Lebensbilder aus den russischen Steppen

Textdaten
<<< >>>
Autor: Friedrich Körner
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Lebensbilder aus den russischen Steppen
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 34, S. 458–460
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[458]
Lebensbilder aus den südrussischen Steppen.

Nach furchtbarem Kampfe weichen endlich die kalten Nord- und Ostwinde den warmen Lüften, welche vom schwarzen Meere herauf über jenes Plateau wehen, welches in einer Höhe von etwa 150 Fuß sich wagerecht im Süden Rußlands ausbreitet und als Steppenland den Unterlauf der großen Ströme und das Ufer des schwarzen Meeres umsäumt. Tagereisen weit deckt schimmernder Schnee die baumlose Ebene, deren ertödtendes Einerlei der Bodengestalt noch durch die Einfarbigkeit der Bedeckung bis zum Unerträglichen gesteigert wird. Der Schnee fängt an eine dunkle Farbe anzunehmen, an den Hängen der meilenbreiten Stromthäler und noch mehr an dem Rand enger Thäler und tiefer Regenschluchten wird hier und da schon ein Streifen Rasen schneefrei; heimlich sickern stille Wasserfäden an den gewölbartigen Bodenanschwellungen herab, die wie ein Wellenschlag die Ebene auf weite Strecke und kaum merkliche Weise um einige Fuß steigen und sinken machen, und in den 100–110 Fuß tiefen Regenschluchten fängt es an, unter der Schneedecke unheimlich zu rauschen. Denn die Schneewasser, welche von dem steilen Rande niederrinnen, sammeln sich auf dem Boden der Schlucht zu einem Bache, unterhöhlen die Schneemasse, von welcher die Schlucht ganz ausgefüllt ist, und da mit jedem Tage die Wassermenge zunimmt, da kalte Regen auch von oben herab den Schnee aufzehren, so verwandelt sich die Schneeschlucht sehr bald in das Bett eines schäumenden Baches, der brausend die Steppe und die sanfteren Thalgehänge hinabtobt. Da plätschert, rieselt, braust und schäumt es auf der ganzen Steppe, wo an jeder Bodensenkung Wasser hinabgleitet; in die Schluchten stürzen sich zahllose Cascaden, indem aus Acker- und Regenfurchen die kleinen Schneewässerchen in die Schlucht fallen, deren Erdwände auflösen, tief einschneiden und dem Schneewasser eine schmutzige Farbe verleihen. Am lautesten rauscht das Wasser im Hauptthale des Flusses, der über seine Ufer tritt, durch die unabsehbaren Schilfwaldungen braust, durch die Gestrüpp- und Baumgruppen der Ufereinfassung schäumt, die Wölfe zur Flucht zwingt und die zahllosen Enten, Gänse und Pelikane aus dem Schilfdickicht heraustreibt.

Kaum ist indeß ein Theil des Schneewassers abgelaufen, so stürzt der Nordwind mit furchtbaren Schneewettern vom Eismeer und dem Uralgebirge herab, bedeckt die Ebenen, stopft die Bachrinnen, daß die Wasser stocken und die Cascaden verstummen, bis der Südwind mit Regenschauern den Feind angreift, den Schnee verzehrt und die Wasserbäche wieder belebt. Bei diesem Wechsel der Witterung verwandelt sich der fette Boden der Steppe in einen Brei, welcher die Steppe selbst ungangbar macht. Ungeduldig schauen Pferde und Rinder über die Bretterwand des unbedeckten Schuppens, in welchem sie den Winter hungernd und frierend hinbringen, verlangend strecken sie den Kopf mit weitgeöffneten Nüstern empor, um die Frühlingslüfte aufzufangen; der Wolf und Steppenhund zittern vor Frost in ihrer Höhle und die Zieselmaus wagt sich noch nicht heraus aus ihrer unterirdischen Wohnung. Kläglich schreit die Dohle, welche beim Ausflug mühsam mit dem Sturme ringt; noch ist es still auf der Steppe wie im Flußthal, denn das Brüllen und Brausen der Bäche verschlingt jeden Thierlaut. Im Mai endlich behauptet der Frühling die Oberhand, Schnee und Regenwasser sind verschwunden und der Schlammboden verwandelt sich in wenig Tagen in ein unabsehbares Blumenfeld, denn frisches Gras, hohes krautartiges Gestrüpp wechseln mit meilenlangen Beeten von Crocus, Reseda, Tulpen, Hyacinthen, Königskerzen, Disteln, Wermuth, Steinklee, Knoblauch, Weißdorn- und Hollunderhecken, aus denen von Tagereise zu Tagereise auch einmal ein verkrüppelter wilder Birn- oder Apfelbaum seine blätterarmen Zweige erhebt. Jetzt liegt die Ebene überschaubar da mit ihren langen Strecken, aus denen nur hier und da ein Mongolen- oder Todtenhügel, eine Windmühle oder eine Gruppe hausartiger Heuschober oder ein Steppendorf mit seinen niedrigen Häusern emporragen. Weit schaut man über das Grasmeer von einer Bodenwelle bis zur andern, die sich als schwarzer Rand am fernen Horizont hinzieht; da bemerkt man nicht die vielgetheilten Schluchten, welche die Ebene in ein System von Würfeln und domartiger Kuppen zertheilen und den Reisenden oft zu weiten Umwegen zwingen.

So prachtvoll der blumenreiche Frühling auch als Gesammtbild auf der Steppe erscheint, so hat er doch im Einzelnen etwas sehr Ermüdendes. Denn die Blumen und Kräuter erscheinen nicht gemischt, sondern eine einzige Art bedeckt in endloser Wiederholung meilenweite Strecken, und außerdem sind die Pflanzen verwildert, schießen strunkartig hoch auf und verholzen. Ein paar Meilen weit sieht man nichts als Wermuth und Wermuth, wieder ein paar Meilnn nichts als Wicken, auf welche Königskerzen folgen oder Steinklee; eine Station lang sieht man nichts als hochhalmiges Seidenkraut mit seinen Millionen nickenden Seidenbüschel, eines Mittagsschlafslänge Salbei und Lavendel, einen Horizontkreis voll Tulpen, ein Resedabart von zwei Meilen im Umkreis, ganze Thäler voll Kümmel und Krausemünze, unbegrenzte Hügelgewölbe mit Windhexe und sechs Tagereisen mit frischem, kurzstieligem Gras. Ueppig schießen diese Gewächse in Strunk und Zweige, nur das Gras bleibt kurzhalmig. Die Distel erreicht Höhe und Gestalt eines Kirschbaumes und bildet große Gehölze, zwischen denen sich die Wohnungen der Kosaken verlieren und die dem Reisenden jede Umsicht verwehren, denn der Kopf der Windhexe wächst bis zu einem Umfange von 12 Fuß und zu einer Höhe von 3 Fuß an; Wermuth und Königskerze bilden mannshohe Gebüsche, die Schafgarbe wird 4–6 Fuß hoch, der Stamm des wilden Klee verholzt, daß er als Spazierstock kann gebraucht werden, Wolfsmilch, Kohlrüben, Pastinaken gedeihen so mächtig, daß man sie nur vom Pferde oder Wagen herab übersehen kann, und da sie lose und locker neben einander wachsen, bilden sie unwegsames Gestrüpp.

Zwischen diesen Kräuterwäldern breiten sich unabsehbare Strecken kurzer Grasweide aus; dort wächst das breite Schweins- oder Bärenöhrchen mit den dicken von sammetartigem Filz überzogenen Blättern, welche von den Steppenbewohnern als Charpie benutzt werden, wachsen zwischen Ringel- und Mohnblumen gelber Hederich, süße Honigblumen und duftiger Balsam, riechender Knoblauch und Sellerie, weißer Kümmel und aromatische Salbei, rothe Immortellen und Quendel, Krausemünze und Lavendel, Wicken und Steinklee, so daß die Steppe mit ihren massenweis bei einander stehenden Blumen einerlei Art in den Farben eines unabsehbar breiten Regenbogens schimmert. Nun verläßt der in Schafpelz gekleidete Steppenbewohner seine Winterwohnung, die er halb in die Erde grub, freut sich des mattblauen Himmels, an welchem Gewitter blitzen und donnern, aber nur selten Regen geben, labt sich an der Blüthe des Schlehdorns, der in klafterhohen Hecken neben seiner Hütte zu stehen pflegt und seinem Hausgeflügel als Zuflucht gegen Habicht und Falken dient, schneidet sich vom Birnbaum den Peitschenstiel, wenn er mit schnellem Gespann die Steppe durchjagen will, bestreut mit duftendem Gras den Fußboden seiner Wohnung, schmückt mit ihm Spiegel und Wagen, bereitet sich aus Steppengewächsen die würzige Kräutersuppe, steckt dem Pferd einen Blumenbüschel hinter’s Ohr, hängt aromatische Pflanzen in Bündeln an der Zimmerdecke auf, nagelt ein Balsambouquet über die Thür, bekränzt mit Gras und Blumen die Heiligenbilder, befestigt rings an Wand und Hausgeräth kreuzweis Lavendel- und Balsamsträußchen, von denen er von Zeit zu Zeit einige Zweige abrupft, um sie zu kauen. Das Steppengras ist ja sein Erhalter und Ernährer, da es seine Heerde weidet, und bunte Steppenblumen flechtet seine Tochter sich täglich in’s dunkle Haar. Er hat ja nur die Steppe, die ihm alle Bedürfnisse befriedigen muß, von der ihm Alles lieb und werth ist. Der Birnbaum und der Mongolenhügel sind seine Wegweiser, an beide knüpfen sich seine Erinnerungen und Sagen, der Schlehdorn gibt ihm Blüthen und Früchte, gibt ihm den Stachel zum Ochsenstecken und die Zinken zu jener Egge, mit welcher er die Heuschrecken zerfleischt und zerstückelt, den Schlehdorn besingt er im Liede, das Steppengras feiert er im schwermüthigen Gesange; der Steppe verdankt er den Reichthum seiner Sprache, seine Beschäftigungen, seine Poesie, seine Existenz. An ihr Leben, an ihre Veränderungen knüpft er sein Leben, sein Denken und Dichten; mit Steppengras feiert er sein Pfingsten, seine Heiligthümer.

Mit dem Frühlinge erwacht auf der Steppe aber auch ein reiches Thierleben, welches sich hier in Freiheit entwickelt und tummelt, denn wenn auch des Morgens und Abends graue Nebel aus den feuchten Schluchten aufsteigen, so bleibt die Steppe [459] selbst voll ungetrübten Sonnenscheins, weben und spielen schimmernde Lichtwellen um die Krautblätter, fließen in zitterndem Wogenschlage über die grünen Grasebenen und reichen als duftiger Streifen weit hinaus über den Rand ferner Bodenhebungen. Jetzt huschen zierliche Erdhäschen durch das Krautgestrüpp, spielen und tändeln mit einander im Sonnenschein, jagen sich durch ihre Löcher in den Hängen der Thäler, die sie meilenweit unterhöhlt haben, lassen hier und dort ihr melancholisches Zirpen vernehmen, richten sich neugierig empor, wenn sie einen Menschen erblicken, fliehen, richten sich langsam von Neuem auf und schlüpfen behend in ihr Erdloch, wenn sie Gefahr sehen. Klagend wiegt sich der Kiebitz in Schwärmen über den Weiden, jagen silberweiße Falken; weiden auf kahlen Strichen Trappenhorden, die der listige Kosack nicht selten beschleicht, kreisen Adler in den Lüften, fliegen Geier nach gefallenen Steppenthieren, schreit der Wiedehopf, speist das Birkhuhn Wurzeln und Larven, ziehen Schwärme von wilden Tauben rauschend hin und wieder, denen Habicht und blutrothe Falken folgen, schleicht der Wolf den Heerden nach, wandert die numidische Jungfrau bedächtig durch das Gras, als ob sie die beiden Federlocken hinter dem Ohre zu verletzen und ihren Schwanenhals anzustrengen fürchte. Während die graugelbe Lerche in den Lüften schwebend singt, die Biene summend die Blumenfelder durchirrt, das Heimchen an sandiger Stelle zirpt und der Kiebitz wehklagt, tönt Tag und Nacht der schaurige Unkenruf aus allen feuchten Thälern, wimmelt es auf lockern Flächen von Kröten, in feuchten Niederungen von buntschillernden Eidechsen, in den Flußthälern von Schlangen. In den Flüssen grünen die meilenlangen und meilenbreiten Rohrwaldungen, zwischen denen sich die schmalen Wasserfäden der Flüsse hindurchwinden, und in dem Schilf lärmt und zwitschert es von Zeisigen, Staaren, Stieglitzen, schlägt die Drossel und die Nachtigall, schreit die Dohle, wimmert die Eule, schnattern zahllose Gänse und Enten, tummeln sich Pelikane in Heerden von mehreren Hunderten, heult der Wolf, schleicht die verwilderte Katze und der zottige mordgierige Steppenhund, über sie schießt der milchblaue Falke und schreckt die lärmende Gesellschaft in das Schilfdickicht, wohin es mit großem Geschrei flüchtet.

Kaum sprießt das junge Gras aus dem reichlich getränkten Boden, so verlassen auch die abgemagerten Steppenheerden die Winterschuppen, in denen sie die Winternächte und stürmischen Wintertage verbrachten. Mit ungeduldigem Getrampel erwartet die Roßheerde, die oft gegen 1000 Stück zählt, die freie Weide auf der offnen Steppe. Wiehernd und den Boden stampfend geht es hinaus auf die unabsehbaren Grasflächen. Wie trefflich mundet das junge Gras, wie wächst da den abgemagerten Rossen der Muth, wie toben sie bald in wilden Sprüngen auf und nieder, daß sie der Roßhirt mit der langen Peitsche kaum zusammen halten kann! Unstät umreitet er die Heerde und muß deshalb oft das Reitpferd wechseln, denn bald hat er weit abirrende Pferde heranzuholen, bald die Hengste auseinander zu bringen, wenn sie mit Gebiß und Vorderfuß schnaubend und schreiend um die Oberherrschaft und Rangordnung in der Heerde kämpfen. Noch mühevoller ist sein Amt des Nachts oder bei Sturmwetter, vor welchem die Heerde zuweilen in wilder Flucht auseinander stiebt. Der wettergebräunte, langbärtige Hirt verwildert bei seinen Pferden; Hitze, Kälte, Regenguß und Sturm muß er ertragen, denn sein haariger Lederwams und Lederbeinkleid, sein grauwollner Mantel mit der Kapuze schützen ihn nur nothdürftig. Sieh, wie trotzig er zu Roß sitzt, seine hohe Gestalt noch durch die hohe Mütze aus Lämmerfell vergrößert und mit dem dunkel blitzenden Auge die Heerde überschauend! Küche, Zelt, Kleiderschrank und Waffen trägt er stets bei sich, denn am Sattel hängt der lange Fangriemen und die Keule mit dem Eisenknopf, am Leibgurt das Wasserfaß, Tabaksbeutel, seine Arzneikästchen, der Brotsack und allerlei Schmucksachen; auf dem Roß schläft er und ißt er. Nur zuweilen besucht er nach einem scharfen Nachtritt einen Steppenkrug oder hält mit seinen Genossen auf einem Mongolenhügel eine Zusammenkunft, um mit ihnen einige Stunden zu verplaudern, Verabredungen zu treffen oder zu würfeln.

Die Sommermonate hindurch durchstreift der Roßhirt mit seiner Heerde die Steppe, langsamer durchzieht sie der Schafhirt, der von den Hunden, Gehülfen und dem Ochsenwagen mit Lebensmitteln und Pelzen erlegter Wölfe begleitet, die langöhrigen Thiere mit dem Fettschwanze oder Merinos von Weideplatz zu Weideplatz treibt, sie mit dem langen Hakenstock in Ordnung hält und Nachts mit den Wachen der Hunde und Gehülfen umstellt, damit der Wolf nicht eindringt. Des Abends melkt er die milchgebenden Schafmütter, während ein Gehülfe das Mahl bereitet und durch den lauten Schlag an den Kessel die Genossen zu Tische ruft. Auf andern Triften weidet der Rinderhirt seine hochbeinigen silbergrauen Rinder, die ihm zwar manche Ruhestunde erlauben, wenn sie wiederkäuend auf der Steppe rasten, aber ihm durch ihren Eigensinn und ihre Ungeduld manche Noth machen.

Kaum zwei Monate dauern diese Frühlingsfreuden, denn die Sonne brennt mit jedem Tage heißer hernieder und so oft sich auch Gewitterwolken sammeln, so läßt sie die aufsteigende Hitze doch nie in Regen sich entladen, sondern treibt sie sturmschnell nach dem Meere, wo das Wetter losbricht. Die Gräser wenden trocken, die Thiere müssen mühevoller nach frischerem Gras suchen, liegen während der Tageshitze am Boden oder stehen dicht gedrängt neben einander, um sich gegenseitig Schatten zu machen, indem sie durch Hin- und Herschaukeln des Kopfes sich Kühlung zu verschaffen suchen. Plötzlich brechen Streitigkeiten aus, wenn ein Thier das andre gestoßen hat, die ganze Heerde geräth in Aufruhr, den die Peitsche nur mit Mühe beschwichtigt. In der Dämmerung aber leuchten die gelbglänzenden Augen des Wolfes aus dem Steppengrase, in welches er sich geduckt hat, um ein von der Heerde abkommendes Thier zu überfallen, ihm mit einem Sprunge am Halse zu sitzen und mit einem Ruck die Gurgel auszureißen, daß es zappelnd zu Boden stürzt. Doch der wachsame Hengst hat den Feind bemerkt, er schnaubt pfeifend durch die Nüstern, stürmt auf den Feind ein, die ganze Heerde folgt ihm in geschlossener Kolonne, und der Wolf muß froh sein, wenn er den Wüthenden noch entrinnen kann. Sehr häufig werden die Heerden durch Wölfe allarmirt, zuweilen kommt es aber auch zu erbitterten Zweikämpfen, wenn zwei Roßheerden sich begegnen; denn sofort springen die Hengste vor, um sich zum Kampfe herauszufordern.

Ehe jedoch das Gras ganz abwelkt, bietet die Steppe noch ein andres Lebensbild; denn die menschenarme Steppe füllt sich plötzlich mit jubelnden, singenden Menschen. Sieh, von der Ukraine wie aus den Städten der Meeresküste jagen Leiterwagen voll Männer und Weiber in wildem Fluge durch die Steppe, daß der schwarze Staub in langen Wolken emporwirbelt. Es ist die Zeit der Heuernte, in welcher man viel rüstiger Hände bedarf, weshalb von allen Seiten her Arbeiter gedungen und in die Steppe geschafft werden. Von früh bis Abend klingt die Wiese nun wieder vom Gesang der Weiber, vom Rauschen des fallenden Grases und vom Gehämmer des Sensenschärfens, und des Abends sammeln sich malerische Gruppen um das dünne Kochfeuer. Männer schärfen Sensen, Andre ruhen in den Pelz gewickelt, Frauen und Mädchen singen und schwatzen, in der Ferne aber sieht man den hochbeladenen Heuwagen nach dem Platze fahren, wie die Heuschober nach Art der Häuser reihenweise aufgebaut und die Schoberdörfer mit Wall und Graben umgeben werden. Nicht minder lebhaft ist’s im Schilfwald geworden, da mit Schilf ein großer Handel getrieben wird, weil es als Hausdach und Hauswand dient, als Gartenzaun und Brennmaterial benutzt wird. Ganze Regimenter sendet die Krone zum Schilfschneiden, ganze Städte und Dörfer wandern aus; da werden Wege durch Sumpf und Fluß mittelst der Schilfbündel gebaut, da rauscht es von Sensenhieben, vom Jubel der Arbeiter, da schwirrt es von aufgescheuchten Enten, Gänsen und Pelikanen, da giebt es mitunter ein Wolftreiben, oder einen Jagdfang, bis nach wenigen Wochen der Erntejubel auf der Steppe und am Fluß verstummt, die Menschen verschwinden und den Heerden wie dem Wild freien Raum gewähren. Schweigend liegt die Steppe in der Sonnenglut; aus den Regenschluchten steigt ein glühendheißer Luftstrom, weite Risse klaffen auf am steinharten Boden, das Gras verdorrt. Teiche und Brunnen verdunsten, das Vieh magert ab und erträgt mit Ungeduld Hitze und Durst in schattenloser Steppe. Unaufhaltsam trabt die sonst so langsame Heerde dem Tränkplatz zu und tritt regelmäßige gradlinige Pfade aus; am Brunnen des Dorfes steht sogar eine Schutzwache. Schwarzer Staub steigt bei jedem Schritte empor und mehrt die Qualen der Hitze; das Gras zerfällt mürbe in Asche, die Luftspiegelung zeigt ihre trügerischen Wasser- und Baumlandschaften, träge liegen die Heerden den Tag über in der Sonne, verlieren den Appetit und die Lebenslust. Erst mit Anfang des Septembers [460] kühlt sich die Luft ab, Nachtthau und mitunter ein Regen erquicken die Pflanzen, die von Neuem grünen, die Heerden werden munterer, der Uebermuth der Steppenwildheit erwacht wieder in ihnen, und bald tönt die Steppe wieder vom Hufschlag flüchtiger Roßheerden, vom Brüllen und Blöken der Rinder und Merinos, vom Kläffen der Hunde, vom langgezogenen eintönigen Zuruf der Hirten, mit welchen sie sich und die Heerde leiten, von Vogelgeschrei, Thierkämpfen und Jagdlärm der Kosaken.

Doch die Tage werden kürzer, die kalten Nächte länger, und das freie Steppenleben geht zur Neige. Langsam treibt der Roßhirt seine schwer zu bändigende Heerde nach der Dreschtenne oder dem Roßmarkt, der Rinder- und Schafhirt die seinige nach dem Schlachthause. Sieh, dort ist der Dreschplatz von Leinen, Pfählen und Planken eingefaßt, sein Boden mit tausend Garben bedeckt. Der Hirt hält die Heerde beisammen, die scheuen Thiere drängen und stoßen einander, steigen empor, kreischen und schlagen aufeinander. Aber alle Gegenwehr ist vergeblich, die Hälfte der Heerde muß in die Tenne. Wild stürzt sie hinein, daß die Garben hoch auffliegen und die ausgetretenen Körner knisternd umherfliegen. Dadurch werden die Thiere noch scheuer, springen in tollen Sätzen die Tenne auf und nieder, indem sie einen Ausweg suchen, bis sie von Schweiß triefend herausgelassen werden, und die andre Hälfte der Heerde die Arbeit des Austretens vollenden muß. Aehnlich ergeht es den Rossen auf dem Markte, in dessen Umzäunung sie sich drängen und tummeln, während der Hirt mit der Schlinge dieses und jenes fängt, es durch einen Ruck zu Boden wirft und dem Käufer überliefert, der es zähmt. Viel ernster wird der Herbstschluß für die fetten Rinder und Schafe. Sobald diese in die Nähe der weiten Schlachthöfe gekommen sind, aus denen ihnen der faule Blutgeruch entgegen weht, sträuben sie sich, wollen nicht weiter, brüllen und stöhnen, und können nur durch List und Gewalt abtheilungsweise in den Hof gebracht werden. Hier befällt sie Zagen und Zittern, sie verschmähen das dargebotene Futter, hängen den Kopf in banger Todesangst und müssen mit Gewalt in den großen Schlachtsaal getrieben werden, wo ihnen die rohen Schlachtknechte mit schwerer Axt das Rückgrath zerschmettern, daß die Thiere unter unsäglichen Schmerzen verenden. Bis an die Knöchel waden die Schlächter mit den Stulpstiefeln in Blut, auf dem Hofe sammeln sich Blutlachen, schleppen Hunde, Geier, Raben, Seemöven sich mit Eingeweiden und Fleischresten umher und raucht es in den Talgsiedereien Tag und Nacht.

Aehnliche Schrecknisse erlebt das Wild der Steppe, denn der Herbst bringt die Steppenbrände, die absichtlich und unabsichtlich angelegt werden. Meilenweit ist die Steppe ein Feuermeer, welches den nächtlichen Himmel röthet. Knisternd und fußhoch züngelnd schreitet der Brand vor, hier schnell über dichtes Gras laufend, dort langsamer am holzigen Gestrüpp zehrend oder von einer Schlucht oder einem Wege aufgehalten. Funken fliegen empor, dort knistert die dürre Königskerze wie eine Rakete, hier zischt der seine Büschel des Seidenkrautes, und ein schwüler Gluthauch weht von der Flamme herüber. Da fliehen Wolf und Hund, Vogel und Amphibie, da stürzen Heerden in wildem Jagen davon und müssen sich oft durch einen kühnen Lauf durch’s Feuer retten. Noch grauenhafter wird der Brand, wenn ein Schilfwald brennt und ein Feuerstrom knisternd und prasselnd das Thal herabzieht. Wie schwirren da die Vogelschaaren schreiend empor, kommen Wölfe aus dem Dickicht geschossen und stürzt mancher fliehende Pelikan oder Hänfling in das Feuer! Nach dem Brande erscheinen endlich die Winterstürme und fegen die Steppe rein. Sie brechen das dürre Schilf, knicken der Windhexe den Kopf ab und treiben ihn hupfend wie einen Federball über die Steppe, bis er in ganzen Wolken in’s Meer fällt. Bald sinkt auch Schnee nieder und deckt die Steppe zu, so daß sich die Heerden ihr karges Futter unter dem Schnee hervorscharren müssen. Jetzt treibt sie der Hirt in die Umzäunung des Winterschuppens, der nur zum kleinsten Theil bedeckt ist. Frierend und hungernd drängen sich die Thiere an einander, um sich zu erwärmen, doch manches erliegt dem Klima und dem Mangel. Auf der Steppe aber treiben die rasenden Schneestürme ihr wildes Spiel, welches Denen Verderben bringt, die von ihnen überfallen werden.

Bei heiterem Himmel bricht der Schneesturm heulend herein und ras’t gewöhnlich drei Tage. Er hebt den lockern Schnee vom Boden auf, wirbelt ihn durcheinander und sendet dann zugleich aus schweren Wolken ein furchtbares Schneewetter herab, daß Erde und Himmel in wirbelnde Schneewogen aufgelöst scheinen. Da kann man kein Auge öffnen, keine Richtung finden, sondern wird vom Sturm willenlos fortgetrieben. Werden Heerden von ihm auf der Steppe überfallen, so sind sie fast immer verloren. Die Pferde stürzen wild auseinander, rennen unaufhaltsam davon, bis sie in eine Schneeschlucht fallen oder athemlos niederstürzen. Die Schafe drängen sich zu einem Keile zusammen und fliehen vor dem Winde her, die Rinder werden unruhig und laufen weg. Da giebt es kein Halten, denn der Hirt selbst kann sich kaum aufrecht erhalten und muß dem Sturm folgen. Wenn nicht der Zufall ihn und die Heerde rettet, so wird er mit ihr bis in’n Meer oder ein Flußthal getrieben und, wenn er vorher ermattet, vom Schnee begraben. Wolf, Hund und Geier finden im Frühjahr in allen Schluchten daher reiche Beute; denn die Kirgisen verloren z. B. 1827 durch einen solchen Sturm 1 Mill. Schafe, 280,000 Pferde, 30,000 Rinder und 10,000 Kameele. Drei bis vier Monate beherrscht der Winter die Steppe; die Heerden magern ab und fressen einander oft die Haare ab; die schwachen Thiere erliegen, die Steppe ist unzugänglich, leblos wie ein Todtengewölbe und harrt des kommenden Frühjahrs. Diese Steppe ist aber auch der sicherste Schutz des Landes gegen das Eindringen der Feinde, die wegen Mangel und bei der Unwegsamkeit stets ihren Untergang finden müssen. Nur mit großen Verlusten kann ein Heer sie in Eilmärschen durchziehen, denn selbst die Handelsleute durchreisen sie nur in kleinen Gesellschaften und unter großen Entbehrungen und Mühseligkeiten.
Fr. Körner.