Kleinstes Wildpret in der Schweiz
[15] Kleinstes Wildpret in der Schweiz. In einem Lande, wie die Schweiz, wo schon die Formation des Bodens und die landwirthschaftlichen Verhältnisse dem Wildstande ungünstig sind und zudem die Waidlust eine sehr verbreitete ist – fast jeder Schweizer ist ja Schütze – kann von großem Wildreichthume keine Rede sein. Wenn wir die Hochjagd ausnehmen, mit der sich fast nur die berufsmäßigen Gemsjäger im Hochgebirge befassen, wird dem schweizerischen Nimrod wenig geboten, und die Zeit dürfte nicht mehr so fern sein, wo der Hase ebenso spurlos verschwindet, wie der Steinbock auf unsern Alpen ausgerottet ist. Ein Wildpret aber, freilich der kleinsten Art, ist in der Schweiz noch im Ueberfluß vorhanden, wird im Herbste in Kesseljagden erbeutet, in Wildgärten gezogen und bildet selbst einen ziemlich schwunghaften Exportartikel: die Weinbergschnecke.
Dieses kleine Schalthier war schon den Römern als feiner Leckerbissen bekannt und wurde von ihnen so geschätzt, daß sie eigene Mastanstalten für dasselbe errichteten. Der große Eiweißgehalt dieser Schneckenart macht sie zu einem sehr nahrhaften Gerichte, und in früheren Zeiten wurde die sogenannte „Schneckenbrühe“ bei allen möglichen Schwächezuständen, namentlich in der Schwindsucht, viel von den Aerzten verordnet. Als eigentliches Nahrungsmittel wird dagegen dies Thier nur in katholischen Ländern an Fasttagen verspeist. Der katholische Ritus, der in dieser Beziehung weniger streng ist, als der griechische, erlaubt nämlich an den Fasttagen den Genuß des Fleisches der kaltblütigen Thiere, der Fische, Frösche und Schnecken, und auch dasjenige der Fischotter, weil sie sich selbst ausschließlich von kaltblütigen Thieren ernährt (!).
Da nun zu den alle Wochen wiederkehrenden Fasttagen (Freitag und Samstag) im Winter, namentlich vom Sonntag Oculi bis Ostern, noch viele außerordentliche Tage des Fleischverbotes kommen, so hat die Weinbergschnecke in solchen Ländern eine hohe religiös-culinarische Bedeutung, ganz besonders aber in den Klöstern, wo der Sinn für die Freuden der Tafel von jeher sehr ausgebildet war. Namentlich sind es die Väter Capuziner, welche die Jagd, Zucht und Zubereitung der Schnecken zu ihrer Specialität machen. Gleich den Austern werden die Schnecken nur in den Monaten mit R verspeist. Das Einsammeln geschieht im Herbst und das eigentliche Jagdterrain sind die Gebirge von zwei- bis viertausend Fuß Höhe. Das Kloster sendet im August und September täglich einige Laienbrüder mit Quersäcken aus, die als Oberjägermeister den Fang leiten und als Treiber die liebe Schuljugend aus den Gebirgsdörfern requiriren. Vorzüglich geeignete Jagdtage sind solche nach warmem Regen, der die Thiere aus ihren Schlupfwinkeln herauslockt. Für die liebe Schuljugend sind solche Gebirgstouren Festtage; wie viel angenehmer dies Waidwerk, als das Einmaleins in der dumpfigen Schulstube, der kleinen Geschenke gar nicht zu gedenken, die ihnen die frommen Väter jedesmal zurücklassen. So ist denn jedesmal ein großes Halloh in den Dorfschulen, wenn der Schnecken-Heerbann erlassen wird, und der Auszug des lärmenden jungen Volkes mit [16] Körben und Stöcken, die bärtigen Mönche im Nachtrab, die schöne Herbstbeleuchtung über die Gebirgslandschaften ausgegossen, wären ein prächtiges Motiv für einen Genremaler. Die Thiere werden so täglich zu Tausenden gesammelt, und schwerbeladen kehren die frommen Väter Abends in’s Kloster zurück und liefern ihren Schatz dem „Schneckengarten“ ab, wo die Thiere gemästet werden. Es ist dies ein großes Gartenbeet, welches mit etwa vier Fuß hohen Brettern eingefriedet ist; an der innern Seite der Bretter ist nebstdem eine kleine Mauer von Sägespähnen errichtet, damit die Thiere nicht herauskriechen können. In diesem Gelaß nun liegen die Schnecken zu Tausenden übereinander und werden täglich mehrere Male gefüttert.
Unglaublich ist die Gefräßigkeit, die in diesen Wildgehegen herrscht; die größten Körbe voll Salat und Kohl sind im Nu verschwunden, und so klein auch die Kinnladen der Thierchen sind – die Schnelligkeit, mit der sie in Thätigkeit versetzt werden, und die große Zahl der Fresser verursachen ein Geräusch, das man schon auf einige Schritte Entfernung hört und welches Ähnlichkeit mit dem Knabbern der Kaninchen hat. Sobald die ersten Fröste vor der Thür stehen, deckeln sich die Schnecken ein, d. h. sie verschließen ihr Gehäuse mit einer Klappe von kohlensaurem Kalk, hinter welcher sie in der klösterlichen Stille den Winterschlaf des Gerechten begehen. Damit ist denn auch der Augenblick gekommen, wo die Schnecken aus dem Paradiese der Schneckengärten verstoßen und in die Keller gebracht werden, in welchen sie, gleich den Cocons, auf Hürden ausgebreitet und zum Verspeisen je nach Bedarf heraufgeholt werden. Die Zubereitung ist sehr complicirt und jedes Kloster hat seine eigenen Recepte und Kräutermischungen. Immerhin aber besteht die erste Operation darin, daß sie sammt dem Deckel bei lebendigem Leibe (zur Strafe für Fraß und Völlerei) gesotten werden, bei welchem Anlasse sie ein halb singendes, halb zischendes Geräusch von sich geben. Die Dichter lassen, trotz aller Einsprache der Naturwissenschaften, den Schwan mit Singen verenden – die Schnecke ist doch auch nicht von schlechten Eltern, singt aber umsonst: kein Poet hat sie noch verherrlicht!
Neben den Klöstern befassen sich auch noch einzelne Privaten mit dem Schneckenfang gewerbsmäßig und treiben mit diesen Thieren einen ziemlich bedeutenden Exporthandel, namentlich nach Italien, und wiederum sind die Klöster die Hauptabnehmer. Das interessante Thier macht oft recht große Reisen, bis nach Süditalien; da es aber nur im Stadium des Winterschlafes versendet werden kann, reist es so ziemlich wie die Mehrzahl britischer Touristen – ohne Nutzen und ohne Vergnügen. Dieser Exporthandel hat seinen Sitz namentlich in der Ostschweiz, den Cantonen St. Gallen, Graubünden und Glarus. Die Thiere werden in starken Fässern mit festen eisernen Reifen versandt, was seinen guten Grund hat. Wenn sie nämlich über die Alpenpässe hinüber und in das Land gelangt sind, wo „ein sanfter Wind vom blauen Himmel weht“, so entstehen in den Herzen der Gefangenen Frühlingsahnungen; geht die Reise langsam, bleiben sie längere Zeit in südlichen Lagerhäusern liegen, so sprengen sie ihre Deckel und der Freiheitsdrang erwacht. Wohl ist eine einzelne Schnecke schwach, aber Eintracht macht bekanntlich stark, und so ist es denn, namentlich in den voreisenbahnlichen Zeiten, nicht selten vorgekommen, daß feste Fässer von den aufrührerischen Burschen gesprengt wurden und eine Völkerwanderung von „Sclaven, die die Kette gebrochen“, sich über die italienischen Lande ergoß.
Zum Schlusse noch eine culturhistorische Bemerkung: Die Schweiz ist eines der religiös-tolerantesten Länder und von dem Geiste, der einst die Religionskriege hervorgerufen, sind keine Spuren mehr vorhanden. Aber Eines ist positiv: die Protestanten essen keine Schnecken und bekennen einen ausgesprochenen Widerwillen gegen den Genuß dieses „unreinen Thieres“!