Textdaten
Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Liebe und Selbstheit
Untertitel: Ein Nachtrag zum Briefe des Hr. Hemsterhuis über das Verlangen
aus: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung
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Erscheinungsdatum: 1785
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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[309]

VI.

Liebe und Selbstheit.

––––––––

Ein Nachtrag zum Briefe des Hr. Hemsterhuis über das Verlangen.[1]

[311] Es ist eine schöne Sage der ältsten Dichtung, daß Liebe die Welt aus dem Chaos gezogen, und die Geschöpfe mit Banden des Verlangens und der Sehnsucht wechselseitig an einander geknüpft habe: daß mit diesen zarten Banden sie alles in Ordnung erhalte, und zu dem Einen leite, der Quell alles Lichts ist, wie aller Liebe. Unter wie mancherley Namen und Einkleidungen dieß dichterische System vorgetragen ward, so ist in ihm überall dieß Allgemeine kenntlich: „daß Liebe die Wesen vereinige, wie Haß sie scheide; in Liebe und Vereinigung gleichartiger Dinge bestehe aller Genuß der Götter und Menschen: Sehnsucht und Verlangen endlich seyn gleichsam die Brautführerinnen der Liebe, die starken und doch zarten Arme, die allen Genuß herbey ziehn, vorbereiten, ja die selbst das größeste Vergnügen vorahnend gewähren.“

     Indessen ward auch bald die andere Seite des Systems sichtbar, daß diese Liebe Grenzen [312] habe, und eine völlige Vereinigung der Wesen in unserm Weltall selten oder gar nicht statt finde, daß also auch die Bande dieser Vereinigung, Verlangen und Sehnsucht, eben in der größten Anstrengung nachlassen müssen, und leider! oft, statt des Genusses, Ueberdruß und Sättigung gewähren. Man bemerkte bald, daß auch in diesem Gesetz Weisheit liege, weil der Schöpfer hierdurch eben so sehr den festen Bestand einzelner Wesen gesorgt hat, wie er durch Liebe und Sehnsucht für die Vereinigung und das milde Beysammenseyn mehrerer Geschöpfe sorgte. Man sahe, daß diese beyden Kräfte, die in der geistigen Welt das sind, was in der körperlichen Anziehung und Zurückstoßung seyn möchten, zur Erhaltung und Festhaltung des Weltalls gehören; und ich glaube, es war schon Empedokles, der Haß und Liebe zu Zeichnerinnen des Umrisses aller Geschöpfe machte:[2] [313] „durch Haß, sagte er, werden die Dinge getrennt, und jedes Einzelne bleibt was es ist; durch Liebe werden sie verbunden und gesellen sich zu einander,“ – so fern sie sich nämlich ihrer Natur nach, gesellen können: denn freylich auch über die Liebe, sagten die Griechen, herrscht das Schicksal; und Nothwendigkeit, die älteste der Gottheiten, ist mächtiger, als die Liebe. Nach Platons Ideen ward diese von der Dürftigkeit und dem Ueberfluß in den Gärten Jupiters gebohren: sie hat also die Natur beyder, und ist immer abhängig von ihren Eltern.

     Ich glaube, es wird nicht unangenehm seyn, diesen doppelten Spatziergang zu verfolgen, zumal uns Herr Hemsterhuis nur auf die eine Seite geführt hat. Er hat sich die andre für eine andre Abhandlung aufgespart, [3] die er noch nicht geschrieben, oder ich noch nicht gesehen habe. [314] Daß Liebe die Wesen vereinige, und daß alle Sehnsucht, alles Verlangen nur nach dieser Vereinigung als nach dem einzigmöglichen Genuß abgetrenneter Wesen strebe, dieß hat unser Autor mit so ausgesuchten Beyspielen erwiesen, daß eine zu reiche Nachlese hierüber nur unnützer Ueberfluß wäre. Jede Begierde nach sinnlichem und geistigem Genuß, alles Verlangen der Freundschaft und Liebe dürstet nach Vereinigung mit dem Begehrten, weil es in ihm einen neuen süßen Genuß seiner eignen Wirklichkeit vorempfindet. Die Gottheit hat es weise und gut gemacht, daß wir unser Daseyn nicht in uns, sondern nur durch Reaction gleichsam in einem Gegenstande außer uns fühlen sollen, nach dem wir also streben, für den wir leben, in dem wir doppelt und vielfach sind. Die Menge anziehender Gegenstände, die die Natur um uns legte, sind also von ihr in so mancherley Entfernungen gesetzt, und mit so verschiedenen Graden und Arten der Anziehungskraft begabet, daß eben hierdurch ein reiches und zartes [315] Saitenspiel der Empfindungen und vielerley Tönen und Modis in uns möglich ward, und unser Herz und Leben gleichsam eine Harmonie des Verlangens, das Kunstgebilde einer immer reinern, unersättlichen, ewigen Sehnsucht würde.

     Der grobe sinnliche Genuß verwandelt in sich und zerstört den Gegenstand, nach dem wir begehrten. Er ist also lebhaft: denn hier findet völlige Vereinigung statt; allein er ist auch grob und vorübergehend. Es giebt Menschen, die den Genuß nur auf der Zunge haben, (daher auch im gemeinen Leben das Wort Genießen, meistens von diesem Sinn gebraucht wird;) der Genuß ist hier Vereinigung, d. i. Auflösung der feinsten Säfte, er ist aber auch eben damit geendet: denn nun ist der Gegenstand verschlungen, zerstöret. Gewissermaßen ist also auch hier der feinste Genuß vor dem Genusse: der Appetit nach einer schönen Frucht ist angenehmer als die Frucht selbst; das Auge macht [316] die Zunge am lieblichsten lüstern, oder wie Lukrez von einem andern Sinn sagt:

     voluptatem praesagit multa cupido.

So ists mit dem Genuß der Düfte, ja selbst der Töne. Wir ziehen sie in uns, wir trinken den Strom ihrer Wollust mit langen Zügen: und nur dann sagen wir, daß wir Musik genießen, wenn sie unser Herz zerschmelzt, wenn sie mit dem innern Saitenspiel unsrer Empfindungen Eins wird. Der Strom des Wohllauts, so fein er sey, wird indeß auch verschlungen; er dauert etwa nur in den harmonischen Wirkungen, in den angenehmen Vibrationen fort, die er auf uns machte. –

     Je geistiger der Genuß ist, desto dauernder wird er, desto mehr ist auch sein Gegenstand außer uns dauernd. Lasset uns aber auch immer dazu setzen, desto schwächer ist er: denn ein Gegenstand ist und bleibt außer uns und kann eigentlich nur im Bilde d. i. wenig oder gar nicht mit uns Eins werden. Das Auge [317] wird zu sehen nimmer satt: denn wie wenig erhält das Herz im sehen! wie wenig kann uns zum innigsten Genuß der bloße Lichtstrahl geben! Was der lateinische Dichter vom unvollkommenen Genuß der Liebenden sagt, gilt auch hier:

Nil datur praeter simulacra fruendum!
Vt bibere in somnis sitiens cum quaerit et humor
non datur, ardorem in membris qui stingere possit
sed laticum simulacra petit frustraque laborat
in medioque fitit torrenti flumine potans.

Und in der That scheinen dieses auch die Virtuosen dieses Organs, die das Gesicht bis zur Wollust, bis zum Genuß ausgebildet haben, zu fühlen. Wie suchen sie das Bild vor ihnen zu beleben! Einem jeden Druck des Lichts und des Schattens, der Farbe, der Bildung, der Gebehrde tappen sie nach, daß, wenn sie Künstler sind, sie den Geist des Urhebers, und wenn sie in den Gegenständen selbst leben, diese, ob es [318] gleich nur Erscheinungen sind, etwa hervorfühlen, heraustappen möchten; wo abermals also der Genuß nur durch einen Wahn von Vereinigung statt hat. Schwacher, aber glücklicher Wahn! Das Auge zerstört das Wesen des geliebten Gegenstandes nicht, eben weil es demselben nicht in sich hinüber zu ziehen vermag. Dünkt dieser also dem Getäuschten ein Quell unerschöpflicher Reize: wohl ihm und dem Glücklichbetrognen, der sein genießet! Er schöpft immer, und schöpft nie aus, weil er nie ganz und innig schöpfen konnte: die geliebten Bilder fliehn vor ihm und bleiben ihm doch gegenwärtig: er lebt vom süßen Traum des sichtbaren, geistigen Wahnes.

     Unvermerkt kommen wir auf die dem Schein nach dauerndste, aber auch für unsre Sterblichkeit am wenigsten befriedigende Art des Genusses, den Ideengenuß körperlicher Schönheit, oder wie es die Schwärmer nennen, den Genuß platonischer Liebe. Plato giebt zu ihr seinen Namen unrecht her: denn er redet von geistigen Eigenschaften, die mit dem Geist genossen werden [319] müssen (und ja auch nicht anders genossen werden können;) nicht aber von einer wahnsinnigen Vergeistung der Körper, aus der oft nur zu grobe Verkörperung wird. Daß dieser Genuß nicht geistig sey, sehen wir daraus, weil er den Körper zerstört, und den Geist nicht befriedigt: er sündigt am Nervensaft, wie die zu grobe Liebe an Fleisch und Blut sündigt; und zeigt also eben damit, daß er kein wahrer Genuß, keine glückliche Beschauung der Art sey, wo der geliebte Gegenstand mit uns Eins wird. Wie kann, was Körper ist, mit dem reinen Geist Eins werden? zwo Dinge, die eigentlich nichts mit einander gemein haben, und nur durch eine Art freywilliger Trunkenheit, wie die Griechen dichteten, ursprünglich vermischt werden konnten. Geistige Eigenschaften und Gegenstände kann der Geist genießen; ihre Vereinigung mit ihm ist rein und so ruhig, als jener alte Hymnus Gott sprechen läßt: Alles ist mein: denn ich habe es in mir! – ein Besitzthum und ein Genuß, dessen die Seele nur bey den reinsten Gegenständen fähig [320] ist. Da fliegt und kostet sie als ein schöner Schmetterling, der bey seinem Genuß der Blume nicht schadet: wo sie als Raupe genießt, zerfrißt sie leider! Blätter und Blume.

     Wir fangen also von den wahreren Gattungen des geistigen Verlangens, der Freundschaft und Liebe zu reden an, und ich hole, nachdem was Hemsterhuis von ihnen gesagt hat, nur wenige Züge nach.

     Das Bild der Alten von der Freundschaft, „die beyden in einander geschlungenen Hände“ scheinen mir das beste Sinnbild ihrer Vereinigung, ihres Zweckes und Genusses zu seyn; bedeutender, als die zwey „gleichgestimmten Saitenspiele.“ Diese drücken nichts aus, als Geselligkeit, die lange noch nicht Freundschaft ist. Ein geselliger Mensch ist leicht- und wohlgestimmt, er stimmt sich selbst leicht zu jeder Gesellschaft, und so stimmt sich auch diese leicht zu ihm. Er drückt niemand mit seinem Daseyn, er verengt keinen; und so ist jedermann gern um ihn: man ist auch auf einen [321] gewissen Grad mit ihm vertraut, weil man fühlt, der Mensch habe nichts Arges. Charaktere der Art sind zum täglichen Umgange gut; aber Freundschaft – welch ein anderes, heiliges Band ist diese! Herzen und Hände knüpft sie zu Einem gemeinschaftlichen Zweck zusammen, und wo dieser Zweck augenscheinlich, wo er fortwährend, anstrengend, selbst unter oder hinter Gefahren vorliegt: da ist das Band der Freundschaft oft so genau, fest und herzlich, daß nichts als der Tod es zu trennen vermochte. Der Phalanx griechischer Freunde im Kriege, die all wie Einer siegten oder starben; jene hellen Zwillingsgestirne der Freundschaft, die unter allen Nationen, Hebräern und Griechen, Scythen und Wilden aus der Nacht der Zeiten hervorglänzen und dem menschlichen Herzen so wohl thun, wodurch waren sie Freunde? Gemeinschaftlicher Zweck verband sie: Gefahr zog den Knoten zusammen: erprobte Treue, fortgehender wachsender Eifer, glorreiche Mühe, gemeinschaftlicher Genuß der Mühe, Noth und Tod endlich [322] machten den Knoten unauflöslich. Wie wahr ists, was jener Freund von seinem Freunde singet: deine Liebe war mir mehr als Frauenliebe! Die Schöpfung kennt nichts Edleres, als zwey freywillig- und unauflöslich zusammengeschlungene Hände, zwey freywillig Einsgewordne Herzen und Leben. Gleichviel ob diese beyden Hände männlich oder weiblich oder beyderley Geschlechts sind: es ist ein stolzes aber ungereimtes Vorurtheil der Männer, daß nur sie zur Freundschaft taugen. Oft ist ein Weib darzu zarter, treuer, fester und goldreiner, als eine Reihe schwacher, fühlloser, unreiner männlicher Seelen; und wo Untreue, Eitelkeit, Rivalität, Leichtsinn statt findet, da ist Freundschaft für beyderley Geschlecht unmöglich. Auch Ehe so Freundschaft seyn: und wehe, wo sies nicht ist, wo sie nur Liebe und Appetit seyn wollte! Es ist einem edeln Weibe süß, auch um ihres Mannes willen zu leiden, geschweige sich mit ihm zu freuen, und Er sich in Ihr; Sie sich in Ihm wirksam, fröhlich, honett, geschätzt und glücklich zu fühlen. [323] Die gemeinschaftliche Erziehung der Kinder ist der schöne leitende Zweck ihrer Freundschaft, der noch im grauen Alter beyde süß belohnet. Als zwey verschlungene Bäume stehn sie da, und werden dastehn, umringt vom Kranz jugendlich-grünender Bäume. – Ueberhaupt ist gemeinschaftliches Leben das Mark der wahren Freundschaft: Aufschluß und Theilung der Herzen, innige Freude an einander, gemeinschaftliches Leid miteinander, Rath, Trost, Bemühung, Hülfe für einander sind ihre Kennzeichen, ihre Süßigkeiten und Belohnung. Was für zarte Geheimnisse giebts in der Freundschaft! Delikatessen, als ob die Seele sich in des Andern Seele unmittelbar fühlte, und vorahndend seine Gedanken so richtig erkenne, als obs ihre eignen Gedanken wären. Und gewiß, die Seele hat zuweilen Macht, sie so zu erkennen, so in des andern Herz unmittelbar und innig zu wohnen. Es giebt Augenblicke der Sympathie auch in Gedanken, ohne die mindste äußere Veranlassung, die zwar die Psychologie nicht erklärt, [324] aber die Erfahrung lehrt und bekräftigt. Es giebt Erinnerungen, auch ferne Erinnerungen abwesender Freunde an einander, die oft von der wunderbarsten, mächtigsten Art sind. Wenn überhaupt die Seele je die geheime Kraft hätte, ohne Organ unmittelbar in eine andre Seele zu wirken: wo könnte es natürlicher seyn, als bey der Freundschaft? Diese ist reiner und also gewiß auch mächtiger als die Liebe: wenn diese sich zur Stärke und Dauer der Ewigkeit erheben will, muß sie erst, von der groben Sinnlichkeit geläutert, ächte und wahre Freundschaft werden. Wie selten gelangt sie dahin! Sie zerstört sich selbst, oder zerstört ihren Gegenstand mit durchdringenden fressenden Flammen, und Beyde, das Liebende und das Geliebte, liegen sodann wie ein Häufchen Asche da. Aber die Glut der Freundschaft ist reine erquickende Menschenwärme. Die beyden Flammen auf Einem Altar spielen in einander, heben und tragen frohlockend einander, und oft noch in der Stunde der traurigen Scheidung schweben sie frölich und einig ins Land der [325] reinsten Vereinigung, der treuesten, untrennbaren Freundschaft.

     Der Leser verzeihe die Ausführlichkeit, womit ich diesen Punkt behandle. Da ich ihn für die wahre, einzige und schönste Seelenvereinigung, also auch für den edelsten und süßesten Genuß halte, dessen die Menschheit fähig ist, dem auch selbst die Liebe dienet: da es so verschiedne Grade der Freundschaft giebt von der leichten Geselligkeit bis zur erhabensten stillsten dauerndsten Aufopferung, die freylich nur sehr auserlesenen Seelen unter sehr seltnen Umständen und Verbindungen, aber auch solchen als das höchste Privilegium, als der ächte Vorgeschmack einer künftigen höhern Existenz zu Theil ward: kurz, da in der Freundschaft eine Vereinigung fast ohne Organe, rein, ganz, thätig und immerwachsend statt hat: so ist sie, dünkt mich, auch der höchste Punkt alles Verlangens und gerade in der größesten Anstrengung und Bedrückung wird sie das reinste Glück der Erde. Hier wirkt der wahre Magnetismus menschlicher Seelen, [326] und wir wissen, der Magnet zieht am meisten, wenn er geübt wird. Ungeübt liegt er todt da; ohne Zuversicht und schwer erprobte Treue ist keine Freundschaft, keine Verwechslung der Herzen möglich.

     Aber die Natur sah daß diese reine himmlische Flamme für uns auf Erden meistens zu fein wäre: sie kleidete sie also in irrdische, sinnliche Reize, und nun erschien Venus Urania als – Aphrodite. Liebe soll uns zur Freundschaft laden, Liebe soll selbst die innigste Freundschaft werden.

     Den höchsten Grad ihrer Entzückung suche ich nicht da, wo, wie Herr Hemsterhuis sagt, uns die Natur mit einem Augenblick irrdischer Vereinigung täuscht (ein Augenblick der sich ringsum in lauter Bedürfniß verliehret) sondern in das erste glückliche Finden, in den über alle Beschreibung süßen Augenblick, da beyde Geliebte gewahr werden, daß sie sich lieben, und es nun, wie unvollkommen und unwillkührlich es sey, so gewiß, süß und übereinstimmend einander sagen. Warum muß ich das Wort schreiben: sagen? [327] Das arme Wort! Was kann in diesem Augenblick die todte Zunge, die lechzende Sprache sagen, wo selbst der seelenvolle feurige Blick seine Flügel niederschlägt und seinen Glanz verhüllet. Wenn es einen Augenblick himmlischer Wollust und reiner Vereinigung verkörperter Wesen hier auf Erden giebt, so ists dieser; alles ganz andrer Art, als was uns nachher der darbende Genuß erlaubet. Ich weiß nicht, welche Mythologie irgend eines Asiatischen Volks ihre Zeiträume des höchsten Alterthums so eintheilt, daß die Menschen (damals noch paradiesische Geister) sich Jahrtausende zuerst durch Blicke, nachher durch einen Kuß, durch eine bloße Berührung geliebt hätten, bis sie in langen Zeiträumen endlich zu den niedrigern Arten des Genusses allmählich hinabgesunken wären. Der Augenblick jenes geistigen Erkennens, jenes Verraths der Seele durch einen Blick setzt uns gleichsam in diese Zeit zurück, und mit ihr in die Freuden des Paradieses. In ihm genießen wir zurückempfindend, was wir so lange suchten, und uns selbst nicht zu sagen wagten: [328] in ihm genießen wir vorempfindend alle Freuden der Zukunft, nicht ahndend, sondern habend, ja wenn man so sagen darf, mehr als habend. Die Zukunft kann immer nur entwickeln, selten hinzuthun; und oft thut sie ab, sie vermindert den Wahn des Genusses bey jedem Genusse. Jener Augenblick ist der, da Psyche den Gott der Liebe erblickt, den sie so lang verschleiert liebte; ach warum, Unglückliche, ließest du die Fackel fallen? und endetest damit auf so lange alle deine Freuden! –

     Es ist gewiß, daß die Seelen, die zur treusten, reinsten, edelsten Liebe geschaffen sind, sich für diesem Augenblick des Verraths, als für ihrem ärgsten Feinde fürchten, und mit ihm aufs blödeste zögern. Das weibliche Geschlecht, das die Liebe überhaupt zarter, als das unsre, behandelt, fühlt, wie viel die Flamme derselben mit jedem Genuß verliehre, wie sie, der Natur aller andern Flammen zuwider, erstickt, wenn sie ausbricht, und durch jede Aeußerung ihre innere Kraft und Süßigkeit schwächet. Keusch und heilig [329] suchts also das Geheimniß selbst im Herzen des Liebenden zu bewahren, sobald es desselben gewiß ist; und nichts macht sich gewisser als dieses. Das Geheimniß wird gleichsam entweiht, wenn es nur die Lippen berührt: es erstirbt auf gewisse Weise schon im ersten Kusse, im ersten Seufzer. Aber da wir einmal Körper sind, so verliehrt Psyche freylich, wie die alte Fabel lautet, ihre himmlische Fittige, sobald sie zur Materie herabsinkt. Ist es Wunder, daß sie sich so lange, und mit so vieler Mühe noch täuschen will, daß sie nicht den Körper, sondern nur das, was ihrer Natur ist, die Seele des Geliebten liebe? gleich als ob sie sich ihrer Erniedrigung schämte, und die kurze Dauer des Genusses, den sie sucht, prophezeihte. Wie verhüllet sie sich also diesen! sie suchet auch im Kuß nur Vereinigung der Seele, wie es das untenangezogene unübersetzbare Gedicht [4] gleichsam ganz liebeathmend [330] singet. Große Stellen im vierten Buch Lukrez schildern dieß Streben, dieß eitle, immer unbefriedigte Streben nach Vereinigung der Wesen so stark, so philosophisch und kräftig, als ob Lukrez fürs System unsers Autors, oder dieser sein System des Genusses und der Liebe aus ihm geschrieben hätte. – Glücklich, daß die Natur diesen kurzen trügenden Wahn der innigsten Vereinigung von Seiten des Geistes mit Freundschaft paarte, und von Seiten des Körpers mit dem elektrischen Funken seiner Allmacht beglückte, durch den aus einer uns unbegreiflichen Verbindung Zweyer Wesen ein Drittes wird, gleichsam ein Geschöpf der Liebe, des Verlangens und der unvollendeten Sehnsucht. Die feurige Kette schlingt sich also weiter: zwischen der Dürftigkeit und dem Ueberfluß wird an ihr ein neues Glied geknüpft, in dem der Funke des Verlangens weiter zünde. Ueberhaupt bemerke ich allgemein, daß der Schöpfer keinen Grad von [331] Vereinigung der Wesen in seiner Natur ohne Frucht ließ. Der erste Grad von sinnlichem Genuß, nach dem auch schon das Kind sauget, giebt uns Lebenssaft: er bereitet uns ein Edleres aus einer schlechtern Materie. Je feiner das Organ wird, desto geistiger sind die Kinder seines Empfängnisses: Düfte stärken und erquicken die Seele: Musik tröstet und labt das Herz mit himmlischem Tranke. Die Bilder,

     – – Simulacra, pabula amoris

führen dem Geist zärtere Gedanken zu, als ihr Materielles selbst ist; und endlich Freundschaft und Liebe, jene die Ehe der Geister, diese der Körper, bringen uns einen Becher des Genusses mit den schönsten Früchten bekränzet. Freundschaft erweckt edle Empfindungen, Bestrebungen, Thaten; Liebe, wie die göttliche Frühlingssonne, belebt den zarten mütterlichen Weinstock mit Laub und Früchten. Die Schöpfungskraft des ersten Urhebers ist in sie geleget.

[332]      Auch scheinets, daß der Schöpfer Sorgfalt getragen habe, den kurzen flüchtigen Genuß der Liebe mit einer Gabe zu ersetzen und zu belohnen, die er unmittelbar aus seinem Schatz nahm, und in der auch das geringste lebendige Geschöpf eines Funkens der Gottheit gewürdigt werden sollte; es ist die Elternzärtlichkeit, die väterliche und mütterliche Liebe. Sie ist göttlich, denn sie ist uneigennützig und sehr oft ohne Dank. Sie ist himmlisch, denn sie kann sich auch in viele zertheilen, und bleibt immer ganz, immer ungetheilt und neidlos. Endlich ist sie auch ewig und unendlich, denn sie überwindet Liebe und Tod. Abscheulich ist die Mutter, die ihrem Kinde den Liebhaber vorzieht: selbst Thiere beschämen sie, die freudig für ihre Jungen starben. Unter allen Schmerzen des Todes schmeichelten und liebkoseten sie denen, die man grausam aus ihrem Leibe riß, und für jede thierische Mutter giebts kein süßeres Geschäft, als ihre Jungen zu säugen. Mütterliche Zärtlichkeit war das Pfand der Liebe, womit die Natur, gleichsam aus ihrem [333] Herzen, die Schmerzen der Mütter belohnte. Nichts geht über die Angst, womit die Mutter ein verlohrnes Kind sucht, und nichts über die Freude, womit sie’s nach langem Suchen, nach vieljähriger Entfernung wieder findet, und wie neugebohren umarmet. Das Verlangen der Mutter nach Kindern ist die schönste Sehnsucht, die im Gürtel der Liebe lag, ja aus der, bey allen reinen Weibesherzen, er eigentlich ganz gewebt scheinet. Sie sind die Priesterinnen am heiligen Feuer der Vesta; und wehe dem verachteten Geschöpf, das statt dieser Flamme von einer andern glühet! Nur die Spitze seines Pfeils hat Amor mit Verlangen gesalbet; [5] unglücklich, wenn der ganze Pfeil davon glühet.

     Zu wem kann ich von der zärtlichen, göttlichen, ewigen Elternzärtlichkeit hinaufsteigen, als zu Dir, große allgemeine Mutter, zärtlichster höchster Vater! Meine Sprache hat kein Wort die Empfindung zu nennen, mit der Du dich in jedes Geschöpf, in jede Nerve und Winkel eines [334] schlagenden Herzens setztest, und jedem derselben seinen für andre unübersehbaren, unerklärlichen, unfühlbaren Genuß gabest. Deine ganze Schöpfung ist ein Gewebe, das die Macht aus dem Nichts hervorzog, die Weisheit einschlug, und dem die Liebe ihre tausendgestaltige sinn- und liebreiche Figuren einwebte. Wer sollte Dich also nicht lieben, da jedes Geschöpf nur zu Dir ziehet, zu Dir weiset? und wer kanns, wie er sollte: da er im Meer deiner Gedanken und vorgefühlten Empfindungen untergeht, und auch über sich selbst in die tiefste Tiefe sinket? Du hast das Schicksal aller Eltern, daß sie mehr lieben, als geliebt werden; aber du hast vor allen das voraus, daß Du die Sehnsucht nach Dir in mir selbst erschaffen hast, und mich an Banden des Erkenntnisses und der Liebe Dir immer näher zuführen kannst. Mein ganzes Herz sagt mirs, Du werdest und müssest es thun: denn das kleine Fünkchen Erkenntniß und Liebe in mir ist ja nur ein Abglanz der unendlichen Flamme deines Herzens. Du mußt mich also tausendfach inniger erkennen, [335] nennen, suchen und lieben, als ich Dich nennen und suchen kann; und dieser ewige Zug Deines Herzens zu dem Meinen ist mir ein eingepflanzter Bürge meiner unsterblichen Neigung zu Dir, und des immer wachsenden Genusses Deiner.

     Aber wie wird der Ewige genossen? durch Anschauung? oder durch Empfindung? Unser Autor hat eine harte Bemerkung über die Schwärmer gemacht, [6] die, recht geprüft, leider nur zu wahr seyn möchte. Es ist die allgemeine Erfahrung, daß in alle Schwärmereyen Weiber verwickelt gewesen; oft wurden die Männer nur angesteckt durch Weiber, die sie, wie es hieß, neu gebahren. Den Männern waren sie also gleichsam Mittlerinnen der Gottheit; und wie sie sich die Gottheit, insonderheit den menschlichen Gott dachten, und ihn empfanden; davon liegen ja so viele Schriften und Briefe der Welt vor Augen. Die Ohnmacht, die die heilige Thersia vor dem Altar fühlte, als der himmlische Amor ihr Herz berührte, konnte, wenn sie in diesem [336] Augenblick nur körperlich betrachtet würde, schwerlich von einer andern Art seyn, als den jede liebende Ohnmacht hat: denn in den Säften des Körpers ist Liebe und Liebe an Wirkungen gleich, wer auch der Gegenstand seyn möge. Bey allen Gefühlen dieser Gattung ist also auch dem unschuldigsten Herzen die größeste Behutsamkeit nöthig; selbst im Strom der göttlichsten Liebe bleibts immer nur ein menschliches Herz. Alle Mittlerinnen, und wenn es die Mutter Gottes selbst wäre, sind gefährlich: so wie dem weiblichen Herzen alle irrdische, und (zu sinnlich empfunden) selbst der himmlische Mittler seyn kann. Von ganzer Seele, von allen ihren Kräften will Gott geliebet seyn, nicht aber vom gährenden Nervensaft in einem kranken epileptischen Körper.

     Wir kommen von selbst auf die Grenzen, die Gott unserer Liebe und Sehnsucht hienieden bey jedem Genuß gesetzt hat; und es sind nicht blos, wie Herr Hemsterhuis zu meynen scheint, unsre Organe, sondern, wie er zuletzt selbst findet, unser isolirtes einzelnes Daseyn. Er vergleicht [337] die Eigenschaft der Seele, die sich dem Zusammenströmen mit andern Wesen widersetzt, der Kraft der Trägheit in der Materie; und allerdings muß diese Kraft der Trägheit viel was anders und mehr seyn, als der große Trupp mechanischer Philosophen von ihr weis oder aussagt. Schon die beyden Worte, Kraft und Trägheit passen sich so zusammen, als Bewegung und liegender Grund in dem Wort „Bewegungsgründe.“ Auch Leibnitz und alle bessere Denker haben über den innern Zustand der Materie Vermuthungen gewagt, denen ich in den versprochenen Anmerkungen des Herrn Hemsterhuis gern einen angenehmen Zuwachs wünsche. Voritzt lassen wir diese Aehnlichkeit auf sich beruhen, und sehen die Grenzen, die Gott dem Verlangen unserer Seele gesetzt hat durch ihre Natur selbst.

     Wir sind einzelne Wesen, und müssen es seyn, wenn wir nicht den Grund alles Genusses, unser eigenes Bewußtseyn, über dem Genuß aufgeben, und uns selbst verliehren wollen, um [338] uns in einem andern Wesen, das doch nie wir selbst sind, wieder zu finden. Selbst wenn ich mich, wie es der Mysticismus will, in Gott verlöhre, und ich verlöhre mich in ihm, ohne weiteres Gefühl und Bewußtseyn meiner: so genösse Ich nicht mehr; die Gottheit hätte mich verschlungen, und genösse statt meiner. Wie gut hat es also die Vorsehung gemacht, daß sie das Saitenspiel unsrer Empfindungen nur nach und nach, in sehr verschiedenen Klängen und Arten wecket: daß sie unsere Sehnsucht jetzt auffodert, jetzt einschränkt, unser Verlangen hier thätig dort leidend übet, überall aber, auch nach dem süßesten Genuß, uns auf unser armes Ich zurückstößet, sagend gleichsam: „Du bist doch ein eingeschränktes, einzelnes Geschöpf! Du dürstest nach Vollkommenheit, aber du hast sie nicht! Verschmachte nicht am Brunnen dieses einzelnen Genusses, sondern raffe dich auf und strebe weiter.“ Lasset uns dieses in einigen auffallenden Proben und Beyspielen sehen.

[339]      Aller räuberische Genuß, der den Gegenstand verwüstet, ist uns blos als Bedürfniß von der Hand der Nothwendigkeit gegeben: er reibet sich selbst auf und erstirbt in sich. Der Mensch ist ein Tyrann des Weltalls; aber wie bald ist auch dieser kleine Tyrann, wenn er in den Grenzen der Natur bleiben will, vom Raube gesättigt! Jeder sinnliche Genuß ist eigentlich nur ein mildgemachtes Bedürfniß; wo die Zerstörung des Gegenseitigen aufhört, fängt erst ein freyerer, schönerer Genuß, ein fröhliches Nebeneinanderseyn vieler Geschöpfe an, die sich wechselseitig einander suchen und lieben. Ein Tyrann, der alles allein seyn, der alles verschlingen will, wie Saturn seine Kinder, ist weder zur Freundschaft, noch zur Liebe, selbst nicht einmal zur Vaterzärtlichkeit fähig. Er drückt und unterdrückt: neben ihm kann nichts wachsen, geschweige, daß es mit ihm zusammen wachse zu Einer gemeinschaftlichen Krone.

     Sobald mehrere Geschöpfe milde neben einander sind, und sich einander wechselseitig genießen [340] wollen: so folgt, daß keins auf den alleinigen, also auch nicht auf den höchsten Genuß ausgehn müsse, oder es zerstört um sich her. Es muß geben und nehmen, leiden und thun, an sich ziehn und sanft aus sich mittheilen. Dieß macht zwar allen Genuß unvollständig, es ist aber der wahre Takt und Pulsschlag des Lebens, die Modulation und Haushaltung des Verlangens, der Liebe und aller Süßigkeiten der Sehnsucht. Hier gebe ich die schöne Weisheit der Natur zu bemerken, die alles in diesen Pulsschlag leidender und thätiger, gebender und empfangender Wesen, auch nach Geschlechtern, Augenblicken, Zeitumständen, Lebensaltern, Situationen u. f. theilte, und gleichsam einwiegte. Wie dort Zwey Lichter am Himmel, so hat Gott auf der Erde Zwey Geschlechter geschaffen, die im Schwunge der Empfindungen sich einander das Gegengewicht leisten sollen. Eins ersetzt dem andern, was dem an Zartheit, diesem an Stärke abgeht, und im Reich der Liebe ist Zartheit mächtiger als Stärke. Die Schwachheit des Weibes [341] erstattete und umhüllete Gott mit Reizen. Wo er des Bedürfnisses wegen von den Regeln der Wohlgestalt abgehen mußte: da schlang er den Gürtel der Liebe um sie, begabt mit dem Verlangen, das, wie jene Göttin saget, alle Stärke überwindet. Auch in der Freundschaft ist ein Theil immer der thätige, der andre mehr beyhelfend und leidend: jener männlich, dieser weiblich; oft umgekehrt nach Geschlechtern. Einklang ist in dieser Ehe der Seelen weder angenehm noch nützlich, noch möglich. Consone Töne müssen es seyn, die die Melodie des Lebens und des Genusses geben, nicht unisone; sonst verliert sich die Freundschaft bald in bloße Gesellschaft.

     Auch das wird hieraus offenbar, daß die Anziehungskraft einer einzelnen menschlichen Seele sich ins Unendliche weder ausbreiten könne, noch ausbreiten dürfe. Die Natur hat schmale Grenzen um jedes Einzelne gezogen; und es ist der gefährlichste Traum, sich unumschränkt zu denken, wenn man eingeschränkt ist, sich Despot des Weltalls zu glauben, wenn man [342] von nichts als einzelnen Almosen lebet. Die ganze Schöpfung mit Liebe zu umfassen, klingt schön; aber vom Einzelnen, dem Nächsten, fängt man an: und wer dieß nicht tief, innig, ganz liebet: wie sollte er, was entfernt ist, was aus einem fremden Gestirn nur schwache Stralen auf ihn herabwirft, lieben können? – so, daß es auch nur den Namen der Liebe verdiente. Die allgemeinsten Kosmopoliten sind meistens die dürftigsten Bettler: sie, die das ganze Weltall mit Liebe umfassen, lieben meistens nichts, als ihr enges Selbst.

     Ich komme auf den Umstand, da Hr. H. die griechischen Staaten mit den unsern vergleicht [7] und der Christlichen Religion den Vorwurf zu machen scheint: daß sie durch gar zu viele Sorge fürs ewige Wohl des Individuum seine Anhänglichkeit ans flüchtige Wohl eines zeitlichen Staates mindere. Der Vorwurf schiene nur dann gegründet, wenn die Sorge für die Ewigkeit der [343] Sorge für die Zeit entgegengesetzt wäre, und ein glücklicher Staat anders als aus lauter glücklichen Individuen bestehen könnte. Das erste wird nur eine sehr übel verstandne Pfaffenreligion behaupten; im zweyten Fall kann ja das Individuum für nichts als seine Wohlfarth sorgen, und überläßts dem, der die Maschine (wie Hr. Hemsterhuis selbst einen Staat nennt) eingerichtet hat, oder aufzieht, wie Er fürs Ganze derselben zu sorgen Lust und Kraft habe. Daß die Gesetzgeber die christliche Religion fast von jeher gemißbraucht, und mit ihren barbarischen Feudal[8]- und Ritterverfassungen übel gemischt haben, ist in der ganzen christlichen Geschichte schreyend; daran hat aber die Religion nicht Schuld, sondern die groben Hände, die sie in diesen heterogenen politischen Teig kneten wollten. Religion ist, wie Hemsterhuis recht gesagt hat,[9] die freye Beziehung jedes Individuums aufs höchste Wesen; die ihr mit dem Namen einer politischen Maschine Ehre erzeigen [344] wollten, haben sie am meisten entstellt und erniedrigt.


     Doch wieder zu unserm Gegenstande! (denn auch bey Herrn Hemsterhuis war dieses nur Parenthese.) Die Natur fängt immer vom Einzelnen an; und nur, wenn sie die Neigungen desselben in seinem kleinen Kreise geordnet und befriedigt hat, kettet sie mehrere an einander, und ordnet ihre Empfindungen zur gemeinschaftlichen Glückseligkeit. Aus glücklichen Familien besteht das Wohl des Staats; oder seine Glückseligkeit ist eine Scheingröße. Nachdem in einem Menschen sinnliche und geistige Freuden, Freundschaft und Liebe, Vaterzärtlichkeit und eigne Tugend wohlgeordnet und wohlgepaart sind, nach dem ist er für sich und andre glücklich. Unmöglich kann er also wie Meeresschleim mit allem zusammenfließen: unmöglich alles in gleichem Grade lieben, loben und gutheißen, oder jeden Staub in einen Sonnenstrahl verwandeln wollen, damit er doch auch das Staubkorn als einen Sonnenstral [345] liebe. Er schadet damit dem Guten so sehr als dem Bösen, und verliehrt zuletzt ganz sein Urtheil und seinen Standpunkt. Wer nicht zurückstoßen kann, kann auch nicht anziehn: Beyde Kräfte sind nur Ein Pulsschlag der Seele.

     So sind wir in diesem Weltall; und wie gehts auf unsrer ewigen Reise weiter hinauf? Schwerlich anders. Nur auf unserm eignen Daseyn und Bewußtseyn ruht die Existenz andrer, so fern sie durch Liebe und Sehnsucht mit uns verknüpft sind; verlöhren wir jene, so hätten wir auch von diesen keinen Genuß mehr. Nothwendig wird unsre Existenz von Stufe zu Stufe immer freyer und wirkender werden: unser Genuß wird weniger verderben und zerstören: wir werden immer mehr Freuden schmecken lernen, indem wir geben und thun, als indem wir nehmen und leiden. Indessen scheint das gegenseitige Verhältniß nie ganz aufhören zu können, das die Summe dieses ganzen Glücks macht. Um zu geben, müssen immer Gegenstände seyn, die da nehmen; um zu thun, andre, für die man [346] thue; Freundschaft und Liebe sind nie möglich, als zwischen gegenseitigen freyen, consonen, aber nicht unisonen, geschweige identificirten Geschöpfen. Und was endlich den Genuß des höchsten Wesen anbetrift; o da bleibts immer „Hyperbel mit ihrer Asymptote,“ wie unser Autor sagt,[10] und muß es bleiben. Die Hyperbel nähert sich der Asymptote, aber sie erreicht sie nie: zu unsrer Seligkeit können wir nie den Begrif unsers Daseyns verliehren, und den unendlichen Begrif, daß wir Gott sind, erlangen. Wir bleiben immer Geschöpfe, wenn wir auch die Schöpfer großer Welten würden. Wir nahen uns der Vollkommenheit, unendlich vollkommen aber werden wir nie. Das höchste Gut, was Gott allen Geschöpfen geben konnte, war und bleibt eignes Daseyn, in welchem eben Er ihnen ist und von Stufe zu Stufe mehr seyn wird Alles in Allem.


  1. S. Hemsterhuis vermischte Philosophische Schriften, Leipzig 1782. Th. I. S. 71.
  2. Εν δε κοτω διαμορφα και ανδιχα παντα πελονται
    Συν δ’ εζη εν φιλοτητι και αλληλοισι ποθειται
    Εκ των γαρ παντ’ οσσ’ ην, οσσα τε εϛι και εϛαι
  3. Hemsterhuis vermischte Philosophische Schriften Th. I. S. 108.
  4. Dum semihulco suavio
    meam puellam suavior etc. Aul. Gell. 1. XIX c. IX.
    Siehe auch das vortrefliche Lydia puella candida, das dem Cornelius Gallus zugeschrieben wird, insonderheit in der letzten Strophe.
  5. Χρισας αφυκτον οιϛον ιμερω. Euripid.
  6. Hemsterhuis philos. Schriften, Th. I. S. 88.
  7. S. 96. 97.
  8. Vorlage: Fendal
  9. S. 112.
  10. S. 108.