hat nicht nachgelassen mit Bitten, und wie der Vater immer noch nicht wollte, hat die Mutter gethan, als fange es auch bei ihr an, und da ist er endlich dazu gebracht worden. Mich haben sie auch mitnehmen wollen, aber ich konnte die Tante doch nicht verlassen, die ist erst gestern begraben worden. Es geht jetzt in Einem hin. Wissen Sie denn das Alles nicht, und Ihre Mutter hat es Ihnen doch in einem langen Brief geschrieben und Sie gebeten, ganz ruhig zu sein, es gehe ihnen Beiden wohl?“

„Nicht eine Zeile hab’ ich bekommen seit vorigem Samstag. Wer weiß, wo der Brief ein Ende genommen hat, da jetzt Alles drunter und drüber geht. Nun, Gott sei Dank, daß es nichts Schlimmeres ist. Du aber, Lorchen, was ist mit Dir? Also wirklich die Tante und Dein kleiner Bruder –? Was mußt Du ausgestanden haben!“

„Ja wohl,“ antwortete das Mädchen mit einer Gelassenheit, die ihm jetzt erst seltsam auffiel, „es war auch sehr schauderhaft, aber man wird es gewohnt. Daß ich jetzt an die Reihe komme, macht mir gar keinen Schrecken mehr. Ich bin ordentlich froh, bald an einen Ort zu kommen, wo ich schlafen kann und nicht mehr den Essig zu riechen brauche und immer das Weinen und Jammern hören muß. Und da Niemand übrig ist, der sich meinen Tod zu Herzen nehmen könnte, so ist ja auch nichts daran verloren, ob ich schon mit achtzehn Jahren aus der Welt gehe, oder erst mit achtzig. Sie noch einmal wiederzusehen, das hatt’ ich freilich gewünscht. Nun ist es zwar so dunkel, daß ich nur Ihren grauen Hut erkennen kann, aber ich höre doch Ihre Stimme. Wissen Sie noch, wie wir auf dem Polterabend der Sophie das Liedchen zusammen sangen? Das war noch eine gute Zeit. Jetzt singen wir nie wieder. Der liebe Gott wird wohl seine Gründe haben. Leben Sie also recht wohl, lieber Lorenz, und vergessen Sie nicht ganz –“

„Höre einmal auf mit all dem confusen Zeug, Lorchen!“ rief der junge Mann, halb unmuthig, halb mitleidig. „Statt mich hier stehn zu lassen und vom Sterben zu faseln, hättest Du mir längst das Haus aufmachen und mich als einen alten Jugendfreund willkommen heißen sollen. In meine eigene Thür kann ich nicht hinein. In der Post schlafen sie längst, und ich mag mich auch in kein Bette legen, worin vielleicht gestern erst ein Mensch gestorben ist. Wenn ich also nicht im Freien übernachten soll, wozu ich gar keine Lust habe, so mußt Du mir Herberg geben, Lorchen, und auch einen Bissen zu essen; denn die Unruhe und Ungewißheit, wie ich’s hier finden würde, hat mir unterwegs allen Hunger vertrieben. Mach auf, Kind, eh’ wir die Nachbarn aus ihren Betten schwatzen!“

Droben am Fenster schwieg es eine Weile. „Es geht nicht, Lorenz,“ sagte dann wieder die Stimme. „Ich bin ganz allein hier im Haus und da schickt es sich nicht, weißt Du, und auch davon abgesehen: wer weiß, ob ich nicht schon diese Nacht sterbe, und das möcht’ ich gern allein abmachen. Also gehen Sie mit Gott und suchen Sie sich ein anderes Nachtquartier, vielleicht beim Herrn Stadtpfarrer, wo im ganzen Haus noch Niemand gestorben ist.“

„Ich bestehe darauf, daß Du mir aufmachst,“ sagte er jetzt mit leiserer Stimme, aber sehr nachdrücklich. „Es wird hoffentlich mit dem Sterben bei Dir noch gute Wege haben, wenn Du Dich nicht selbst zu Tode ängstigst in der grauligen Einsamkeit. Ob sich’s schickt oder nicht, danach fragt in solcher Zeit der Noth, die viel zu ernsthaft ist für Zimperlichkeiten, kein Mensch, und es braucht auch kein Mensch darum zu wissen. Wenn Du nicht Lust zum Schlafen hast, ich bin gar nicht müde, da können wir bis an den frühen Morgen bei einander sitzen, und Du erzählst mir, was Du erlebt hast, und dann vor Thau und Tage geh’ ich wieder und hole Dich später in einem Wägelchen ab, daß Du nur aus der Moderluft herauskommst, und bringe Dich zu meinen Eltern. Das ist gescheidter und dem lieben Gott sicher weit wohlgefälliger, als wenn ich jetzt irgendwo eine Herberge suche und Dich mit allem Nachtspuk allein lasse.“

„Gut,“ sagte sie darauf. „Sie haben ganz Recht, Lorenz; es ist auch Alles gleichgültig, und man fragt den Menschen nichts nach, wenn man vielleicht morgen schon zu seinem himmlischen Vater kommt. Der alte Schneider sagte immer: Wer begraben ist, den sticht keine Nadel mehr. Warten Sie, ich will Ihnen aufschließen; aber erst muß ich Licht machen.“

Das Fenster oben wurde zugeklappt und Lorenz blieb einige Minuten unten auf der Gasse allein in der seltsamsten Stimmung. Das Haus hier kannte er so genau, wie sein eigenes Elternhaus; [787] das Mädchen, das noch allein darin übrig geblieben war, war ihm wie eine zweite Schwester gewesen. Nun hatte der Tod ihm Alles auf Einen Schlag entfremdet; das Haus kam ihm baufälliger und düsterer vor, die Stimme des Mädchens greisenhaft und fast wie die der Tante; es ward ihm fast wieder leid, daß er um Einlaß gebeten hatte. Indem er so stand und sich in seinen Kleidern schüttelte, um das Frösteln loszuwerden, wurde der Hausriegel zurückgeschoben und Lore, die Flamme der kleinen Lampe mit der Hand schützend, trat auf die Schwelle. Sie war in dem Jahr, seitdem er sie nicht gesehen, noch um einen halben Kopf gewachsen, aber auch die Züge des Gesichts hatten sich gestreckt, das Mädchen war schlanker, die Wangen schmächtiger geworden. Die Augen, die sonst so munter hin und her gegangen waren, standen jetzt still und groß unter den tiefschattenden Wimpern, und das blasse Mündchen war so fest geschlossen, als ob es am liebsten nie mehr ein Wort, geschweige ein Lächeln hervorgebracht hätte. Dazu war der Anzug des armen Kindes wunderlich genug, wie wenn sie eben im Dunkeln aus dem Bett gesprungen wäre und das nächste Beste angethan hätte. Ihr langes braunes Haar steckte nachlässig aufgeflochten unter einem Nachthäubchen, dessen Bänder unter dem Kinn nicht zugebunden waren. Sie trug ein rothwollenes Röckchen, das ihr zu kurz, und eine alte braune Jacke, die ihr zu weit war und dem Schnitte nach offenbar aus dem Kleiderschrank der Tante stammte. Die Füße steckten in alten Tanzschuhen, die zu den groben blauwollenen Strümpfen nicht zum Besten passen wollten. Was aber den halb lächerlichen, halb traurigen Eindruck noch phantastischer machte, war ein großer schwarzer Kater, der ihr auf der Schulter saß und seinen Kopf mit einem unsichern Zwinkern der goldgelben Augen dicht an ihren blassen Hals drückte. Sie schien aber selbst gar nicht zu bemerken, welchen Eindruck sie auf den jungen Mann machte, sondern nickte ihm, da sie ihm jetzt über die Schwelle leuchtete, mit einer so gelassenen Geberde zu, als verstände sich Alles von selbst. „Er ist es wirklich!“ sagte sie wie für sich. „Ich glaubte schon, es wäre nur so eine Einbildung gewesen. Guten Abend, Lorenz!“ Dabei gab sie ihm die Hand, die mager und kühl war, und ging, nachdem sie die Thür wieder verschlossen, langsam wie in tiefer Müdigkeit ihm voran die alte hölzerne Treppe hinauf.

Droben auf dem Flur des ersten Stockwerkes stand sie einen Augenblick still und sagte: „Wo wollen Sie nun hin, Lorenz?

In jedem Zimmer ist der Tod schon gewesen, und oben ist meine Sterbekammer, da dürfen Sie nicht hinein. Nun gleichviel, wir wollen in die Wohnstube gehen, da riecht es noch am besten, weil ich Wachholder habe verbrennen müssen; die Tante mochte ihn lieber als den Essig. Sehen Sie“ – und sie öffnete die Thür - „der Alkoven, in dem sie ihren letzten Athemzug gethan, ist schon wieder aufgeräumt. Die Leute sollen nicht sagen, wenn sie mich hinaustragen, daß ich liederlich gehaus’t hätte.“

„Lore,“ sagte er, indem er eintretend ihre Hand ergriff, „ich kann Dir nicht sagen, wie Du mich dauerst. Warum aber nennst Du mich immer Sie? Sind wir nicht von kleinauf gute Cameraden gewesen? Ich wenigstens brächte es nicht über die Lippen, anders als Du zu sagen.“

„Ich hatte mir’s so vorgenommen, seit –“ und sie stockte und eine leise Röthe flog über ihr stilles Gesicht. „Aber wie Du willst, Lorenz. Jetzt ist ja doch Alles einerlei. Setz’ Dich da auf das Sopha und laß mich Deinen Reisesack weglegen. Es ist richtig noch der alte, den die Sophie Dir gestickt hat, als Du nach Erlangen gingst, und diese Rose hier habe ich gestickt und hernach Deine Schwester gebeten, Dir nichts davon zu sagen. Wie so einfältige stumme Sachen auf der Welt bleiben und die Menschen müssen fort!“

„Je nun,“ lachte er, „wir zwei sind doch auch noch da, Lorchen, und ich sehe wahrhaftig nicht ein, warum Du es so eilig hast, dahin zu kommen, wo man Sonne, Mond und Sterne nicht mehr sieht. Fass’ Dir ein Herz, Kind, und führe nicht so verzweifelte Reden. Weißt Du, daß ich glaube, Dir fehlt es außer an frischer Luft vor Allem an Essen und Trinken? Ich kann mir wohl denken, daß Du über dem Jammer, den Du hier mit angesehen, und den Thränen, die Du hast verschlucken müssen, Alles vergessen hast, was zum Leben Noth thut. Nun aber mußt Du mir folgen, hörst Du wohl, und ein Nachtessen herbeischaffen; denn ich denke Dir mit gutem Beispiel voranzugehen und Dich wieder essen und trinken zu lehren.“

„Es ist wahr,“ sagte sie; „ich habe seit zehn Tagen nichts mehr gegessen als Mittags einen Löffel Suppe, den die Zenz mir aufnöthigte, unsere Magd. Die ist aber heute früh aus dem Haus gegangen und nicht wiedergekommen; Gott weiß wo sie ein Ende genommen hat, wahrscheinlich im Spital, um mir nicht auch noch unter den Händen wegzusterben. Sie war schon gestern nicht mehr ganz wohl; der Tod der Tante hat sie angegriffen. So hab’ ich eben den ganzen Tag droben gesessen, den Peter auf dein Schooß, um mir den Magen zu wärmen und doch auch etwas Lebendiges bei mir zu haben, und die Stunden sind so hingegangen, und ich habe immer auf den Tod gewartet.“

„Statt dessen ist nun einer gekommen, der Dir all diese Todesgrillen vertreiben will,“ sagte der Jüngling. „Ich hab’ hier im Nachtsack eine Flasche alten Portwein, den wollt’ ich dem Vater zu trinken geben, weil er besser als ein Katzenfell den Magen wärmt und sehr gegen die schwarzen Gedanken hilft, die so oft das Unglück erst herbeiziehen. Bring’ ein paar Gläser, Lore, und was Du etwa zu essen hast. Und dann setz’ Dich zu mir und schütte einmal Dein Herz gründlich aus, wie Du es einem alten Cameraden schuldig bist, mit dem Du doch schon manches Wörtchen gewechselt hast.“

Sie starrte, als dächte sie an ganz andere Dinge, in das Flämmchen der kleinen blechernen Lampe, seufzte einmal zitternd auf und ging dann langsam zur Thür hinaus, den Kater immer noch auf der Schulter.

Nun sah er sich in dem großen niedrigen Zimmer um, in dessen Winkel der Lampenschein nicht mehr hineinleuchtete. Da war noch Altes wie sonst, die Bilder von Lore’s Eltern über dem Sopha, der blasse, magere Apotheker, der so früh gestorben war, und seine schöne blauäugige Frau, der die Tochter wie aus dem Gesicht geschnitten war, nur daß sie jetzt die melancholische Farbe und den scharfen Zug vom Vater hatte. Und dort der Spiegel zwischen den Fenstern, das Nähtischchen der Tante, auf dem noch ihr Strickkorb stand und ein vertrockneter Basilicumtopf. Wer hatte Zeit und Gedanken gehabt in diesen Angstwochen, Blumen zu begießen? Auch die braune Wanduhr neben dem Alkoven war nicht mehr aufgezogen. Was liegt einem an einem paar Stunden, wenn die Ewigkeit heranzubrechen droht? Aber das alte Clavier war geöffnet und ein Liederheft noch aufgeschlagen, als wäre Jemand mitten im Spielen durch die Knochenhand, die sich auf die beinernen Tasten legte, unterbrochen worden. Es überlief den jungen Mann ein spukhafter Schauer, als er den Vorhang von großgeblümtem Cattun vor dem Alkoven betrachtete und daran dachte, welche Leiden und Schrecknisse er verhüllt haben mochte. Je mehr er diesen Gedanken nachhing, desto entsetzlicher schien es ihm, daß die Bekannten und Nachbarn das junge Kind in diesem öden Trauerhause allem gelassen hatten, wo selbst festere Nerven von den unheimlichen Einbildungen und Erinnerungen erschüttert werden mußten. Er kehrte die Augen gewaltsam gegen die braune Holzdecke, an der der helle Lichtring der Lampe spielte, und hörte den Todtenwurm droben picken und entsann sich lustiger Abende viele Jahre zurück, wo er an demselben Tisch mit der Tante und der kleinen Lore gesessen und ihnen vorgelesen hatte, und wie damals in den Pausen dasselbe Knistern in dem alten Holzgetäfel sich hatte hören lassen, ohne daß ihm oder den Andern der Ton unheimlich gewesen war. Es war ihm damals vorgekommen, als ob der Tod nur in den Büchern stände, die er mit Vorliebe las, Rittergeschichten und Seeabenteuer, und späterhin Trauerspiele und schöne Gedichte. Die Tante war manchmal darüber eingeschlafen, das Lorchen hatte aber immer größere Augen gemacht, je länger er las, und wenn es dann aus war und war recht herzbrechend gewesen, hatten sie doch schon fünf Minuten nachher wieder gelacht, wie die leichtherzigen Kinder, die sie beide noch waren, obwohl er in Secunda saß und sie als eine arme Waise wohl Ursach gehabt hätte, das Leben nicht leicht zu nehmen. Nun schlief die gute Tante den letzten Schlaf, und ihnen Beiden war das Lachen vergangen.

Er war froh, als er das Mädchen wieder eintreten ah. „Es ist nichts im Haus,“ sagte sie, „als ein paar Eier und trocknes Brod und sonst Vorräthe zum Kochen. Ich könnte Dir einen Pfannkuchen backen, aber ich getraue mich nicht in die Küche; da hat es die Tante angefallen, als sie eben dem Christel einen warmen Umschlag machen wollte, und die Zenz hat gesagt, hinter dem Heerd hätte sie das Choleramännlein sitzen sehn, mit [788] einem grauen Bart und einer Warze auf der Stirn. Es ist dummes Zeug, ich weiß es wohl, aber ich bin so schwach, Lorenz, vor meinen Augen tanzen gleich die schauerlichsten Fratzen, wenn ich in die Küche trete. Wart einmal, da im Schrank sind noch Zwieback, die kannst Du in den Wein tunken, die schaden Dir gewiß nicht.“

Sie öffnete einen, altertümlichen geschnitzten Schrank mit Messinggriffen, aus dem die Tante so manchen Pfefferkuchen oder Apfel hervorgeholt hatte, ihren jungen Vorleser zu belohnen. Einen Teller mit hartem Backwerk nahm sie heraus, dazu ein altes mit eingeschossenen Figuren verziertes Krystallglas, und stellte beides vor Lorenz auf den Tisch. „Komm, Lore,“ sagte er, indem er das Glas vollschenkte, „Du sollst es mir credenzen. Wir wollen auf einen frischen Lebensmuth mit einander trinken.“

„Trinke nur Du,“ sagte sie. „Ich brauche es nicht mehr. Im Gegentheil, was sollte ich damit anfangen? Es würde mir das Sterben nur schwerer machen, wenn ich das Leben kurz vorher noch einmal liebgewänne.“

„Du wirst trinken, Lore,“ sagte er ernst und hielt ihr das Glas an die Lippen, daß sie wollend oder nicht ein paar Tropfen kosten mußte. „Ich habe Dir schon erklärt, daß ich diese Reden nicht mehr hören will, daß ich es gottlos finde, sich muthwillig selbst den Tod heranzuängstigen, zu fasten und zu wachen, bis man sich endlich richtig selbst umgebracht hat. Du siehst freilich nicht so rosig aus, wie ich Dich zuletzt gesehn, aber ich denke, ein paar Wochen auf dem Lande in guter Luft werden wieder die alte Lore aus Dir machen, wenn auch nicht wieder die wilde, mit der ich Räuber und Wandersmann gespielt habe im Garten hinter unserer Gießerei.“

Sie war auf einen Stuhl geglitten, der neben dem Schränkchen halb im Schatten stand, und hielt die Katze wie einen Muff vor sich auf dein Schooß. Ein paar Augenblicke saß sie da, mit geschlossenen Wimpern, als hätten die wenigen Tropfen des starken Weins sie plötzlich eingeschläfert. Und erst während des Sprechens schlug sie mühsam die Augen wieder auf.

„So magst Du wohl reden, Lorenz,“ sagte sie, „weil Du nicht weißt, wie das Alles gekommen ist. Mit dem Schneider unten fing es an, den pflegte die Tante mit unserer Magd, und wollte nicht, daß ich helfen sollte, weil es mich zu sehr angreifen würde. Ich hatte noch nie einen Sterbenden gesehn, nicht einmal einen Todten. Denn wie damals die Nachricht kam, daß meine arme Mutter todtkrank sei, war ich noch zu jung, um gleich allein hinzureisen, und als die Tante sich endlich auf den Weg machte, die Alles so umständlich anfing, und wir hinkamen, um sie zu pflegen, da war sie schon begraben. Die gute Tante hatte gedacht, ihrer Schwester eine Last abzunehmen, indem sie mich zu sich nahm und der Mutter nur den Christel ließ. Nun hatte sie ihr auch den letzten Trost genommen, ihre beiden Kinder noch vor ihrem Ende segnen zu können. Aber so kam es, daß ich ein großes Mädchen geworden bin und nie eine Leiche gesehn habe, da mein Vater, wie Du weißt, auf einer Bergwanderung verunglückte und ich nicht einmal zu seinem Grabe durfte. Und überhaupt hatte ich ein Grauen vor dem Tode, und wenn ich von einem Trauerfall sprechen hörte, träumte ich die ganze Nacht, ich läge im Sarge und meine Freundinnen streuten Blumen auf mich, immer mehr und mehr, bis ich die Last wie einen Mühlstein auf der Brust fühlte und mit einem Schrei erwachte. Aber den Schneider wollte ich dennoch im Sarge sehen, ich schämte mich, daß ich ihm in der Krankheit gar nichts Gutes gethan hatte aus erbärmlicher Feigheit; das wollte ich seiner Leiche abbitten. Auch wurde es mir nicht schwer, ihn anzusehen. Er war nicht verändert, hatte so die bekümmerte verlegene Miene, wie schon bei Lebzeiten, daß er immer so aussah, als rechne er es sich zur Sünde an, nicht gerade gewachsen zu sein und wolle Jedermann deshalb um Verzeihung bitten. Wenn es mit dem Todtsein weiter nichts auf sich hat, dachte ich, warum fürchtet man sich so davor? Ach Gott, damals sprang mein kleiner Christel noch mit der Schulmappe pfeifend die Treppe hinunter und kam denselben Mittag nach Hause, es sei Vacanz, man wisse noch nicht wie lange, und war so vergnügt, daß ich ihn noch schalt, wie er lustig sein könne, wenn der gute Meister, der ihm seine hübschen Kleider gemacht, eben gestorben sei.

Es dauerte auch nicht lange, so war’s mit der Ferienherrlichkeit vorbei, er klagte über heftige Schmerzen, mußte sich legen, und nun begann der Jammer. Ich will nicht wieder daran denken, Lorenz, es macht mich sonst wahnsinnig. Du hast ihn nicht gekannt, weil er bis in sein zehntes Jahr bei einem Halbbruder meiner Mutter war, auf dem Lande. Aber die Tante bestand darauf, daß sie ihn auch übernehmen wollte, er sollte in eine bessere Schule gehen, und so kamen wir Geschwister wieder zusammen, es ist noch kein halbes Jahr. Er war ein so guter Junge, viel besser und sanfter als ich, und ich hatte ihn so lieb, als müßt’ ich Alles nachholen, was ich sieben Jahre lang an ihm versäumt hatte. Wie er nun in seinen Schmerzen lag und immer stöhnte und ich Tag und Nacht nicht von seinem Bette wich, faßte er mir einmal beide Hände so recht fest, hob den Kopf vom Kissen auf und sagte: ‚Nicht wahr, Lorchen, Du läßt mich nicht allein sterben? Es ist so dunkel vor meinen Augen, Du mußt mich an der Hand halten, sonst finde ich den Weg nicht in den Himmel!’ ,Sei nur ruhig, Christelchen,’ sagt’ ich, ,es wird Alles geschehn, wie Gott will? ‚Nein, sagte er, ,Du mußt Gott darum bitten und mußt ihm sagen, daß Du mich nicht verlassen willst. Versprich mir das, Lorchen, sonst kann ich nicht ruhig sterben?‘ ,Ich verspreche es Dir, Christelchen, sagt’ ich, und darauf wurde er ruhiger, aber wie sein Letztes kam, hielt er mir immer die Hände und rief mit schon ganz erloschener Stimme: ‚Komm mit, Lorchen, komm mit! Du hast mir’s versprochen und läßt mich nun doch allein!’ Und das waren ‚seine letzten Worte.“

[801] „Ich wäre den Ton“ fuhr Lore fort, „womit Christel seine letzten Worte sagte, und auch seinen letzten Blick wohl wieder losgeworden, wenn ich hätte weinen können. Aber es war wie ausgebrannt in mir, und auch wie dann die Tante an die Reihe kam, die doch gewiß wie die eigene Mutter an mir gethan hatte – ein Kieselstein giebt eher einen Tropfen von sich, als meine beiden Augen, Und bei der Tante kam noch das Grausen hinzu, das so die recht eigentliche Trauer gar nicht aufkommen ließ. Wie das aussah, Lorenz, als sie immer mit dem Kinne wackelte und dazwischen wieder lachte und mit den Fingern Clavier spielte auf ihrer Bettdecke – ich sage Dir, die Haare standen mir beständig zu Berg; ich fühlte gar nichts mehr, weder Wärme noch Kälte, so war ich wie in eine Gänsehaut eingewickelt und sah überall das furchtbare Gesicht, das erst nach dem letzten Athemzuge wieder friedlicher wurde. Und eben hatte ich ihr die Augen zugedrückt und lag halb besinnungslos, sterbensmüde, da ich nun schon neun Tage in kein Bett gekommen war, hier auf diesem Sopha, und der Vorhang da war zugezogen, weil die Zenz meinte, ich sollte nicht mehr hinsehn, sondern etwas zu schlafen versuchen, da klopft es und ein Soldat kommt herein, der Bursche von dem Auditor, meinem Bräutigam.“

„Deinem Bräutigam, Lore, Du bist Braut?“ rief Lorenz und sprang vom Sopha auf. „Und davon höre ich jetzt das erste Wort?“

„Ich habe nicht gedacht, daß es Dir im Geringsten wichtig wäre,“ fuhr sie mit derselben halblauten gleichgültigen Stimme fort. „Darum hab’ ich Dir nichts davon geschrieben, und kein Andrer in der Stadt konnte Dir’s mittheilen, weil es überhaupt noch geheim war und noch nicht einmal ganz richtig. Die Tante hatte es gewünscht, seine Mutter war eine gute Freundin von ihr. ,Ich liebe ihn nicht, Tante,’ sagte ich, ,und wenn ich ihn nehme, ist es nur, um Ihnen nicht länger zur Last zu fallen, da Sie nun auch für den Christel zu sorgen haben?’ Darauf redete sie lange in mich hinein, aus dem Grunde sollte ich beileibe nicht Ja sagen, sondern weil er ein so braver und gescheiter Mensch sei und so geachtet bei seinen Vorgesetzten und Cameraden und mich schon seit zwei Jahren liebe. Das mochte Alles richtig sein, aber dennoch gefiel er mir gar nicht. Er war kein übler Mensch, Viele hielten ihn sogar für hübsch, aber er hatte so große Füße und so runde hervorstehende blaue Augen, und sprach etwas durch die Nase, und sein Haar, das eigentlich roth war, färbte er sich pechschwarz; wie konnte ich mich wohl in ihn verlieben? Dazu hieß er Leopold, und der Name war mir unausstehlich, weil die Tante einmal einen Hund gehabt hatte, eine garstige Bulldogge, ebenfalls mit runden blauen Augen, die Poldl hieß. Und ich sagte es ihm auch, in der ersten Stunde, wo er allein mit mir sprach, er sei mir ganz gleichgültig und ich müsse es mir noch Jahr und Tag überlegen, und bis dahin sollte nicht davon gesprochen werden. Das fand er auch in der Ordnung und wollte schon zufrieden sein, wenn er nur dann und wann in’s Haus kommen dürfe. Auch war er so bescheiden, daß er sich nie mehr herausnahm, als mir die Hand zu drücken, wenn er kam und ging, und dabei blieb es drei Monate lang, und wenn nicht die Tante darauf bestanden hätte, daß ich den Ring annehmen sollte, den er mir schickte – getragen habe ich ihn freilich nie – und ihm einen dagegen schenken, so hätt’ ich nicht gewußt,, daß ich verlobt war. Abends, wenn er kam und erst eine Weile plauderte und dann ein Buch aus der Tasche zog, uns vorzulesen – nicht so schöne Geschichten, wie Du uns mitzubringen pflegtest – saß ich hier gewöhnlich im Winkel neben dem Schrank, den Peter auf dem Schooß, und dachte an alte Zeiten und schlief manchmal darüber ein. Dann bekam ich hernach eine Predigt von der guten Tante, aber ich konnte es nicht ändern. Ich dachte auch nicht im Ernst daran, daß ich seine Frau werden könnte, ich halte den sichern Glauben, ,es kommt noch etwas dazwischen und erlöst Dich von ihm? Und nun ist es wirklich eingetroffen, und im ersten Augenblick, wie der Bursche mir sagte: ,Der Herr Auditor läßt sich Ihnen empfehlen und er ist die Nacht um zwei Uhr gestorben,’ fuhr es mir in alle Glieder, als ob mir jemand in’s Gesicht sagte, ich sei schuld an seinem Tod, weil ich manchmal gewünscht hatte, er möchte nicht auf der Welt sein. Ich hörte auch kaum, was der Mensch noch weiter von seinem Ende erzählte, nur zuletzt sah ich aus meinen Gedanken auf, als er hinzusetzte: ,Da ist der Ring, Fräulein Lore, den Sie dem Herrn Auditor geschenkt haben.’ – ‚Geben Sie her,’ sagte ich hastig und steckte ihn in der Zerstreuung gleich an den Finger, ordentlich froh’, ihn wieder zu haben, und wie zum Zeichen, daß ich ihn so bald nicht wieder hergeben würde. ,Der Herr Auditor habe ihm auf die Seele gebunden,’ fuhr der Mann fort, ,ihn abzuziehen, sobald er gestorben sei, und noch einen Gruß zu überbringen und das Fräulein möchte ihn nicht ganz vergessen?’ – Da fuhr ich erschrocken in die Höhe. Ich hatte den Ring von einer Todtenhand angesteckt, und nun war ich mit dem Tode verlobt und mein Bräutigam mußte mich nachziehen.“

[802] Sie schwieg, als wenn das Grauen ihre Stimme erstickte, und saß mit geschlossenen Augen und einem so traurig hülflosen Ausdruck, daß er in tiefer Erschütterung vor ihr stehen blieb. „Lorchen,“ sagte er, und streichelte sanft mit der Hand ihre eiskalten Wangen, „Du redest ganz unsinnige Sachen, und kannst selbst nicht im Ernst daran glauben. Bist Du nicht schon als halbwüchsiges Ding eine so gescheite und aufgeklärte kleine Person gewesen, daß ich, obwohl ich sechs Jahre älter war, all’ meine Angelegenheiten mit Dir besprechen und berathen konnte? Haben wir nicht sogar mit einander Philosophie studirt, bis zur Hegel’schen Logik, die Dir freilich nicht schmecken wollte? Nun schwätzest Du da so abergläubischen Kram, wie ein Bauermädchen, das zur Kartenschlägerin geht und an Hexerei glaubt. Der arme Auditor ist todt, und das ist ein Glück für Dich und vielleicht auch für ihn, und damit gut. Wenn er’ Dich wirklich lieb gehabt hat, wird es ihm nicht einfallen, Dich weiter zu incommodiren, oder Dich gar um Dein junges Leben zu bringen. Das Alles ist nur Nervenspuk und wird morgen vorbei sein. Aber damit Du heute schon Ruhe bekommst, trink’ einmal einen herzhaften Zug aus diesem Glase; solch ein Schlaftrunk hilft gegen alle abergläubischen Träume. Und dann sagen wir uns gute Nacht und regen uns nicht weiter auf durch diese unglückseligen Sterbegeschichten.“

Er reichte ihr das Glas und sie trank jetzt wirklich, noch mit geschlossenen Augen, ein paar tiefe Züge. „Ich danke Dir, Lorenz,“ sagte sie darauf. „Der Wein hat mich sehr gelabt, wenigstens das Herz hat er mir noch einmal erwärmt, wenn auch Hände und Füße schon wie abgestorben sind. Aber das hilft nun nichts, der Tod kommt doch, und nicht blos, weil ich’s dem Christel versprochen habe und den Todtenring am Finger trage.

Ich fühle es zu deutlich: die Lebenskraft hier innen ist aufgezehrt, die Flamme hat alles Wachs schon weggeschmolzen und nagt nur noch am Docht; noch ein Bischen Geflacker und es ist ganz aus. Wenn Du früher gekommen wärst – aber nein, das hätte es auch nicht aufgehalten. Vielmehr fing es ja schon an, an mir zu zehren, als Du das letzte Mal da warst und Dich nicht mehr erinnertest, ob ich auf der Welt sei oder nicht.“

„Was sagst Du da?“ fragte er betroffen. „Als ich zu Weihnachten da war, hätte ich nicht mehr an Dich gedacht? Freilich konnten wir nicht wie sonst beisammen sein. Aber Du weißt ja, daß ich krank hier ankam und die Mutter während der ganzen Festzeit mich nicht aus dem Hause ließ.“

„Einen Schnupfen hattest Du, wie mir Eure Magd sagte, und es war nicht gefährlich, und wenn Dir daran gelegen gewesen wäre, mich zu sehen, hättest Du es wohl so einrichten können, ohne daß die Mutter hätte schelten dürfen. Ich wenigstens, wenn ich nach Jahr und Tag in die Stadt gekommen wäre, wo Du gewohnt hättest – durch Feuer und Wasser wäre ich gegangen, um Dir eine Hand zu geben und zu fragen: ,Wie geht’s? Und hast Du mich noch nicht vergessen?’ Das aber war’s gerade. Du hattest mich vergessen, oder wolltest es gern, und darum ließest Du mir nur, als Du fortreis’test, Morgens ganz früh ein Lebewohl hinübersagen, und es sei zu früh gewesen, um in Person Abschied zu nehmen. Siehst Du, seit jenem Morgen fing es an, seitdem ist mir nicht mehr wohl gewesen und Alles, was an mich kam, Verlobung und Christel’s Tod und der der Tante – das hat nur mitgeholfen an dem, was doch gekommen wäre; und wenn mir auch jetzt Einer eine Arznei brächte, die mich unfehlbar vom Tode retten könnte, ich tränke nicht davon, gewiß, Lorenz, ich machte mir nichts daraus; denn was hilft es, leben zu bleiben, wenn man nicht mehr gern lebt?“

Er stand vor ihr und konnte, während sie diese seltsame Beichte wie halb aus dem Traum oder einer magnetischen Macht gehorchend mit ganz unbeweglichen Zügen vor sich’ hin sprach, die Augen nicht von ihr abwenden. Eine unaussprechliche Rührung überkam ihn, als er dachte, wie lange schon hier in dem engen Hause das junge Leben dieses treuen Herzens nur ihm gehört hatte, während er draußen weit herumgeschweift war, Herz und Kopf voll von hundert neuen verlockenden und verwirrenden Eindrücken, zwischen denen nur selten einmal das Bild seiner Jugendgespielin auftauchte. Es war auch freilich noch halb kindisch und ohne den seltsamen Reiz, der die zarte blasse Gestalt jetzt umgab. Je länger er sie betrachtete, desto lebhafter und zärtlicher wurde das Verlangen in ihm, sie dieser unheimlich nachtwandlerischen Starrheit zu entreißen. Er mußte an sich halten, daß er sie nicht in die Arme schloß, um ihr mit Liebkosungen, wie einem frierenden, verschüchterten Kinde, wieder Lebenswärme einzuflößen.

„Liebste Lore,“ sagte er endlich und meinte etwas recht Tröstliches damit zu sagen, „ich habe es ja wahrhaftig nicht geahnt, daß Dir so viel daran gelegen war. Wenn Du mir nur einen Wink gegeben, einen Zettel hinübergeschickt hättest, daß Du mich gern sehen wolltest –“

„Ja wohl,“ unterbrach sie ihn und nickte still mit dem Kopf, und ihre Stimme klang nicht vorwurfsvoll, sondern wie man etwas Trauriges beklagt, was unabänderlich ist, „das war es ja eben, daß Du keine Ahnung davon hattest, wie es um mich stand, daß in all’ den Jahren, in denen wir Alles getheilt hatten, unsere Kinderspiele und dann so viel Ernsthaftes, Du mich nicht besser kennen gelernt hattest, als jeder Fremde auch. Wie mir das wehthat, Lorenz, das hätte kein Wort ausgesprochen, auch wenn ich meinen Stolz bezwungen hätte, es Dir zu sagen. Nicht daß ich Dir böse darum gewesen wäre. Ich hab’ mir nie viel eingebildet, und darum, weil der Auditor in mich verliebt war wie ein Narr, und auch Andere mir schöne Dinge sagten, glaube nur, darum schien ich mir immer noch nicht so reizend, daß Du Dich hättest bis über die Ohren in mich vergaffen müssen. Aber wenn Du auch draußen Hübschere und Liebere gefunden hattest: daß Du mich darum so wegwerfen konntest wie einen alten Ball, mit dem Du als Knabe gespielt hast und den Du beim Aufräumen in Deinem Kasten findest, das war mehr, als ich verdient hatte, das grub sich mir wie ein eiskaltes Messer in’s Herz und verleidete mir das Leben. Was hätte es da genützt, mich gegen Dich zu beklagen, auch wenn ich’s über die Lippen gebracht hätte? Wäre es darum anders mit Dir geworden? Jetzt, wo ich Alles heraussage, weil doch Alles einerlei und umsonst ist, thut es mir wenigstens wohl, es noch vom Herzen herunterzuwälzen, eh’ ich sterben muß. Du glaubst nicht, Lorenz, welche Last Du mir damit abnimmst, daß Du mich so ruhig und freundlich anhörst. Wie oft habe ich in Gedanken so mit Dir gesprochen und Dir hundertmal meine geheimsten Heimlichkeiten gestanden, und wenn ich dann plötzlich mir vorstellte, ich könnte Dir das einmal selbst sagen, so wie zwei Brautleute sich gestehen, wie lange sie sich geliebt haben, stand nur das Herz still vor Scham und Wonne. Jetzt kann ich Alles sagen, als wärest Du gar nicht da oder ich läge schon in meinem Sarge und schlüge nur die Augen noch einmal auf, da Du gerade dazukämst. Ob es sich schickt oder nicht, daran liegt mir nichts. Du wirst es Niemand wiedersagen, nicht wahr? Und wenn auch: braucht man sich zu schämen, wenn man Schmerzen ausgestanden hat? Schon wie ich Dich unten auf der Straße stehen sah, fuhr es mir durch den Kopf: Gottlob, daß er kommt; nun kannst Du es ihm ja noch mündlich sagen. Ich habe es Dir freilich auch schon geschrieben, gestern Nacht, als ich zum ersten Mal ganz allein im Hause saß und mir so graulig war. Den Brief findest Du dort im Secretär der Tante, und auch ein Blatt dabei, worauf ich geschrieben habe, daß ich Dir Alles vermache, was etwa mir gehört. Ich hoffe, das Gericht wird nichts einzuwenden haben, wenn es auch in der Form nicht ganz recht sein sollte. So, und nun habe ich Dir nichts mehr zu sagen, Lorenz, als eine gute Nacht. Ich bin müde – gieb mir noch einmal zu trinken, ich glaube, ich kann dann einschlafen, ganz schmerzlos, und brauche nie wieder aufzuwachen.“

Sie erhob sich mühsam und näherte sich mit schlaftrunkenen Schritten dem Tisch, an dem er lehnte, keines Wortes mächtig. „Willst Du mir nicht einschenken?“ sagte sie. „Ich fürchte, ich verschütte Etwas; ich kann kaum mehr aus den Augen sehen.“

Dann, als sie getrunken hatte: „Geh Du nun auch schlafen,“ sagte sie. „Ich kann Dir kein Bett anbieten, denn in jedem ist schon Einer gestorben. Aber da auf dem Sopha wirst Du ganz gut liegen und Du kannst Dich mit diesem Tuch zudecken, daß Du bei Nacht nicht frierst. Morgen früh, wenn ich nicht herunter komme, sieh einmal oben nach, es wird dann wohl vorbei sein und Du kannst mir die Augen zudrücken und sorgen, daß ich begraben werde. Nein, laß meine Hand los. Ich bin wirklich zu müde, um mich noch aufrecht zu halten, und wenn ich noch mehr schwatze, so fürchte ich, es wird Unsinn. Gute Nacht, Lorenz. Denk’ einmal an die Lore, wenn Du recht glücklich wirst, und ich danke Dir nochmals, daß Du gekommen bist. Es war doch schön [803] in unserer jungen Zeit, als wir miteinander spielten, und den Abend denk’ ich auch noch wie gestern, als Du die Räuber vorlasest und mir unterm Tisch die Hand drücktest, so oft Karl den Namen Amalia aussprach. Da an diesem Tische war’s, ich sehe noch Alles. Aber ich will gehen und Dich schlafen lassen.“

Sie wandte sich mit einem letzten müden Nicken des Kopfes von ihm ab, nahm den Kater fester in den Arm und ging nach der Thüre.

„Lore!“ rief er ihr nach. „Geh noch nicht! Das Herz ist mir so voll und Dir auch; wie sollen wir schlafen?“

„Es wird schon gehn,“ sagte sie halblaut, „ich bin sterbensmüde. Du sollst mir nicht leuchten, mir auch nicht nachkommen. Diese letzte Bitte darfst Du mir nicht abschlagen. Und jetzt zum letzten Mal, gute Nacht!“

Damit öffnete sie leise die Thür und verschwand draußen auf dein dunklen Flur.

Er blieb in einer Aufregung zurück, wie er sie nie erlebt hatte; so wunderlich war das Süße mit dem Unheimlichen, Grauen und Wonne, bleicher Tod und holdes junges Leben miteinander gemischt. Er hörte sie mit leisen, tastenden Schritten das Treppchen hinaufgehen in ihre Kammer und droben die Thür sachte zumachen. „Lore!“ rief er, als ob sie ihn noch hören könnte, „ist es wahr? So lange schon hast Du mich geliebt?“ – Dann sank er zurück und hundert halbkindische Scenen, bei denen er nie ein Arg gehabt hatte, standen ihm plötzlich vor der Seele und zeugten für die Wahrheit der seltsamen Beichte, die er eben vernommen hatte. Es wurde ihm heiß unter der Stirn, er öffnete ein Fenster und sah in die dunkle Straße hinaus. Der schwarzbehangene Wagen, den die wohlbekannte Gestalt des dicken Leichenkutschers mit dem umflorten Dreimaster im Schritt über das holprige Pflaster lenkte, hielt eben vor einem der Nachbarhäuser. Er hörte, daß Etwas aus dem Haus getragen wurde, und leises Weinen, und dann wieder das Rasseln der Räder, bis sie in die Seitengasse einbogen. So hielt der Tod dicht nebenan seine nächtliche Ernte, und mitten in diesem Leichenfeld war ihm die Blume aufgesprossen, die er nur in seinen Garten zu verpflanzen brauchte, um sie wieder zur Freude aller Menschen frisch aufblühen zu sehn.

Der Schlaf war ihm völlig vergangen; aber seine Glieder, die acht Stunden lang in der Postkutsche durchgerüttelt worden waren, sehnten sich nach einer bequemen Lage. Er schloß daher das Fenster, und nachdem er den Tisch mit der Lampe vom Sopha zurückgeschoben hatte, streckte er sich auf das alte geräumige Polsterbett, ein Kissen unterm Kopf, das große gelbe Umschlagetuch der Tante wie eine Decke über die Füße gebreitet, und begann bei dem schwachen Licht des Lämpchens hinter seinem Haupte allerlei wachen Träumen nachzuhangen, in denen der Todtenwurm im Deckengetäfel nicht störte.

Noch eine Viertelstunde mochte er so gelegen haben, da mußte er aufhorchen auf ein leises Knistern, das draußen die Treppe herunter zu kommen schien. So trefflich er vorhin gegen den Aberglauben gepredigt hatte, konnte er doch jetzt einen leichten Schauder nicht bemeistern, der nur unbehaglicher wurde, als er erkannte, daß es nicht etwa der Kater war, der draußen im Flur nachtwandelte, sondern behutsam schleichende Menschenfüße, die Stufe für Stufe sacht herabtasteten und endlich vor seiner Thür still hielten. Sollte es gar die Lore sein? Aber sie hatte ja so nachdrücklich zu wiederholten Malen von ihm Abschied genommen. Um so mehr erstaunte er, als endlich, nachdem man eine Weile draußen gehorcht zu haben schien, ob er schon schlafe, die Thür leise aufgeklinkt wurde und die Lore wirklich hereintrat.

Das Häubchen war ihr herabgeglitten und hing im Nacken an den lose zugeknüpften Bändern. Statt der unförmlichen, altmodigen Jacke hatte sie ein weißes Nachtjäckchen an, darunter den rothwollenen Rock; die Füße waren nackt. Aber trotz der Verwilderung ihres Anzugs und des lose um die Stirn hangenden Haares war in ihrer Haltung etwas unterwürfig Züchtiges und Scheues, und es schien Lorenz, als hätte er sie noch nie so reizend gesehn.

„Du schläfst noch nicht?“ sagte sie, in der halboffenen Thür stehn bleibend, durch die der Peter sich eben nachschlich. „Nimm mir’s nicht übel, daß ich Dich doch noch einmal störe. Ich kann’s nicht aushalten droben, es fror mich in meinem dunklen Bett, ich dachte dran, ob man auch im Grabe frieren konnte, meine Kräfte schwanden immer mehr, ich hörte ordentlich mit jedem Herzklopfen, wie ein Blutstropfen nach dem andern erstarrte; da kam mir’s plötzlich so furchtbar vor, sterben zu müssen und so allein, daß ich aufstand und mich noch einmal herunterschleppte; denn ich dachte, Du schliefest schon, und wollte mich in einen Winkel zusammenkauern, um doch Deine Athemzüge zu hören. Laß mich nur einen Augenblick mich bei Dir wärmen, dann will ich wieder gehen. Fühl’, wie eisig meine Hände sind, und erst meine Füße! Aber bleib ruhig liegen. Ich setze mich da unten in die Sophaecke und wickle mich einen Augenblick in das Tuch. Ach, Lorenz, muß ich denn wirklich sterben?“

Er hatte sich halb ausgerichtet und ihre kalte Hand ergriffen, um sie in der seinigen zu wärmen. „Lore,“ sagte er, „Du wirst noch lange leben und glücklich sein.“

„Nein!“ erwiderte sie und schüttelte müde den Kopf. „Ich verlang’ es auch nicht. Wie viele Andere gehn auch aus der Welt und sind nie so recht glücklich gewesen! War es denn die Tante? Und was hat mein armer Christel vom Glück gekannt, als einmal ein Stück Kuchen oder eine gute Censur! Und dann mußte er schon fort! Aber wenn man sich auch drein ergeben muß, traurig bleibt es immer, zumal wenn man schon weiß, was für ein Glück man sich vor Allem gewünscht hätte, und hat es so nah, und kann es mit Händen greifen und soll dann in das kalte Grab, ohne nur einmal recht gelebt zu haben!“

Sie schauderte in sich zusammen und zog die eiskalten Füße auf das Sopha hinauf unter das Röckchen. Dabei lehnte sie sich zurück, so daß ihre Schulter an seiner Brust ruhte, da er aufgestützt mit dem rechten Arm sie an sich drückte.

„Wärme Dich,“ sagte er. „Hast Du Schmerzen?“

„Nur hier,“ erwiderte sie leise und legte die Hand auf’s Herz.

Plötzlich traten ihr große Tropfen in die Augen und sie fing so bitterlich an zu weinen, als wären durch die Wärme seines Athems und unter dem Streicheln seiner Hand all’ die erstarrten Schmerzen aufgethaut, die ihr so lange das Herz bedrückt hatten. Immer heißer flössen ihre Thränen, immer heftiger zuckte sie schluchzend in seinem Arm.

„Liebste Lore! Meine süße kleine Geliebte!“ flüsterte er ihr in’s Ohr.

Da schüttelte sie, plötzlich sich fassend, den Kopf. „Es ist zu spät, Lorenz,“ sagte sie. „Aber es thut doch wohl, ach sowohl! Der Krampf hier am Herzen wird ganz still, wenn Du mir so holde Namen giebst. Weißt Du wohl,“ hauchte sie leiser und verbarg ihre nassen Augen au seiner Schulter, „weißt Du, was mich oben nicht hat schlafen lassen? Ich meinte, ich könnte nicht zur Ruhe kommen, wenn ich Dich nicht vor’m Sterben ein einziges Mal geküßt hatte. Ich müßte geradezu aus dem Grabe wieder aufstehen und es nachholen, wenn ich es versäumt hätte. Da wollte ich mich im Finstern hereinschleichen, Dich nur einmal auf den Mund küssen und gleich wieder gehen.“

Er hob in inniger Bewegung ihren Kopf in die Höhe, was sie willenlos geschehen ließ, und seine Lippen suchten ihren weichen Mund. Sie hatte die Augen fest zugedrückt und die Lippen geöffnet, wie Einer, der halb verschmachtet war und schon fast besinnungslos das Leben wieder einsaugt. Dabei athmete sie so tief, daß ihre Glieder bis in die Fußspitzen zitterten.

„Ich danke Dir,“ sagte sie kaum hörbar. Dann ließ sie die Arme von seinem Halse gleiten und sank neben ihm auf das Ruhebett, den Kopf weit zurückgelehnt auf das Kissen, den einen Arm herabhängend über das Polster, daß das schmale Händchen den Fußboden streifte. Er wagte nicht sich zu rühren, da er merkte, daß ihre Athemzüge immer ruhiger wurden. Nach wenigen Minuten war sie fest eingeschlafen.

Nun erhob er sich behutsam, stieg über sie hinweg vom Sopha hinunter und bemühte sich, sie bequem zu betten. Leise hob er den schlanken Leib ein wenig in die Höhe und streckte ihn gerade aus, ohne daß sie davon erwacht wäre. Dann wickelte er ihre Füße fest in das wollene Tuch und breitete zum Ueberfluß seinen eigenen Rock über die Schlafende aus. Ihm war so schwül und beklommen, daß es ihm eine Wohlthat war, in Hemdärmeln neben dem Sopha zu sitzen, zumal nachdem er das Fenster wieder geöffnet und die Nachtluft hereingelassen hatte.

Ein paar Stunden bewachte er so ihren Schlaf und hatte, nachdem die erste Aufregung verflackert war, die stillsten und lieblichsten [804] Gedanken. Daß sie ihm gehörte und er ihr, schien ihm so selbstverständlich und natürlich, als hätten sie sich’s schon hundertmal versichert, und nur das Eine wunderte ihn, wie er so lange hatte leben können, ohne selbst daran zu denken, daß es ja gar nicht anders sein könnte. Bei dem Gedanken an den Todten, der sich eingebildet hatte, das Mädchen die Seine nennen zu können, überkam ihn eine förmliche Eifersucht. Nicht ein Haar von ihrem Haupte durfte einem Anderen gehören, als ihm. Dann fuhr er sacht mit der Hand über ihre braunen Flechten und starrte ernsthaft in die Windung ihres kleinen blassen Ohrs, das die Werbung mitangehört, aber sich so standhaft dagegen verschlossen hatte. Es war ihm peinlich, daß er sie schlafen lassen mußte. Wie viel hatte er auf dem Herzen, ihr zu sagen, und wie gelegen war Ort und Stelle! Dann dankte er wieder Gott dafür, daß sie schlief und nach dem heftigen Ausbruch ihres Schmerzes nur heitere Bilder im Traum zu sehen schien. Denn manchmal öffneten sich ihre Lippen zu einem so friedlichen Lächeln, wie sie es seit Monaten nicht mehr gekannt hatten.

Darüber verging der größte Theil der Nacht-, die Lampe erlosch und endlich beschlich auch die Augen des Jünglings eine bleierne Müdigkeit. Er besann sich nicht lange, legte die Reisetasche als Kopfkissen auf den Fußboden neben das Sopha und streckte sich selbst der Länge nach auf den alten Teppich, daß Jeder, der die Lore etwa im Schlaf hätte stören wollen, über ihn wegschreiten mußte. So athmeten die beiden schlafenden Jugendgespielen nach so viel Schrecken und Herzweh ruhig und unschuldig nebeneinander, und der schwarze Peter, der sich seiner Herrin zu Füßen in die Sophaecke gelegt hatte, schnarchte friedlich als der Dritte in ihrem Bunde.

Auch erwachte Lorenz weder von den Sonnenstrahlen, die durch’s Fenster schossen, noch von dem jetzt freilich viel gedämpfteren Lärmen, mit dem sich am Morgen Handel und Wandel unten auf der Straße vorbeitrieb. Erst als ein kleiner, von zwei munteren Grauschimmeln gezogener Bauernwagen an Lore’s Hausthür anhielt und gleich darauf der Klopfer in drei kräftigen Schlägen erklang, rieb Lorenz sich den Schlaf aus den Augen und sprang von seinem harten Lager, einigermaßen gliederlahm, in die Höhe. Sein erster Blick fiel auf das Mädchen, das noch genau in derselben Stellung lag, wie er sie in der Nacht gebettet hatte. Er hörte aber an ihrem regelmäßigen Athmen, daß sie erquicklich schlief, und wollte eben überlegen, was nun weiter anzufangen wäre, als das Klopfen an der Hausthür sich lauter und dringlicher wiederholte. Eilig schlich er aus dem Zimmer und die Treppe hinab, um der Schläferin Ruhe zu verschaffen. Da sah er einen alten Mann in ländlicher Kleidung, Zügel und Peitsche in der Hand, vor der Thür stehen, und erkannte, da er vor Jahren einmal hier im Hause mit ihm zusammengetroffen war, den Halbbruder der Tante, den Pflegevater des kleinen Christian, der auch ihn zutraulich wieder begrüßte. An diesen wackeren Mann hatte der Pfarrer geschrieben, gleich nach dem Begräbnis der Tante: das Beste würde sein, wenn er sich aufmachte und das nun ganz verlassene Mädchen zu sich auf’s Land hinaus holte, ehe auch sie der Seuche zum Opfer fiele. Der Brief war gestern Abend in das etwa sechs Stunden entfernte Dorf gelangt, und schon um Mitternacht hatte der Biedermann, dem das Schicksal seiner verwaisten Nichte keine Ruhe ließ, die Pferde vor seinen Wagen geschirrt, um gleich mit dem Mädchen auch ihre Siebensachen und den nöthigsten Hausrath auf’s Land zu schaffen, da er selbst ledig und sein bescheidenes Häuschen für die Aufnahme einer jungen Städterin nicht zum Besten eingerichtet war.

Lorenz verständigte ihn, gleich unten auf der Gasse, von Allem, wie er es im Hause gefunden hatte, natürlich ohne das zu berühren, was ihn allein anging. Er habe Sorge getragen, daß die Lore, die von den furchtbaren Erschütterungen zum Schatten abgezehrt, schlaflos und ohne Nahrung schon zehn Tage lang herumgegangen sei, sich sofort habe niederlegen und von seinem stärkenden Wein trinken müssen. Nun liege sie im festesten Schlaf, und da es schwerlich eine bessere Arznei gebe, ihre verstörten und überreizten Sinne wieder in’s Gleichgewicht zu bringen, dürfe sie um keinen Preis geweckt werden. Andererseits liege auch ihm viel daran, sie so schnell als möglich in andere Luft zu bringen, wenn auch nicht, wie der Herr Pfarrer und der Onkel meinten, zu diesem auf’s Land, sondern vielmehr zu seinen eigenen Eltern in’s Haus seiner Schwester, das nur ein paar Stunden entlegener, dafür aber auch schon an den Vorhöhen des Gebirges in der gesundesten Gegend liege. Darum schlage er vor, einstweilen ihre Kleider und Wäsche zu packen und auf das Wägelchen zu laden. Wache sie inzwischen auf, so könne sie mit ihnen einsteigen. Schlafe sie aber fort, so wollten sie ihr hinten in dem geräumigen, mit einem Leintuch luftig überspannten Theil des Wagens ein bequemes Lager aus ihren eigenen Betten machen, sie sacht hinunterschaffen und dann in Gottes Namen mit der Schlafenden die Reise nach dem Gebirge antreten. [817] Dieser Plan schien dem guten Manne, der in der frischen Trauer um seine Halbschwester und mehr noch um den Knaben nicht sehr fähig war, selbst zu überlegen, das Rathsamste, was unter so wunderlichen Umständen zu thun sei, und ohne viel Worte zu machen, da ihm der Eintritt in das ausgestorbene Haus die Brust beklemmte, folgte er Lorenz die Treppe hinauf in das Wohnzimmer, wo der Anblick des blassen schlummernden Mädchens und des leeren Alkovens ihm einen Strom von Thränen entpreßte.

Indessen stieg Lorenz, der je eher je lieber diesem Hause und der ganzen Stadt Valet zu sagen wünschte, in das obere Geschoß und trat in Lore’s Zimmerchen, das ihm noch von ihrer Kinderzeit her bekannt war. Während er die Betten, aus denen sie nachgerade herausgewachsen war, zusammenpackte, um sie auf den Wagen zu schaffen, sah er sich in dem sauberen Stübchen mit wehmüthig heiteren Augen um. Es war nicht viel verändert, seit sie Beide in allerlei phantastischen Kinderpossen hier so manche Stunde verbracht hatten. Wie er das Schränkchen öffnete, um das Nöthigste an Kleidern miteinzupacken, glaubte er noch die Farben eines Tüchleins zu erkennen, das sie ihm selbst einmal um den Kopf gebunden, als er einen verwundeten Räuber zu spielen hatte. Und dort hing der alte weiße Schleier, freilich mit den Jahren ergraut, der immer als Brautschleier gebraucht wurde, wenn das Spiel zu Ende war und die geraubte Prinzessin mit dem Räuberhauptmann Hochzeit machte. Auch den nahm er zum Andenken mit. Dann fiel ihm ein Kästchen von eingelegtem Holz in die Augen, das zu unterst im Schranke stand. Der Schlüssel steckte daran, und da es Dinge enthalten konnte, die sie ungern vermißt hätte, erlaubte er sich, es zu öffnen. Es enthielt nichts als allerlei werthlosen Tand, wie kleine Mädchen ihn aufspeichern, ein Halskettchen von Glasperlen, einen alten Taschenkalender, leere Papiere mit Bildern und Sprüchen, in denen einmal Bonbons eingewickelt waren, ein zerbrochenes Messerchen und Aehnliches. Aber wie er es musterte, besann er sich, daß das Messer einmal ihm selbst gehört, daß er die Halskette vor acht Jahren auf einem Markt gekauft und der kleinen Lore geschenkt hatte, und in dem kleinen Kalender stand sein Name mit seiner eigenen Secundanerhandschrift eingezeichnet. Zuunterst endlich lag ein abgegriffenes Buch, das er auch sogleich wiedererkannte. Es war sein altes Exemplar von Schiller’s Räubern, und wie er es jetzt herausnahm und darin blätterte, fielen ihm ein halb Dutzend Briefe in die Hand, die einzigen, die er ihr während der Studentenzeit geschrieben hatte. Jeder steckte noch in seinem Couvert, und sie hatte mit Bleistift den Tag und die Stunde darauf bemerkt, wo sie ihn erhalten hatte. Wie er dies rührende Schatzkästlein einer heimlichen Liebe in der Hand hielt, mußte er einen Augenblick daran denken, was er empfinden würde, wenn das Alles einer Todten gehörte, und er wäre nur dazugekommen, um von dem Vermächtnis; eines getreuen Herzens, zu spät, Besitz zu ergreifen. Dann aber durchdrang ihn gleich wieder mit hohem Jubel das Gefühl, daß er gerade noch zur rechten Zeit gekommen sei und nur warten müsse, bis sie die Augen wieder aufschlage, um das liebe Herz, das sich ihm so früh schon auf ewig ergeben, in beide Hände zu nehmen und nie wieder loszulassen. Also schloß er das Kästchen sorgfältig zu, stellte es wieder in den Schrank und nahm den Schlüssel mit.

Als er endlich mit all seinem bunten Gepäck auf die Straße hinunterkam, fand er hülfreiche Hände genug, Alles geschwind auf dem Wagen unterzubringen, und konnte dazwischen von allen Seiten hören, wie sehr man den Muth und die aufopfernde Sorge des Mädchens für ihre Kranken zu loben wußte, und wie man es ihr gönnte, jetzt aller Noth und Gefahr entrückt zu werden. Ein Nachbar, ein zuverlässiger Mann und Mitglied des Magistrats, dem Lorenz auch die Aufsicht über das leere Haus anvertrauen konnte, half ihm in dem Hinteren Theil des Wagens ein welches Lager herstellen und erzählte dabei mit Thränen, wie viel seine jetzt auch gestorbene Frau auf die Lore gehalten hätte. Er ging selbst mit hinauf, die Schlafende sorgsam, so daß sie nicht aufwachte, die Treppe hinunterzutragen. Als man sie dann sanft auf den Wagen gehoben und in die Kissen gebettet hatte, daß auch ein stärkeres Rütteln ihr nicht wehthun konnte, wurde das Leintuch wieder über die runden Stäbe gespannt, so daß sie gegen Sonne und Staub so wohl geschützt lag wie unter einem Himmelbette. Der Kater war ihr nachgelaufen bis an die Schwelle der Hausthür; dort schien er mit sich zu Rathe zu gehen, ob er bleiben oder mitauswandern solle. Aber nach der gemüthlosen Art seines Geschlechts entschloß er sich, uneingedenk, wie wohl ihm auf Lorens Schooß gewesen war, lieber das Haus zu hüten, und sah dem langsam fortziehenden Wagen mit größtem Gleichmuthe nach.

Erst als sie aus dem Thore waren und der Wagen nun auf der ebenen Landstraße rasch dahinrollte, wandte sich Lorenz, der vorn neben dem kutschirenden Onkel saß, nach der Schläferin um und athmete wie von einem Alpdruck befreit auf, als er zu bemerken glaubte, daß schon jetzt ihre Wangen sich zu röthen anfingen und der ängstliche Zug zwischen den Brauen verschwand. Und wie lieblich lag sie da, ganz umschimmert von dem goldenen [818] Helldunkel, das unter dem warmbesonnten Linnendach webte! Er mußte sich Gewalt anthun, um die Augen wieder abzuwenden, und wenn ihnen Wanderer oder Landleute begegneten und neugierig in den verdeckten Wagen hineinschielten, hätte er ihnen am liebsten zugerufen: „Es ist schon der Mühe werth, zu sehen, was wir da mit uns führen: einen Schatz, ein Goldherz, ein Kleinod von einem Mädchen, dessen ganzer Werth erst im Feuer der schwersten Prüfung an den Tag gekommen ist!“ –

Mit dem Onkel wechselte er nur selten ein Wort. Der alte Mann, ganz in seinen frischen Kummer vertieft, sah stumm vor sich nieder und schien von der Stimmung, in der sein junger Gefährte das schlafende Mädchen betrachtete, keine Ahnung zu haben.

So verging Stunde um Stunde, ohne daß die Lore ein einziges Mal die Augen aufgeschlagen oder auch nur aus dem Traume gesprochen hätte. Es wurde ihrem Freunde fast ängstlich, und da sie Mittags ein paar Stunden rasteten, weil die Pferde Ruhe brauchten und sie selbst hungrig geworden waren, trat er an den Wagen heran, lüftete das Dach ein wenig und rief leise ihren Namen. Ob sie nicht etwas essen wolle, fragte er, und fuhr ihr sogar mit der Hand über die Stirn. Sie schlief bei alledem ruhig fort, und ihre frische Farbe und die gleichmäßigen Athemzüge zeugten dafür, daß ihr nichts Anderes noth that, als eben Schlaf. Der Onkel wußte allerlei Fälle zu erzählen, wo Menschen nach schweren Erschütterungen durch Krankheit oder übermäßige Anstrengung drei Tage und Nächte und noch darüber in Einem Strich geschlafen hätten und hernach frisch und gesund aufgewacht seien. So mußte Lorenz sich in Geduld fassen, was ihm schwerer ward, als er sich eingestand. Denn was ihn aufregte, war durchaus nicht die Sorge, sie möchte überhaupt nicht wieder aufwachen, sondern die Sehnsucht, zu erfahren, ob sie am hellen Tage noch wissen würde, was sie ihm in der Nacht gebeichtet hatte.

Der Tag neigte sich schon und unter dem Wagendach war tiefe Dämmerung, als sie das Dorf erreichten, an dessen Pfarrer Sophie, des Lorenz Schwester, verheirathet war. Eben da der Wagen in den Hof rollte, trat die Pfarrerin aus dem Hause und erstaunte nicht wenig, ihren Bruder so völlig unverhofft wiederzusehen, noch mehr aber, als er schon vom Sitz herab ihr ein Zeichen machte, jeden lauten Ausruf schwesterlicher Freude zu unterdrücken, da Jemand im Wagen schlafend liege. Die Mutter kam indeß dazu, empfing den langentbehrten Sohn mit tausend Freuden und lauschte dann gleich der Tochter mit tiefstem Antheil der halblauten Erzählung, wie Alles gekommen und wen er da im Wagen mitgebracht habe. Nachdem aber der erste Schrecken über alles Traurige, was Lorenz berichtete, überwunden war, behielt bei der Schwester die muntere, lebensfrische Natur die Oberhand. Sie öffnete selbst das Leintuch über dem Wagen und konnte die schlafende Lore, die so rosig wie ein Kind in ihren Kissen lag, nicht genug betrachten. „Wer hätte gedacht,“ sagte sie leise zu dem Bruder, „daß die wilde Hummel einmal so zahm und der unscheinbare magere Zaunstecken ein so allerliebster Rosenstock werden würde! Liegt sie nicht da wie zum Anbeißen und verzieht nur manchmal ordentlich vornehm das Mündchen, wenn eine Fliege sich darauf setzen will? Und jetzt seufzt sie tief aus der Brust, als träume sie von dem Schrecklichen, das sie überstanden hat! So Gott will, ist es nun vorbei, armes Herz, und Du sollst hier gute Tage haben, Wir wollen sie unten in die große Bügelstube legen, meinst Du nicht auch, Mutter? Da sieht sie, wenn sie aufwacht, gleich in den Garten und meint am Ende, sie sei schon im Paradiese. Und ich schlafe die Nacht bei ihr, daß ich gleich bei der Hand bin, wenn sie etwa im Finstern die Augen aufmacht und sich nicht zurechtfindet. Der Lorenz aber soll gelobt werden, daß er so vernünftig gewesen ist, das Kind gleich aufzupacken und zu uns zu bringen. Und was unsere Männer für Augen machen werden, wenn sie vom Spaziergang heimkommen und finden hier das schlafende Dornröschen! Ich stehe nicht dafür, Mutter, daß der Vater sich nicht auf seine alten Tage noch einmal verliebt. Er hatte schon immer über die Straße hinüber ein Auge aus das liebe Gesicht, und hier auf dem Lande, wo er nichts zu basteln hat, kann er leicht aus Müßiggang auf böse Gedanken kommen. Dann muß der Lorenz sehen, wie er die Unheilstiftern wieder aus dem Hause bringt.“

Sie warf dabei ihrem Bruder, der sich erröthend abwandte, einen schalkhaften Blick zu und machte sich eilig daran, das Gartenzimmer einzurichten, Betten aufzuschlagen und den Kindern Schweigen zu gebieten, die lärmend zwischen den Gemüsebeeten spielten. Erst als das Alles beschickt war, rief sie Lorenz und den Oheim zu Hülfe, und eben so behutsam, wie sie das Mädchen hinaufgebettet hatten, wurde sie jetzt vom Wagen gehoben und in’s Haus getragen. Als sie in dem neuen Bette lag, schien es einen Augenblick, als wolle sie wach werden. Sie verlangte zu trinken, öffnete aber, während die Pfarrerin ihr Wasser reichte, die Augen nicht, und gleich darauf sank das Haupt wieder in die Kissen und sie schlief von Neuem.

So fanden sie die heimkehrenden Männer und die Weissagung der Pfarrerin schien einzutreffen. Wenigstens war der alte Meister erst, nachdem er eine halbe Stunde lang so scharf, als ob er es zeichnen wollte, das schlafende Kind betrachtet hatte, aus dem Zimmer wieder herauszubringen, und auch der Pfarrer, ein schlichter, fast schüchterner Mann von wenig Worten, wurde ganz beredt, als Abends am runden Tisch, an dem auch der Onkel Platz gefunden, die Rede natürlich gleich wieder auf die Lore kam. „Mutter,“ sagte Sophie mit drolligem Eifer, „die Hexe muß wieder fort, je eher je lieber. Wir waren bisher doch auch nicht so übel, wenigstens betheuerten es in schwachen Stunden unsere eigenen Männer. Jetzt ist gar nicht mehr die Rede von uns. Ich hoffe nur, sie hat es nicht allein auf die Ehemänner abgesehen, sondern behext auch nächstens einmal einen Junggesellen, daß der sie uns dann vom Halse schafft.“

Der, auf den dieser Pfeil gezielt war, ließ nicht merken, daß er sich getroffen fühlte. Er war heiterer als gewöhnlich, hatte viel zu erzählen, Schulgeschichten und Streiche aus seiner Knabenzeit, bei denen Lore stets eine Rolle spielte, und ging endlich in so fröhlicher Müdigkeit zu Bette, wie ein Mensch, der mit schwerem Kopf und leichtem Herzen von einem lustigen Gelage kommt. Als er am andern Tag, später als gewöhnlich, erwachte, war sein erster Gedanke, wie die Nacht wohl vergangen sein möchte und ob Lore endlich die Augen aufgeschlagen hätte. Er fand die Eltern, den Schwager und den Onkel unten in dem Familienzimmer versammelt, noch ungewiß, wie es stehe. Man hatte am Morgen durch die Thür Sophie mit ihrer Schlafcameradin sprechen hören und erwartete nun jeden Augenblick Beide zum Frühstück eintreten zu sehen. Statt dessen aber kam, nachdem noch eine ziemliche Zeit verstrichen war, die Pfarrerin allein, nicht mit so heiterem Gesicht, wie sie gestern gute Nacht gewünscht hatte, sondern betroffen und nachdenklich. Gegen Morgen, erzählte sie, sei Lore, da die Hähne draußen überlaut krähten, mit einem tiefen Seufzer’aufgewacht und habe sich im Bette aufgerichtet. Sie selbst sei gleich bei der Hand gewesen, habe ihr guten Morgen gewünscht, und da sie erstaunt gefragt, wie sie hieher komme und warum sie nicht mehr bei der Tante sei, nach und nach unter tausend Trostworten und Liebkosungen ihr den Zusammenhang aufzuklären versucht. Ob sie ihn ganz begriffen, wisse sie nicht; denn ohne irgend darauf einzugehen und über das Geschehene ein Wort zu verlieren, sei das arme Kind plötzlich in die heftigsten Thränen ausgebrochen und habe, in ihr Kissen gedrückt, ein paar Stunden unaufhörlich fortgeweint. Das sei nun gewiß gut und heilsam gewesen und sie habe sich auch wohl gehütet, diese erleichternden Thränen durch Zureden und Beschwichtigen hemmen zu wollen. Auch seien sie endlich von selbst versiecht. Aber statt daß nun, wie sie gehofft, das Gefühl der Rettung und der Wohlthat, in reinerer Luft bei befreundeten Menschen geborgen zu sein, sie milde und zugänglich gemacht hätte, habe sich eine Starrheit und Stummheit ihrer bemächtigt, an der die liebevollsten Bemühungen erfolglos abglitten. Sie sei zwar aufgestanden und habe erklärt, daß sie sich ganz gesund fühle, bis auf eine Schwere in den Gliedern. Auch habe sie Lust bezeigt, etwas zu genießen. Aber zum Frühstück herüberzukommen sei sie nicht zu bewegen gewesen und habe auch auf’s Aengstlichste gebeten, daß Niemand, nicht einmal die Mutter, sie aufsuchen möchte, da sie sich unfähig fühle, mit irgend einem Menschen ein Wort zu sprechen.

Der alte Meister, der immer gleich damit bei der Hand war, auf Weiberlaunen zu schelten, und sich überdies sehr viel Macht über kranke Gemüther zutraute, wollte sofort zu dem wunderlichen Mädchen hinüber und vermaß sich, sie in Kurzem zur Raison zu bringen. Dem widersetzte sich die Tochter auf’s Bestimmteste. „Wenn ich,“ sagte sie, „ihr jetziges Betragen mit dem früheren Zustand zusammenhalte, in dem Lorenz sie gefunden, so kommt mir fast die Sorge, daß die Verstörung dieser entsetzlichen Tage [819] einen schwereren Eindruck in ihrem Gemüth hinterlassen habe, als wir dachten, und daß es viel Pflege und Mühe bedürfen wird, bis der finstere Geist wieder von ihr weicht. Sie redet kein einziges verworrenes Wort, aber ihre Blicke hängen beständig am Boden, als fürchte sie, wenn sie aufschaute, den Tod leibhaftig vor sich stehen zu sehen oder irgend ein Gespenst, das sie sich nachlocke. Ich habe sie nicht bewegen können, einmal durch’s Fenster auf die Blumenbeete hinaus zu sehen, und von ihrem Stuhl neben dem Bett ist sie nicht wegzubringen. Als ich ihr sagte, daß der Onkel schon heut am Morgen wieder fort müsse und ob sie ihm nicht wenigstens guten Tag sagen und für seine Hülfe danken wolle, hat sie nur den Kopf geschüttelt und gesagt: ,Ich kann nicht! Gewiß, Sophie, ich kann nicht. Sage Du ihm, daß ich Ihm danken lasse, aber ich kann keinen Menschen sehen.’ Und so habe ich sie endlich allein gelassen, um ihr Frühstück zu holen. Vielleicht wird ihre Stimmung ruhiger werden, wenn ihre leiblichen Kräfte erst wieder sich gehoben haben.“

Lorenz hatte das Alles, ohne ein Wort zu sagen, in tiefer Betrübniß mitangehört und sich das Seine dabei gedacht. Es war ihm ganz klar, daß vor Allem die Scheu, nach den Vorgängen der letzten Nacht ihm wieder in’s Gesicht zu sehn, das arme Kind so menschenfeindlich machte. Was sie ihm gebeichtet hatte, in der Meinung, es sei wie ein Testament und sie nehme damit Abschied von ihm für dieses Leben, müßte ihr jetzt, da sie weiter leben sollte, als eine Entweihung ihrer heiligsten Geheimnisse, als ein unheilbarer Bruch aller jungfräulichen Sitte erscheinen, zumal da sie nicht wußte noch ahnte, wie es jetzt um sein Herz stand, vielmehr der Meinung war, es habe sich schon lange ganz von der Jugendgespielin abgewendet. Darum schien ihm nichts nöthiger, als ihr diesen Wahn zu benehmen und sie zu überzeugen, daß ihre rührende Hingebung, weit entfernt ihm unweiblich zu erscheinen, ihn vielmehr wie ein unverhofftes Geschenk überschwänglich beglückt habe. Als daher der Tag ohne neuen Zwischenfall vergangen war und die Schwester berichtet hatte, die Stille und liebevolle Pflege fange sichtbar an, wohlthätig auf ihre Stimmung einzuwirken, faßte er einen raschen Entschluß und trat, ohne Jemand davon zu sagen, in Lore’s Zimmer. Sie saß am Fenster, beschäftigt, aus dem schwarzen Stoff, den die Pfarrerin ihr hatte kaufen müssen, ein Trauerkleid für sich zu nähen.

Als sie die Thüre gehen hörte, wandte sie den Kopf ein wenig, in der Meinung, die Sophie eintreten zu sehen. Kaum aber erkannte sie den noch auf der Schwelle Zaudernden, als sie die Arbeit von ihrem Schooß gleiten ließ und mit einer Geberde des tödlichsten Entsetzens in die hinterste Ecke des Zimmers stürzte. „Bitte! bitte!“ war Alles, was sie, das Gesicht in die Hand gedrückt, mit der andern Hand ihm flehentlich abwinkend, hervorbringen konnte.

„Lore,“ rief er, „soll denn das Leben wieder scheiden, was der Tod zusammengefügt hat? Bin ich Dir plötzlich so sehr verhaßt geworden, daß Du mich nicht einmal ansehn magst? Was habe ich nur gethan, daß nun Alles vergessen sein soll, was uns zu einander geführt hat? Sieh mich nur ein einziges Mal an, damit Du erkennst, daß ich der Alte geblieben bin, nein, nicht mehr der Alte, der Dich nicht begriff und Deinen ganzen Werth nicht verstand, sondern ein unglücklicher Mensch, wenn Du Dich von mir abwendest und Alles wieder verleugnest, was mir in jenen dunklen Stunden einen ganzen Himmel aufgeschlossen hat.“

Er schwieg und hoffte, daß sie ruhiger werden und sich endlich zu ihm wenden würde. Aber als hätte sie keins seiner Worte verstanden, wiederholte sie nur immer ihre beschwörende Geberde und ihr ängstliches „bitte, bitte!“ und so verließ er sie zuletzt in rathloser Betrübniß, aus Furcht, ihren Zustand nur zu verschlimmern, indem er ihn zu heilen versuchte.

Auch jetzt konnte er sich noch nicht entschließen, irgend Jemand von den Seinigen ins Vertrauen zu ziehn. Er glaubte es Lore schuldig zu sein, das, was sie jetzt sogar ihm bekannt zu haben bereute, keinen Dritten erfahren zu lassen. Als aber der Rest der Woche so hinging, ohne daß man einen Schritt weiter kam, und Lore, so sehr sie im Uebrigen aufzuleben schien, an ihrer Menschenscheu eigensinnig festhielt, fühlte er, daß zu viel auf dem Spiele stand, um nicht etwas Entscheidendes zu wagen. Am Samstag Abend also, als die Kinder zu Bett geschickt waren und die Familie in ziemlich gedrückter Stimmung beisammen saß, rathschlagend, ob man einen Arzt zu Hülfe rufen oder noch eine Woche sich in Geduld fassen solle, erklärte Lorenz plötzlich, er habe sich entschlossen, morgen abzureisen, da er gewiß wisse, nur seine Gegenwart sei die Ursache, daß die Lore sich so beharrlich von allen Menschen abschließe. Er erzählte nun mit den kleinsten Umständen Alles, was in jener Nacht geschehen und gesprochen worden war, und wie er bestimmt glaube, sie stelle sich ihren nächtlichen Besuch als etwas weit Schlimmeres vor, das sie selbst sich nie verzeihen könne und das auch ihm einen tiefen Schatten über ihr Bild werfen müsse. Darum wolle er für’s Erste ganz aus dem Wege gehn und es der Zeit und der klugen Freundschaft der Frauen überlassen, nach und nach ihr eine mildere Ansicht der Sache beizubringen.

Als er geendet hatte und die Anderen, über diese unerwartete Aufklärung betroffen, stumm blieben, wandte sich die Schwester zu ihm und fragte halblaut, ob er denn wirklich seiner Neigung für die Lore gewiß oder nur durch Mitleid und eine Art ritterlichen Pflichtgefühls für sie erwärmt sei?

„Nein, wahrhaftig,“ erwiderte Loren; mit lauter Stimme und sah dabei den Vater an, „ich fühle, daß ich nur sie und keine Andere je zum Weibe haben kann, und Gott weiß, was ich darum gäbe, es ihr je eher je lieber sagen und die Eltern um ihren Segen bitten zu können.“

„Den hast Du,“ sagte der alte Meister und stand in großer Bewegung auf, den Sohn zu umarmen, und als er ihn los ließ, stand die Mutter neben ihm, ihren Liebling gleichfalls an’s Herz zu drücken, worauf er, keines Wortes mächtig, in die Arme der Schwester und des Schwagers sank.

Als aber die erste Rührung, die Alle stumm machte, sich wieder gemäßigt hatte und Lorenz, wie man denken kann, von der Schwester gescholten worden war, daß er diese wichtigen Enthüllungen ihnen so lange vorenthalten hatte, wurde eifrig bis tief in die Nacht hinein berathen, was nun geschehen sollte, um auf möglichst zarte und sichere Art den peinlichen Knoten zu lösen. Zuletzt vereinigten sich Alle dahin, einem Vorschlage der Pfarrerin beizustimmen, gegen den nur ihr Mann einige schwache Bedenken hatte, da er selbst eine Rolle dabei spielen sollte. Aber der munteren Beredsamkeit seines klugen Weibes konnte er auf die Länge nicht widerstehen, und so ergab er sich und man trennte sich mit fröhlichen Hoffnungen für den anderen Morgen, wo der Plan zur Ausführung kommen sollte.

Dieser andere Morgen war, wie gesagt, ein Sonntag und hierauf hatte die Pfarrerin ihren Plan gebaut. Als sie nämlich zugleich mit der Lore, neben der sie noch immer schlief, aufgestanden war, fragte sie, während das Mädchen zum ersten Mal ihr schwarzes Kleid anzog, ob sie heute nicht mit ihnen in die Kirche gehen wolle, es werde ihr gewiß wohlthun und ihre Stimmung beruhigen. Das Mädchen, das überhaupt die Art hatte, auf jede Frage erst nach einem kleinen Besinnen zu antworten, schüttelte schwermüthig den Kopf und erwiderte dann: „sie habe selbst das lebhafteste Verlangen, die Predigt zu hören, aber es sei über ihre Kräfte, heute schon unter Menschen zu gehen, und man möge noch ein wenig Geduld mit ihr haben.“

„Das wollen wir gewiß,“ versetzte die Pfarrerin. „Aber um meinen Bruder thut mir’s leid, der wieder in seine Schule zurück muß, heute schon, und nun mit dem Gedanken von hier weggeht, Du habest, obwohl er Dich so herzlich lieb hat, einen Haß auf ihn, und sein Anblick sei Dir so widerwärtig, daß Du seinetwegen auch uns Anderen auswichest.“

Während sie das sagte, stand das arme Kind abgekehrt, um zu verbergen, daß sie über und über von tiefer Schamröthe übergossen war. „Wie soll ich ihn hassen?“ brachte sie endlich stockend hervor. „Ich bin ihm so vielen Dank schuldig, und gewiß, Sophie, ich habe meine Gesinnung gegen ihn nicht geändert und wollte, ich könnt’ es ihm beweisen, und wenn es mich das Leben kostete. Aber verlange nicht, daß ich ihn sehen soll, und frage auch nicht, warum; er soll gehen und mich vergessen. Ich bin nicht werth, daß er nach mir fragt.“

„Mag’s darum sein,“ sagte die Pfarrerin mit verstellter Gleichgültigkeit, während sie heimlich über die Bestätigung von Lorenz’ Vermuthung frohlockte. „Du bist eben ein krankes Kind, dem man seine Launen zu Gute halten muß, und mit der Zeit machen wir Dich schon wieder gesund. Aber wenn Dich so nach der Predigt verlangt, die kannst Du hören, ohne in die Kirche zu [820] gehen. Siehst Du da am Ende des Gartens das Sommerhäuschen, zu dem die drei Stufen hinaufführen? Von da aus sieht man über, die Gartenmauer auf den Kirchhof, und der Chor der Kirche ist nur zehn Schritte weit entfernt. Wenn im Sommer, wie jetzt, die Kirchenfenster offen stehen, hört man den Prediger. Wort für Wort bis in unsern Garten herüber. Da kannst Du Dich hinsetzen und ganz im Verborgenen den Feiertag heiligen, und wenn es aus ist, vor uns Anderen wieder hier in Deinem Schmollwinkel sitzen.“

Damit nahm sie den gesenkten Kopf des Mädchens zwischen ihre Hände, küßte sie herzlich auf Stirn und Mund und ließ sie dann allein.

Bald darauf fingen die Glocken an zu läuten und nun sah die einsam Trauernde, hinter den Vorhängen des offenen Fensters verborgen, alle Hausgenossen, die Kinder voran, durch den Garten wandeln, nach dem Pförtchen, das auf den Kirchhof führte. Lorenz ging neben, seiner Mutter; er hatte das Gesicht still zu Boden gekehrt, und Lore glaubte einen traurigen Zug um die Lippen zu bemerken, und daß er blasser als sonst war. Es wurde ihr so weh dabei, daß ihr die Augen übergingen. Dann aber, als nun außer ihr keine lebende Seele im Hause war, faßte sie sich doch ein Herz und ging mit ungewissen Schritten, wie eine eben Genesene, über den Hausflur in den Garten. Es war ihr so selig beklommen zu Muth, als kehrte sie aus dem Grabe wieder in die Himmlischen Lüfte zurück die sie zu athmen fast verlernt. Die Lilien und Centifolien betäubten sie fast mit ihrem Duft, die Morgensonne übergoß sie so gewaltig mit Wärme und Glanz, daß sie nach jedem zehnten Schritt stehen bleiben und die Augen schließen mußte. Sie athmete erst wieder freier, als sie das Sommerhäuschen erreicht hatte, in dessen kühlem, von Jalousien rings umschlossenem Raum eine lauschige grüne Dämmerung herrschte. Da setzte sie sich mit zitternden Knieen auf eine Bank, faltete die Hände im Schooß und horchte andächtig hinaus, wie nun die Glocken verhallten, die Orgel anhob und bald darauf der Gesang der Gemeine einfiel. Wie einem Wanderer, der viele Tage durch Frost und Hitze auf wilden Wegen sich durchgeschlagen hat, ein warmes Bad allen Staub und alle Mühsal von den Gliedern spült, so umbrauste sie der feierliche Strom der Musik und löste den Druck, der auf ihrer Seele lag. Dann Hörte sie die tiefe ruhige Stimme des Pfarrers und verstand wirklich hier in der Ferne jedes seiner Worte. Er hatte den Text gewählt, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen müssen. Dieses tiefsinnige Wort, dessen Gepräge durch gedankenlosen Gebrauch wie manch anderer goldene Spruch abgegriffen und verflacht worden ist, suchte er erst, so weit es seiner ländlichen Gemeinde verständlich war, nach seinem ganzen Umfang im Allgemeinen auszulegen, und ging dann auf die Erlebnisse der nächsten Gegenwart über, die Wahrheit dieser Verheißung an der furchtbaren Heimsuchung durch die mörderische Krankheit zu bewähren. So viele, die sorglos hingelebt und ihres Schöpfers schier vergessen hätten, seien durch die Trauer, die über sie und ihre Nächsten gekommen, nach innen geführt und an das Heilige und Ewige erinnert worden. Alle christlichen Tugenden, die in guten Tagen verachtet und kaum gedankt zu werden, pflegten, habe die allgemeine Noth zu Hülfe und That aufgeboten; der Mensch sei dem Menschen brüderlicher nahe getreten, als sonst, und unter den schweren Prüfungen des himmlischen Vaters habe die bange Seele wieder lernen müssen, daß wir alle Kinder Gottes seien, und daß unser Vater uns liebe, weil er uns züchtige. Wie bei einem Erdbeben, das friedliche Hütten und Häuser zerstöre, oft eine warme Heilquelle oder verborgene Erzadern zu Tage kämen, deren Entdeckung die heimgesuchte Gegend zehnfach für ihren Verlust entschädige, so werde der Segen, den hier der Tod gestiftet, hoffentlich auf Geschlechter hinaus nachwirken, und die Saat der Trübsal Früchte der Freude bringen.

Das und Aehnliches sagte der wackere Diener Gottes und wohl Wenige unter seinen Zuhörern wurden tiefer von seinen eindringlichen Worten bewegt, als das verwaiste Mädchen, das ihnen über den Friedhof hinüber lauschte. Als er dann gebetet hatte, hub er noch einmal an: er habe der andächtigen Gemeinde noch mitzutheilen, daß der Segen des Herrn in dieser Zeit der Prüfung sich an zwei getreuen Herzen erwiesen habe, die angesichts des Todes den Bund für’s Leben geschlossen und somit ein neues Zeugniß dafür abgelegt hätten, daß denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen müssen. Auch in ihnen habe das Beben der Erde, auf der sie bisher, ohne sich zu erkennen, neben einander gewandelt, die warme Quelle an den Tag gebracht und ihre Kinder und Kindeskinder würden dereinst die schwere Schickung zu preisen haben, aus der, wenn Gott Segen verleihe, eine fröhliche Zukunft entsprießen würde.

Bis hierhin hatte die Lauscherin im Sommerhaus mit Herzklopfen zwar, weil sie an ihre eigenen Liebe dachte, aber noch ahnungslos zugehört. Als aber nun die Gemeinde aufgefordert wurde, das verlobte Paar mit dem Prediger gemeinsam der Gnade des Herrn zu empfehlen und nach dem Namen, der ihr der theuerste war, ihr eigner Name von der Kanzel ertönte, war der Eindruck so übermächtig, daß ihr einen Augenblick die Besinnung schwand und ihr Kopf gegen den Fensterrahmen sank, hinter dem sie gesessen hatte. Sie hörte nichts von dem Segen, den der Prediger der Gemeinde ertheilte, nichts von der Orgel, die mit Brausen einfiel und den Schlußgesang begleitete, und erst, als sich Schritte den Stufen des Sommerhäuschens näherten, wachten ihre Sinne wieder auf. „Wo steckt das eigensinnige Ding?“ hörte sie den Meister rufen. „Was? Nicht mit in die Kirche gehen, wenn man aufgeboten wird? Und nun mit dem eigenen Schwiegervater Versteckens spielen? Schöne Sitten das! Aber nun soll sie auch zur Strafe erst dem alten Graubart einen Kuß geben, ehe wir sie dem Bräutigam lassen.“

Mit diesen Worten öffnete der Alte die Thür und kam gerade recht, das Mädchen, das aufgestanden war, ihm entgegenzugehen, und von der Erschütterung in eine zweite Ohnmacht fiel, in seinen Armen aufzufangen. – Als sie die Augen wieder aufschlug fand sie sich, auf der Bank sitzend, allein in der sonnigen Dämmerung mit Dem, dem sie ihr ganzes Lebenlang nie wieder hatte in die Augen sehen wollen, und von dem nun erst der Tod, der sie vereinigt, sie wieder scheiden sollte.