Landgericht Mannheim - Freiburger Anthologie
Landgericht Mannheim, Urteil vom 23. Januar 2004 - Aktenzeichen: 7 O 262/03 (nicht rechtskräftig) (Freiburger Anthologie)
[196] Zum Sachverhalt:
Die Kl. nehmen die Bekl. wegen Verletzung urheberrechtlicher Berechtigungen an Gedichtsammlungen in Anspruch. Der Kl. zu 2 ist ordentlicher Professor an der Kl. zu 1, der Universität Freiburg. Er leitet das Projekt „Klassikerwortschatz“, das zur Veröffentlichung der so genannten „Freiburger Anthologie“ geführt hat, einer Gedichtsammlung, die 1138 Gedichte aus der Zeit zwischen 1720 bis 1900 und 167 Gedichte aus der Zeit zwischen 1900 und 1933 enthält.
Diese Sammlung ist dadurch entstanden, dass zunächst aus ca. 3000 Anthologien 14 ausgewählt wurden, die die eigentliche Datengrundlage bilden sollten; hinzu kam eine bibliographische Zusammenstellung aus 50 deutschsprachigen Anthologien von Anneliese Dühmert unter dem Titel „Von wem ist das Gedicht?“.
Aus diesen 15 Werken, die etwa 20000 Gedichte enthalten, wurden Gedichte nach einem statistischen Verfahren ausgewählt: Übernommen wurden diejenigen, die in mindestens drei Anthologien aufgeführt sind oder die in der bibliographischen Sammlung mindestens drei Mal erwähnt sind. Dazu wurden die Gedichte unter Vereinheitlichung der in den verschiedenen Anthologien verwendeten, teilweise abweichenden Titel oder Anfangszeilen in eine Gedichttitelliste eingetragen, die anschließend ausgewertet wurde. Schließlich wurden die Gedichte durch bibliographische Recherche in den jeweiligen Werkausgaben nachgewiesen und ihr Entstehungsdatum ermittelt. Diese Arbeiten verursachten Kosten in Höhe von insgesamt 34900 Euro, die von der Kl. zu 1 getragen wurden.
Seit 1999 sind die Gedichte aus der Zeit von 1720 bis 1900, die zur so entstandenen „Freiburger Anthologie“ gehören, im Internet unter „www.freiburger-anthologie.de“ veröffentlicht. Dort können Gedichte nach Titel/Anfangszeile oder nach Autoren gesucht und aufgerufen werden; auch eine spezielle Suchfunktion über bestimmte Kriterien und eine Volltextsuche stehen zur Verfügung. Bereits zuvor war das Ergebnis der statistischen Auswertung der 15 Sammlungen auf „www.klassikerwortschatz.uni-freiburg.de/Lyrik.htm“ unter der Überschrift „Die 1100 wichtigsten Gedichte der deutschen Literatur zwischen 1730 und 1900“ veröffentlicht worden. Dort sind - nach einer einleitenden Erklärung - die Gedichte nach der Anzahl der Zitate geordnet in einer Liste zusammengestellt, die regelmäßig Autor, Titel, Anfangszeile und Erscheinungsdatum jedes Gedichts enthält.
Die Bekl. veröffentlicht im Rahmen einer „Digitalen Bibliothek“ Zusammenstellungen von Grundlagentexten, Textanthologien, Handbücher und Bildsammlungen in elektronischer Form. Teil dieses Programms ist die CD-ROM „1000 Gedichte, die jeder haben muss“, die 2002 in der Reihe „Bildung, die jeder haben muss“ erschienen ist. Von den 1000 auf der CD-ROM enthaltenen Gedichten stammen 876 aus der Zeit zwischen 1720 und 1900; 856 von ihnen stimmen mit Gedichten überein, die in der „Freiburger Anthologie“ und im Lyrikkorpus des „Klassikerwortschatzes“ vorkommen. Bei der Zusammenstellung dieser Gedichte hat sich die Bekl. an der Gedichtsliste des Klassikerwortschatzes orientiert. Soweit die auf der CD-ROM enthaltenen Gedichte dagegen aus der Zeit zwischen 1900 und 1933 stammen, ist die Übereinstimmung mit der (insoweit nicht veröffentlichten) „Freiburger Anthologie“ deutlich geringer. Die Gedichttexte sind dem bei der Bekl. in der „Digitalen Bibliothek“ vorhandenen Material entnommen.
Die Kl sind der Auffassung, die CD-ROM verletze sowohl die Urheberrechte des Kl. zu 2 an den beiden Gedichtssammlungen als auch die Rechte der Kl. zu 1 als Berechtigte an der Datenbank LG Mannheim: Urheberrechte an einer Gedichtsammlung [197] (§§ 87aff. UrhG). Beide seien als Sammel- und Datenbankwerke zu Gunsten des Kl. zu 2 geschützt, der die 14 Anthologien und die Monographie von Dühmert ausgewählt und die für die Auswahl maßgeblichen Kriterien entwickelt habe. Die Kl. zu 1 habe die für die Realisierung der Sammlungen erforderlichen Investitionen getätigt und sei damit nach § 87aff. UrhG an ihnen berechtigt. Dass knapp 98% der Gedichte, die aus der Zeit von 1720 bis 1900 stammten und auf der CD-ROM der Bekl. enthalten seien, auch in den veröffentlichten Sammlungen der Kl. aus jenem Zeitraum enthalten seien, belege die Übernahme der Auswahl durch die Bekl. Dass die Bekl. nicht nur - wie von ihr eingeräumt - den Lyrikkorpus des „Klassikerwortschatzes“, sondern auch die „Freiburger Anthologie“ ausgewertet habe, zeigten einzelne Beispiele, die - auch im Lichte des sonstigen Grades an Übereinstimmung - nicht auf Zufall beruhen könnten.
Die Kl. haben beantragt:
1. Die Bekl. wird verurteilt, es bei Vermeidung der gesetzlichen Ordnungsmittel zu unterlassen, die CD-ROM mit dem Titel „1000 Gedichte, die jeder haben muss“ (ISBN-Nr. 3-932544-93-5) zu vervielfältigen und/oder zu verbreiten.
2. Die Bekl. wird verurteilt, über die Handlungen nach Nr. 1 Auskunft zu erteilen durch Angabe der Anzahl der hergestellten Vervielfältigungsstücke und durch Vorlage eines zeitlich geordneten Verzeichnisses der Liefermengen, Lieferpreise sowie Namen und Adressen der Abnehmer der Gedichtsammlung nach Nr. 1, sowie Rechnung zu legen über die dabei erzielten Gewinne unter Angabe der Herstellungskosten der Gedichtsammlung nach Nr. 1.
3. Die Bekl. wird verurteilt, die noch in ihrem Besitz befindlichen Vervielfältigungsstücke der Gedichtsammlung nach Nr. 1 einem von der Kl. zu beauftragenden Gerichtsvollzieher zum Zwecke der Vernichtung herauszugeben.
4. Es wird festgestellt, dass die Bekl. verpflichtet ist, den Kl. zur gesamten Hand sämtlichen Schaden zu ersetzen, der ihnen durch die in Nr. 1 beschriebenen Handlungen entstanden ist oder noch entsteht.
Die Klage hatte Erfolg.
Aus den Gründen:
1. Die Gedichtliste des Projekts „Klassikerwortschatz“, die die Bekl. unstreitig zur Erstellung der auf der CD-ROM enthaltenen Gedichtsammlung herangezogen hat, stellt ein urheberrechtlich geschütztes Sammel- und Datenbankwerk dar.
Die Gedichtliste ist eine Sammlung von Werken (Gedichten), die auf Grund der Auswahl und Anordnung dieser Werke eine persönliche geistige Schöpfung ist, und damit ein Sammelwerk i.S. des § 4 I UrhG. Die hiernach erforderliche Individualität der Auswahl und Anordnung (vgl. Schricker/Loewenheim, UrheberR, 2. Aufl., § 4 Rdnr. 8) liegt in der Anwendung des vom Kl. zu 2 entwickelten mehrstufigen, im zweiten Schritt rein statistischen Verfahrens. Der Ansatz, nach einer Auswahl von 15 maßgeblichen Sammlungen (14 Anthologien und die Monographie von Dühmert) die Auswahl auf Grund rein statistischer Kriterien, nämlich der Anzahl der Nennungen, zu treffen, ist keineswegs selbstverständlich und geht über das bloß Handwerklich-Mechanische hinaus. Das Besondere liegt dabei darin, dass sich der Ersteller der Sammlung nach der Auswahl der 15 Ausgangswerke im eigenen literaturwissenschaftlichen Urteil sozusagen „zurücknimmt“ und die Anzahl der Nennungen in diesen Ausgangswerken entscheiden lässt. Dies gilt unabhängig davon, nach welchen - hier nicht im Einzelnen erläuterten - Kriterien die Ausgangswerke ihrerseits ausgewählt wurden. Es sind zahllose andere Kriterien der Auswahl von Gedichten aus den Ausgangswerken denkbar - Rezeptionsgeschichte, „Bedeutung“ des Gedichts u.v.m. -, die zu einer völlig abweichenden Sammlung führen würden. Die Entscheidung für das statistische Kriterium zur Auswahl aus den 15 Ausgangswerken begründet somit eine zumindest für die auch hier schutzfähige „kleine Münze“ (vgl. Schricker/Loewenheim, § 4 Rdnr. 8) ausreichende Individualität der Gedichtswahl. Dasselbe gilt sinngemäß - ohne dass es hier entscheidend darauf ankäme - für die Anordnung der Gedichte nach der Anzahl der Nennungen.
Die Vervielfältigung und Verbreitung der angegriffenen CD-ROM verletzt die Rechte des Kl. zu 2 an dem genannten Sammelwerk. Der Kl. zu 2 hat die persönliche geistige Schöpfung durch Auswahl und Anordnung des Materials der Gedichtliste erbracht. Das Gedichtmaterial auf der CD-ROM stimmt für den vom Projekt „Klassikerwortschatz“ abgedeckten Zeitraum (1730-1900) in einem sehr hohen Maße mit den in der Gedichtliste aufgeführten Gedichten überein, nämlich über 90%; dieser als Mindestwert angenommene Prozentsatz trägt dem Umstand Rechnung, dass die „Freiburger Anthologie“, bei der eine Übereinstimmung von annähernd 98% unstreitig feststeht, nach dem eigenen Vortrag der Bekl. mit der Gedichtliste des „Klassikerwortschatzes“ zwar weitestgehend, aber nicht vollständig übereinstimmt.
Aber auch bei einer Übereinstimmung von „nur“ 90% hat die Bekl. die Auswahl, die der Gedichtliste den Werkcharakter gibt, übernommen; die Auslassung einzelner Gedichte, die in der „Digitalen Bibliothek“ der Bekl. nicht vorhanden waren, führt aus dem Schutzbereich, der für das Sammelwerk besteht, nicht hinaus. Die Kammer ist auch unter Ausschluss vernünftiger Zweifel davon überzeugt, dass es sich bei der angegriffenen Sammlung auf der CD-ROM nicht etwa um eine Doppelschöpfung handelt. Die Gedichtliste des Klassikerwortschatzes lag der Bekl. bei der Erstellung ihrer Sammlung unstreitig vor; der enorm hohe Grad der Übereinstimmung beider Sammlungen ist nur durch die Übernahme der vom Kl. getroffenen Auswahl zu erklären.
Der Umstand, dass die Bekl. die einzelnen Gedichttexte ihrem eigenen, in der „Digitalen Bibliothek“ vorhandenen Textmaterial entnommen hat, ist insoweit ohne Belang. Abgesehen davon, dass die überwiegende Mehrzahl der „Klassikergedichte“ ohnehin keinem Urheberrechtsschutz mehr unterliegen, berührt das Urheberrecht an den einzelnen Werken des Sammelwerks nicht die Berechtigung am Sammelwerk selbst, wie sich bereits aus dem Wortlaut von § 4 I UrhG ergibt („unbeschadet …“; vgl. Schricker/Loewenheim, § 4 Rdnr. 23).
Auf die Frage, ob und inwieweit auch ein Eingriff in die Rechte des Kl. zu 2 an der „Freiburger Anthologie“ vorliegt, kommt es danach nicht mehr an.
Die Gedichtliste des „Klassikerwortschatzes“ stellt darüber hinaus eine Datenbank i.S. der §§ 87aff. UrhG dar, an der die Kl. zu 1, die unstreitig die insoweit erforderlichen erheblichen Investitionen für die Zusammenstellung übernommen hat, nach § 87a II UrhG berechtigt ist.
Die Gedichtliste des „Klassikerwortschatzes“ stellt eine Sammlung von Daten dar, die systematisch und methodisch angeordnet sind und einzeln mit Hilfe elektronischer Mittel zugänglich sind. In der Gedichtliste sind die einzelnen Gedichttitel, wie dargestellt, nach der Anzahl der Nennungen in den Ausgangswerken, bei gleicher Anzahl alphabetisch nach Autoren geordnet. Über diese Kriterien sind sie auch elektronisch - nämlich über die Links (z.B. „23 Gedichte mit neun Nennungen“) am Anfang der Seite - und „in anderer Weise“ (alphabetische Suche) zugänglich. Weitergehende Anforderungen sind an den Begriff der Datenbank i.S. des § 87a UrhG nicht zu stellen; insbesondere sind elektronische Suchfunktionen etc. nicht erforderlich (vgl. etwa für Telefonbücher BGH, GRUR 1999, 923 [925] = NJW 1998, 2898 - Tele-Info-CD; vgl. auch OLG Köln, GRUR-RR 2001, 292 L = MMR 2001, 165f.). Auch ist nicht erforderlich, dass die Gedichttexte abrufbar sind; es genügt vielmehr, dass die aufbereiteten Daten (hier Gedichttitel mit Autor, Anfangszeile und Entstehungsdatum) in der genannten Weise zugänglich sind.
4. Durch Herstellung und Vertrieb der angegriffenen CD-ROM greift die Bekl. in die Rechte der Kl. zu 1 als Datenbankherstellerin ein. Nach § 87b UrhG hat der Datenbankhersteller das ausschließliche Recht, die Datenbank insgesamt oder einen nach Art und Umfang wesentlichen Teil der Datenbank zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich wiederzugeben. Die angegriffene CD-ROM enthält zumindest wesentliche Teile der von der Kl. zu 1 finanzierten Datenbank; der weitaus überwiegende Anteil der im Rahmen des „Klassikerwortschatzes“ zusammengestellten Gedichttitel findet sich auf der CD-ROM der Bekl. Entgegen der Rechtsauffassung der Bekl. ist eine körperliche Vervielfältigung LG Mannheim: Urheberrechte an einer Gedichtsammlung [198] oder Verbreitung der Datenbank, also z.B. das unmittelbare elektronische Kopieren eines Datenbestandes, für die Verletzung nicht erforderlich. Auf die Art der Vervielfältigungstechnik kommt es nicht an (vgl. Schricker/Vogel, § 87b Rdnr. 12); auch nicht darauf, ob das Medium, in dem die Datenbank gespeichert oder abgebildet ist, dasselbe bleibt. So hat der BGH das Einscannen von Telefonbüchern unproblematisch als Vervielfältigung einer Datenbank angesehen (BGH, GRUR 1999, 923 [925] = NJW 1998, 2898 - Tele-Info-CD). Auch der Umstand, dass die Bekl. beim Zusammenstellen der angegriffenen CD-ROM eigene Leistungen erbracht hat (z.B. eigene Recherche von Erscheinungsdaten), schließt nach der genannten Rechtsprechung die Verletzung der Rechte des Datenbankherstellers nicht aus. Entscheidend ist, dass die geschützte Leistung, hier die mit erheblichem Aufwand erreichte Zusammenstellung der Gedichte, von der Bekl. fast vollständig übernommen worden ist.
6. Damit ergeben sich die erkannten Unterlassungsansprüche zu Gunsten der Kl. zu 1 aus §§ 87a, 87b, 97 I UrhG, zu Gunsten des Kl. zu 2 aus §§ 4 I, 97 I UrhG. Da die Bekl. schuldhaft handelte, haben die Kl. auch Anspruch auf Schadensersatz nach den genannten Vorschriften. Die Verpflichtung zur Auskunft und Rechnungslegung folgt aus gewohnheitsrechtlicher Anwendung von § 242 BGB, denn ohne die geforderte Auskunft, deren Erteilung der Bekl. zuzumuten ist, wären die Kl. nicht in der Lage, ihren Schadensersatzanspruch zu berechnen. Der Anspruch auf Vernichtung rechtsverletzender Gegenstände beruht für beide Kl. auf § 98 I UrhG.
Anmerkungen (Wikisource)
Der Rechtsstreit betrifft die Freiburger Anthologie und das Projekt Klassikerwortschatz, geleitet von Professor Dr. Ulrich Knoop (Universität Freiburg im Breisgau), und die Directmedia Publishing GmbH mit ihrer Digitalen Bibliothek.
Das Oberlandesgericht Karlsruhe bestätigte mit Urteil vom 28. Juli 2004 (Az: 6 U 37/04) das Urteil des Landgerichts.
Mit dem Teilurteil Gedichttitelliste I (Az.: I ZR 130/04 - PDF) am 24. Mai 2007 bestätigte der Bundesgerichtshof die Ausführungen des Oberlandesgerichts zum Urheberrechtsschutz nach § 4 UrhG. Hinsichtlich der Entnahme aus einer geschützten Datenbank nach den §§ 87a ff. erließ er mit Gedichttitelliste II am gleichen Tag (gleiches Aktenzeichen I ZR 130/04 - PDF) einen Vorlagebeschluss an den Europäischen Gerichtshof.