Kinderheilstätten an den deutschen Seeküsten (Die Gartenlaube 1882/8)

Textdaten
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Titel: Kinderheilstätten an den deutschen Seeküsten
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aus: Die Gartenlaube, Heft 8, S. 127–128
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Kinderheilstätten an den deutschen Seeküsten.

Es ist in Deutschland wenig bekannt, welch hohen Werth unsere Nachbarnationen auf ihre Nordseebäder legen, mit welcher Rücksicht auf möglichsten Comfort diese Stationen gepflegt werden und einer wie großen Frequenz sich dieselben erfreuen. Die belgischen und holländischen Hauptstationen Ostende, Blankenberghe und Scheveningen haben in der begüterten deutschen Welt zahlreiche Verehrer. Aber ein Leben und Treiben, wie es sich in den Spätherbstmonaten an der englischen Küste in Brighton, Hastings und St. Leonards, Scarborough und anderen Orten entwickelt, findet man dort noch nicht, und von dem Werthe, welchen englische Familien einem Aufenthalte aus der Insel Wight, in Ryde, Sandown, Shanklin, Bonchurch, Ventnor und anderen Orten beimessen, hat man bei uns zu Lande kaum eine Ahnung.

Noch weniger ist in Deutschland bekannt, wie viel Dankenswerthes an den Seeküsten unserer Nachbarnationen für unbemittelte Kranke geschehen ist. Auf Grund der sicheren und weitverbreiteten Kenntniß von der unschätzbaren Heilkraft der Nordseeluft und des Nordseebades hat man überall an den Seeküsten Hospize geschaffen, welche alljährlich Hunderten die Gesundheit wiedergeben oder schwere Leiden erträglich machen. Mustergültig steht das schon im Jahre 1796 gegründete „National Hospital for the scrophulous poor of all England“ (Nationalhospiz für unbemittelte Scrophulöse von ganz England) in Margate da, mustergültig das Hospital für Schwindsüchtige in Ventnor. Für nicht weniger als drei Millionen Franken ist ferner an der französischen Nordküste in Berck-sur-mer ein Hospital für sechshundert Kranke errichtet, und in Scheveningen bietet die Sophia-Stiftung hundert Kranken Raum, während für Ostende eine halbe Million Franken zur Errichtung eines Kinderasyls und einer Kindercolonie disponibel geworden ist. Im Dänemark besteht ein Kinderhospiz in Refsnäes, und in Italien sind an den verschiedene Küsten gegenwärtig schon zweiundzwanzig Kinderhospize errichtet, nachdem der Segen des ersten derselben, welches im Jahre 1856 von Dr. Barellai in Viareggio gegründet wurde, zu immer neuen Nachahmungen aufforderte. Ein einziges derselben, das man in jüngster Zeit am Lido in Venedig erbaute, zählt allein hundert Betten; es wurde mit einem Kostenaufwande von 170,000 Lire hergestellt und dieser ganze Betrag fast ausschließlich von Privaten, Gemeinden, öffentlichen Instituten, Banken etc. aufgebracht.

Was bieten dagegen unsere deutsche Küsten? Kaum ein einziger Ort an der Nordseeküste hat Einrichtungen aufzuweisen, welche den Aufenthalt an demselben anziehend machen könnten, und unter den vielen deutschen Nordsee-Inseln beginnt auf Norderney, Borkum und Föhr erst eben eine Periode des Aufschwungs. Das Meer ist so reich an Schönheit, an gewaltigen Eindrücken, an heilender Kraft, daß man dafür gern einmal eine Zeit lang andere Naturschönheiten[WS 1] oder einigen häuslichen Comfort entbehrt. Die Oede der Dünen und Dünenthäler wird aufgewogen durch einen Strand, welcher uns täglich mit neuer Wonne erfüllt. Aber es ist nicht abzusehen, weshalb die Wohnungen auf unseren deutschen Inseln und an den Küsten so mangelhaft sein müssen, wie sie es der Mehrzahl nach noch sind. In dieser Beziehung wird durch eine gesunde Speculation noch Vieles besser werden müssen, und wenn die Regierungen es gleichzeitig übernehmen, durch Herstellung gemeinnütziger Einrichtungen nicht nur für die Sicherheit der Inseln selbst, sondern auch für die Annehmlichkeit des großen Verkehrs zu sorgen, so werden zahlreiche deutsche Familien nicht mehr Ostende, Blankenberghe und Scheveningen oder die englische Küste aufsuchen, sondern den deutschen Nordseegestaden zueilen und den Wohlstand dieser Inseln fördern.

Noch weniger als für die wohlhabenden Gesellschaftsclassen ist aber für die unbemittelte Welt an den Seeküsten Deutschlands geschehen. Für diese sind kaum die erste Anfänge gemacht. Auf Norderney existirt seit vier Jahren eine Diakonissen-Pflege-Anstalt für scrophulöse Kinder mit vierundzwanzig Betten, und besteht der Vorstand aus dem Grafen zu Inn- und Knyphausen, dem Ortsprediger Roedenbaek und dem Kaufmann Raß. Ein Arzt ist nicht in den Vorstand aufgenommen. Es sind bis dahin weder ärztliche, noch andere Berichte über die Anstalt erschienen, und man weiß deshalb auch nicht, welcher Art die Krankheitszustände der verpflegten Kinder und welches die Resultate des Aufenthalts derselben in der Anstalt waren.

Eine zweite Anstalt ist seit 1880 von der Flensburger Diakonissenanstalt in Wyck auf Föhr in’s Leben gerufen worden. Dieselbe wurde zunächst in einem gemietheten Locale etablirt und steht unter der ärztlichen Leitung des Comitémitgliedes Dr. Gerber in Wyck, doch auch von ihr sind bisher weder ärztliche noch andere Berichte veröffentlicht worden. In Groß-Müritz an der Ostsee sind in einem Hôtel drei Zimmer mit im Ganzen acht Betten unter ärztlicher Leitung hergestellt, und in Colberg besteht seit einem Jahre ein Institut, das sich „Christliches Curhospital und Heilanstalt für scrophulöse Kinder“ nennt und dreißig Betten für Unbemittelte aufweist; die Direktion dieser Anstalt führt der Geheimrath Dr. von Bünau.

Weitere Hospize an den deutschen Seeküsten existiren, so weit bekannt, nicht. Also: in der einen Anstalt Englands in Margate dreihundertfünfzig, in Berck-sur-mer sechshundert, in Scheveningen hundert, in den Hospizen Italiens gegen achthundert Betten für unbemittelte oder wenig bemittelte Kranke, an der ganzen Nord- und Ostseeküste Deutschlands kaum achtzig Betten!

Es ist nur zu begreiflich, daß sich angesichts dieser Verhältnisse endlich auch in Deutschland eine Bewegung entwickeln mußte, welche sich die Hebung des an den Seeküsten liegenden Heilschatzes in größerem Umfange, als es bisher geschehen ist, sowohl für Bemittelte wie für Unbemittelte zum Ziel steckt. Handelt es sich doch darum, ein Heilmittel zur vollen Anerkennung zu bringen, über dessen Wirkungen gerade in Deutschland auch die ersten wissenschaftlichen Untersuchungen vorgenommen wurden, während in den benachbarten Ländern fast ausschließlich die Resultate der praktischen Erfahrung das Urtheil sprechen.

Auf der Versammlung in Berlin im April 1880 wurde zunächst vom Geheimen Medicinalrath Professor Beneke aus Marburg der Antrag gestellt, daß die Section für Kinderheilkunde es sich zur Aufgabe machen möge, an der deutschen Nordseeküste ähnliche Kinderheilstätten [128] in’s Leben zu rufen, wie sie in allen Nachbarstaaten in Blüthe stehen. Es wurde dabei hervorgehoben, wie verhältnißmäßig wenig in Deutschland die Heilkraft der Nordseeluft und des Nordseebades in ihrer vollen Bedeutung erkannt werde und wie doch durch die große Anzahl der Nordsee-Inseln die reichste Gelegenheit gegeben sei, diese Heilkraft zu verwerten. Der gestellte Antrag fand einstimmige Unterstützung, und es wurde sofort eine Commission gewählt, welche die Ausführung des Planes in nähere Erwägung ziehen sollte. Mitglieder dieser Commission waren die Herren Geheimer Medicinalrath Beneke, Sanitätsrath Dr. Fromm, erster Bade-Arzt auf Norderney, Professor Ewald, Professor Liebreich und Dr. Zuelzer in Berlin, sowie Professor Mosler in Greifswald. Die Commission erweiterte sich dann alsbald zu einem „Comité zur Errichtung von Kinderheilstätten an der Nordsee“, das die Namen der hervorragendsten Aerzte und akademischen Lehrer Deutschlands in sich vereinigte. Dieses Comité erweiterte sich noch im Jahre 1880 durch den Hinzutritt einer Anzahl angesehenster Männer aus den verschiedensten Berufskreisen zu einem aus fünfundsiebenzig Mitgliedern bestehenden Gründungscomité, welches am 3. April 1881 seine erste Generalversammlung in Berlin hielt.

Die Aufgabe, welche sich das Comité gestellt hatte, galt, dem ursprünglichen Antrage entsprechend, zunächst nur der Errichtung von Kinderheilstätten an den Küsten der Nordsee. Aber schon im September 1880 ging ein von einundvierzig Aerzten der baltischen Provinzen unterzeichneter Antrag bei dem Comité ein, die Ostseeküsten in den entworfenen Plan mit aufzunehmen und auch für diese die Errichtung von Kinderhospizen in’s Auge zu fassen.

Obwohl die Aufgabe des ursprünglichen Comités damit eine erheblich größere und schwierigere wurde, beschloß die Generalversammlung vom 3. April 1881 dennoch, den Antrag der baltischen Aerzte anzunehmen, und es constituirte sich nunmehr das Comité zu einem „Verein für Kinderheilstätten an den deutschen Seeküsten“ unter Feststellung eines Statuts und Einsetzung eines für das Jahr 1881 bis 1882 geschäftsführenden Vorstandes, bestehend aus Geheimen Medicinalrath Professor Beneke in Marburg, Professor Dr. Ewald in Berlin (Königgrätzerstraße 125) und Bankdirector Thorade in Oldenburg.

Seit fast einem Jahre ist dieser Verein nun in Thätigkeit, und in einem Aufruf hat sich derselbe zunächst an die weitesten Kreise Deutschlands mit dem Ersuchen gewandt, sein im reinsten nationalen Interesse begonnenes Unternehmen durch Geldbeiträge zu unterstützen. Der Verein will für keinen einzelnen Ort, für keine einzelne Provinz, für kein einzelnes Bundesland, sondern für das ganze Deutschland arbeiten, um alljährlich Hunderten von schwächlichen, scrophulösen oder zur Schwindsucht disponirten Kindern und jugendlichen Personen die Heilkraft der deutschen Seeküsten zu erschließen.

Freilich eine große, sehr große Aufgabe! Aber unter dem Beistande der ganzen Nation ist dieselbe dennoch bald zu lösen, und der Segen, welchen die zu gründenden Hospize über die deutsche Jugend verbreiten werden, wird dann in weiten Kreisen Anerkennung finden. Mit leuchtendem Beispiele ist in der Unterstützung der Vereinsbestrebungen die deutsche Kaiserin vorangegangen, und der deutsche Kronprinz und die Kronprinzessin haben das Protectorat über den Verein übernommen, der sich die Errichtung von Hospizen auf Norderney, in Wyck auf Föhr, in Groß-Müritz und in Zoppot als nächste Ausgabe gestellt hat; in zweiter Reihe werden Borkum und Sylt an der Nordsee und ein dritter noch nicht näher bestimmter Platz an der Ostsee folgen.

Für Norderney ist das größte aller Hospize bestimmt, weil Zugänglichkeit der Insel, Vorhandensein ärztlicher Kräfte, leichte Möglichkeit der Beschaffung aller Bedürfnisse etc. derselben den ersten Platz einräumen. Man beabsichtigt aus Norderney ein Hospiz für zweihundertundfünfzig Betten zu errichten, welches einen Kostenaufwand von circa 350,000 Mark erfordern wird. In der Voraussicht, daß diese Aufgabe erst im Laufe einiger Jahre gelöst werden kann, ist auf Norderney zunächst ein provisorisches Hospiz mit dreißig Betten eingerichtet, und dieses wird bereits gegen Ende Mai dieses Jahres zur Aufnahme von Kindern und jugendlichen Kranken bereit stehen. In Wyck auf Föhr ist nach getroffener Vereinbarung mit dem Diakonissenhause in Flensburg sofort ein Neubau in Angriff genommen worden, welcher einen Kostenaufwand von 60,000 Mark erforderlich macht. Derselbe soll Raum bieten für fünfzig bis sechszig Kinder, zehn Pensionäre und zehn bis fünfzehn Feriencolonien-Kinder. Der Bauplan ist vom Herrn Regierungsbaumeister Andersen in Flensburg entworfen, und der Bau selbst wird unter dessen Leitung noch in diesem Jahre vollendet werden.

Während auch für Groß-Müritz ein Neubau projectirt wird und die Pläne zu demselben gegenwärtig ausgearbeitet werden, ist für Zoppot durch die Zuwendung eines Legates von sechstausend Mark seitens des verstorbenen Fräuleins Louise Abegg in Wiesbaden der erste Grund für ein Hospiz gelegt. An jedem der genannten Orte ist der Verein durch ein Localcomité vertreten.

Die Generalcasse des Vereins befindet sich bei der Spar- und Leihbank in Oldenburg unter Leitung des Bankdirectors Thorade, und durch die jährliche Zahlung von zehn Mark oder einmalige Zahlung von hundert Mark wird die Mitgliedschaft des Vereins erworben. Die Zuwendung von dreitausend Mark berechtigt für Lebenszeit zur Disposition über ein Bett in einem der bestehenden Hospize, und zwar alljährlich für die Dauer von sechs Wochen, und das in dieser Weise gestiftete Bett trägt den Namen des „Stifters“.

Bereit zur Entgegennahme von Beiträgen sind außer den oben genannten derzeitigen Mitgliedern des Vorstandes die Herren Geheimer Medicinalrath Dr. Mettenheimer in Schwerin und Geheimer Sanitätsrath Dr. Abegg in Danzig für die Ostseehospize, Apotheker Ommen und Gemeindevorsteher Kuhlmann aus Norderney, Landvogt Forchhammer, Dr. Gerber und Kaufmann Martens in Wyck auf Föhr und Landvogt Hübbe in Keitum auf Sylt für die Nordseehospize.

Für geregelte ärztliche Aufsicht ist in allen Hospizen gesorgt, wie auch regelmäßige jährliche Berichte nicht nur über die Verwaltung derselben, sondern auch über die Behandlung einzelner Krankheitszustände und die bei derselben erzielten Erfolge ertheilt werden sollen; dieselben haben nicht nur als Rechnungsablage zu dienen, sondern auch einen klaren Einblick zu gewähren in den thatsächlichen Nutzen, den die Hospize schaffen, und werden in dieser Weise der medicinischen Wissenschaft selbst zu Gute kommen.

Es ist ein beklagenswerther Mangel bei vielen deutschen Wohlthätigkeitsanstalten, daß die Vorstände derselben, um die Druckkosten zu sparen, dem unterstützenden Publicum so selten genügende Berichte zugehen und dieselben namentlich nicht zu einer Quelle der Belehrung werden lassen. Der Segen, namentlich von Hospitälern, kann durch derartige wahrheitsgetreue und ungeschminkte Berichte verdoppelt werden. Auf die Herstellung dieser Berichte wird der Verein für Kinderheilstätten an den deutschen Seeküsten deshalb eine besondere Sorgfalt verwenden.

Möge das menschenfreundliche Unternehmen denn auch in dem großen Leserkreise der „Gartenlaube“ der teilnehmenden Förderung empfohlen sein! Die Statuten des Vereins haben die Bildung von „Bezirksvereinen“ für die Gründung von Kinderheilstätten an den deutschen Seeküsten vorgesehen, und wo immer Freunde der Sache geneigt sind, solche Bezirksvereine zu bilden, wird denselben von jedem Mitgliede des Vorstandes dankbar die Hand geboten und alles erforderliche Material zugestellt werden. Wenn sich die Hoffnung, daß der Verein in weitesten Kreisen Anerkennung finden möge, erfüllt, so ist die Gewißheit vorhanden, daß in wenigen Jahren die deutsche Nation gleich ihren Nachbarnationen sich im Besitze einer Reihe von Gesundheit und Leben rettenden Seehospizen befinden wird. – Die Tragweite der Wirksamkeit dieser Hospize wird eine noch beträchtlich größere werden, nachdem eben in diesem Winter auf Norderney der Beweis geliefert worden ist, daß sich die Heilkraft des Nordsee-Inselklimas weit über die Badezeit, das heißt die Zeit der sogenannten officiellen Saison, hinaus erstreckt. Bei der Einrichtung der Hospize auch für die Spätherbst- und Winterzeit werden dieselben nahezu das ganze Jahr hindurch Kranke aufzunehmen im Stande sein und einer um so größeren Anzahl von Kindern zu Nutzen kommen. Die Zugänglichkeit Norderneys wird durch die im Herbst dieses Jahres bevorstehende Eröffnung der Eisenbahn von Emden nach Norden um ein Beträchtliches erleichtert werden, und so trifft eine Anzahl von Umständen zusammen, um der Entwickelung des dortigen Hospizes ein günstiges Prognosticon zu stellen. Was der einzelnen Kraft unmöglich ist, wird der vereinten Arbeit auch hier zum Segen des Vaterlandes gelingen.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Natürschönheiten