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EINLEITUNG: SINN UND ENTSTEHUNGSGRUNDLAGEN DER KREUZESWISSENSCHAFT


Im September oder Oktober 1568 hielt der junge Karmelit Johannes de Yepez, mit dem Ordensnamen bisher Johannes vom hl. Matthias, Einzug in dem armseligen Häuschen von Durvelo, in dem er als Grund- und Eckstein die teresianische Reform beginnen sollte. Am 28. November verpflichtete er sich mit zwei Gefährten zur Beobachtung der ursprünglichen Regel und nahm den Adelstitel vom Kreuz an. Das war das Sinnbild dessen, was er suchte, als er sein Heimatkloster verließ und sich damit öffentlich von dessen gemilderter Observanz lossagte; was er dort schon angestrebt hatte, indem er mit persönlicher Erlaubnis nach der ursprünglichen Regel lebte. Es war zugleich darin ein wesentliches Kennzeichen der Reform ausgesprochen: Nachfolge Christi auf dem Wege des Kreuzes, Anteil am Kreuz Christi sollte das Leben der Unbeschuhten Karmeliten sein.

Wie eben bemerkt wurde, war Johannes damals kein Neuling in der Kreuzeswissenschaft. Der Adelstitel im Orden deutet an, daß Gott die Seele im Zeichen eines besonderen Geheimnisses mit sich verbinden will. Johannes zeigte durch seine Namensänderung, daß über seinem Leben als Wahrzeichen das Kreuz stand. Wenn wir von Kreuzeswissenschaft sprechen, so ist das nicht im üblichen Sinn von Wissenschaft zu verstehen: sie ist keine bloße Theorie, d.h. kein reiner Zusammenhang von – wirklich oder vermeintlich – wahren Sätzen, kein in gesetzmäßigen Denkschritten aufgeführtes ideales Gebäude. Sie ist wohlerkannte Wahrheit – eine Theologie des Kreuzes –, aber lebendige, wirkliche und wirksame Wahrheit: einem Samenkorn gleich wird sie in die Seele gesenkt, schlägt darin Wurzeln und wächst, gibt der Seele ein bestimmtes Gepräge und bestimmt sie in ihrem Tun und Lassen, sodaß sie aus diesem Tun und Lassen hervorstrahlt und erkennbar wird. In diesem Sinn spricht man von einer Wissenschaft der Heiligen und sprechen wir von [4] Kreuzeswissenschaft. Dieser lebendigen Form und Kraft im tiefsten Innern entspringt auch die Lebensauffassung, das Gottes- und Weltbild des Menschen, und so kann sie Ausdruck finden in einem Gedankenbilde, einer Theorie. Einen solchen Niederschlag haben wir in der Lehre unseres hl. Vaters Johannes vor uns. In seinen Schriften und in seinem Leben wollen wir nach dem suchen, was ihre Einheit und Eigenart bestimmt. Zuvor fragen wir, wie überhaupt eine Wissenschaft in dem soeben umschriebenen Sinne sich bilden kann.

Es gibt natürlich erkennbare Zeichen, die darauf hinweisen, daß die menschliche Natur, wie sie tatsächlich ist, sich in einem Zustand der Entartung befindet. Dazu gehört die Unfähigkeit, Tatbestände entsprechend ihrem wahren Wert innerlich aufzunehmen und zu beantworten. Diese Unfähigkeit kann in einem angeborenen Stumpfsinn (wörtlich verstanden) begründet sein oder in einer allgemeinen Abstumpfung, die sich im Laufe des Lebens herausgebildet hat; schließlich in einer Abstumpfung bestimmten Eindrücken gegenüber infolge häufiger Wiederholung. Was oft gehört wurde, was altbekannt ist, das „läßt uns kalt“. Dazu kommt überdies noch vielfach ein übermäßiges inneres Inanspruchgenommensein durch eigenpersönliche Belange, das für anderes unzugänglich macht. Wir empfinden unsere eigene innere Unbeweglichkeit als unsachgemäß und leiden darunter. Daß sie einem psychologischen Gesetz entspricht, hilft uns nicht darüber hinweg. Wir fühlen uns andererseits beglückt, wenn wir uns durch die Erfahrung überzeugen, daß wir noch zu tiefer, echter Freude fähig sind; und auch der tiefe, echte Schmerz ist uns wie eine Gnade im Verhältnis zur Starrheit des Nichtempfindenkönnens. Die Abgestumpftheit ist uns besonders schmerzlich auf religiösem Gebiet. Viele Gläubige fühlen sich bedrückt dadurch, daß die Tatsachen der Heilsgeschichte durchaus nicht (oder nicht mehr) den Eindruck auf sie machen, der ihnen gebührt, und sich in ihrem Leben nicht, wie sie sollten, als formende Kraft auswirken. Das Beispiel der Heiligen zeigt ihnen, wie es eigentlich sein müßte: wo wahrhaft lebendiger Glaube ist, da sind die Glaubenslehren und die „Großtaten“ Gottes der Inhalt des Lebens, alles andere tritt dagegen zurück und wird von ihnen aus gestaltet. Das ist heilige Sachlichkeit: die ursprüngliche innere Empfänglichkeit der aus dem Heiligen Geist wiedergeborenen Seele; was an sie herantritt, das nimmt sie in der angemessenen Weise und in der entsprechenden Tiefe auf; und es findet in ihr eine durch keine verkehrten Hemmungen und Erstarrungen behinderte, lebendige, bewegliche und formungsbereite Kraft, die sich durch das Aufgenommene leicht und freudig prägen und leiten läßt. Nimmt die [5] Kraft einer heiligen Seele in dieser Weise die Glaubenswahrheiten auf, so wird sie zur Wissenschaft der Heiligen. Wird das Geheimnis vom Kreuz ihre innere Form, dann wird sie zur Kreuzeswissenschaft.

Eine gewisse Verwandtschaft mit der heiligen Sachlichkeit hat die Sachlichkeit des Kindes, das noch mit ungeschwächter Kraft und Lebendigkeit und mit hemmungsfreier Unbefangenheit Eindrücke empfängt und beantwortet. Allerdings wird natürlicherweise die Antwort keineswegs immer die vernunftgemäße sein. Dazu mangelt noch die Reife der Einsicht. Außerdem fehlt es, sobald die Erkenntnis in Tätigkeit tritt, auch nicht an inneren und äußeren Quellen des Irrtums und der Täuschung, die in verkehrte Bahnen lenken. Entsprechende Umweltseinflüsse können vorbeugend wirken. Die Kindesseele ist weich und bildsam. Was in sie eindringt, kann leicht fürs ganze Leben formgebend sein. Wenn die Tatsachen der Heilsgeschichte schon in früher Kindheit und in geeigneter Form an die Seele herantreten, so kann dadurch leicht die Grundlage für ein heiliges Leben gelegt werden. Bisweilen treffen wir auch auf eine frühe außerordentliche Gnadenerwählung, so daß kindliche und heilige Sachlichkeit sich verbinden. So wird von der hl. Brigitta berichtet, sie habe im Alter von 10 Jahren zum erstenmal vom Leiden und Sterben Jesu gehört; in der Nacht darauf sei ihr der Heiland am Kreuz erschienen; seitdem habe sie niemals das Leiden des Herrn betrachten können, ohne Tränen zu vergießen.

Bei Johannes ist noch ein drittes in Betracht zu ziehen: er war eine Künstlernatur. Unter den verschiedenen Handwerken und Künsten, in denen sich der Knabe versuchte, waren die des Bildschnitzers und Malers. Wir haben aus späterer Zeit noch Zeichnungen von ihm. (Allgemein bekannt ist eine Skizze des Aufstieges zum Berge Karmel.) Er hat als Prior in Granada den Musterbau eines beschaulichen Klosters geschaffen. Und er war ebensosehr Dichter wie bildender Künstler. Es war ihm Bedürfnis, in Liedern auszusprechen, was in seiner Seele geschah. Seine mystischen Schriften sind nur nachträgliche Erklärungen des unmittelbaren dichterischen Ausdruckes. So haben wir bei ihm auch noch mit der eigentümlichen Sachlichkeit des Künstlers zu rechnen. In der ungebrochenen Kraft der Eindrucksfähigkeit ist der Künstler dem Kinde und dem Heiligen verwandt. Aber – im Gegensatz zur heiligen Sachlichkeit – ist es eine Eindrucksfähigkeit, die die Welt im Licht eines bestimmten Wertbereiches – und leicht auf Kosten anderer – sieht. Dem entspricht eine eigentümliche Art des antwortenden Verhaltens. Es ist dem Künstler eigen, daß das, was ihn innerlich berührt, sich in [6] ihm zum Bild gestaltet und auch von ihm nach außen gestaltet zu werden verlangt. Bild ist hier nicht auf den Bereich des Anschaulichen und der bildenden Kunst beschränkt; es ist jegliches künstlerische Gebilde darunter zu verstehen, auch das dichterische und musikalische. Es ist zugleich Bild, in dem etwas zur Darstellung kommt, und Gebilde als ein Gebildetes und in sich Geschlossenes, zu einer eigenen kleinen Welt gerundetes. Jedes echte Kunstwerk ist überdies Sinnbild, gleichgültig ob es das nach der Absicht des Künstlers sein soll oder nicht, ob er Naturalist oder Symbolist ist. Sinnbild, d.h. es ist aus der unendlichen Fülle des Sinnes, in die jede menschliche Erkenntnis vorstößt, etwas darin erfaßt und ausgesprochen und spricht daraus; und zwar so, daß die gesamte Sinnfülle, die für alle menschliche Erkenntnis unerschöpflich ist, geheimnisvoll darin anklingt. So verstanden ist alle echte Kunst Offenbarung und alles künstlerische Schaffen heiliger Dienst. Dennoch bleibt es wahr, daß in der künstlerischen Veranlagung eine Gefahr liegt, und nicht nur dann, wenn der Künstler für die Heiligkeit seiner Aufgabe kein Verständnis hat. Es ist die Gefahr, daß er es beim Gestalten des Bildes bewenden läßt, als ob es für ihn keine anderen Forderungen gäbe. Was gemeint ist, läßt sich gerade am Beispiel des Kreuzbildes besonders deutlich zeigen. Es wird kaum einen gläubigen Künstler geben, der sich nicht gedrängt fühlte, einen Christus am Kreuz oder den Kreuztragenden zu gestalten. Aber der Gekreuzigte verlangt auch vom Künstler mehr als ein solches Bild. Er fordert von ihm wie von jedem Menschen die Nachfolge: daß er sich selbst zum Bild des Kreuztragenden und Gekreuzigten gestalte und gestalten lasse. Das Gestalten nach außen kann ein Hindernis für die Selbstgestaltung sein, muß es aber durchaus nicht sein; es kann sogar der Selbstgestaltung dienen, weil das innere Bild selbst erst mit der Gestaltung des äußeren völlig ausgeformt und innerlich angeeignet wird; damit wird es, wenn kein Hindernis in den Weg tritt, zur inneren Form, die zur Auswirkung im Tun, d.h. auf den Weg der Nachfolge drängt. Ja, auch das äußere Bild, das selbstgeschaffene, kann immer erneut als Ansporn zur Selbstgestaltung in seinem Sinne dienen. Wir haben allen Grund anzunehmen, daß es bei Johannes so gewesen ist: daß sich bei ihm kindliche, künstlerische und heilige Sachlichkeit verbanden und der Kreuzesbotschaft den günstigsten Boden bereiteten, um sie zur Kreuzeswissenschaft heranwachsen zu lassen. Daß die Künstlernatur sich schon im Kindesalter offenbarte, ist schon erwähnt worden. Es fehlt auch nicht an Zeugnissen, die für eine frühe Auserwählung zur Heiligkeit sprechen. Seine Mutter hat später den Unbeschuhten Karmelitinnen von Medina [7] del Campo erzählt, ihr Sohn habe sich als Kind wie ein Engel betragen. Diese fromme Mutter hat ihm eine innige Liebe zur Gottesmutter eingeprägt, und es wird uns aus guten Quellen berichtet, daß der Knabe zweimal durch Marias persönliches Eingreifen vom Tode des Ertrinkens gerettet wurde. Auch sonst weist alles, was wir aus seiner Kindheit und Jugend wissen, darauf hin, daß er von den ersten Lebensjahren an ein Kind der Gnade war.



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