Textdaten
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Autor: Friedrich Gottschalck
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Titel: Jungfer Ilse
Untertitel:
aus: Die Sagen und Volksmährchen der Deutschen, S. 157-161
Herausgeber:
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1814
Verlag: Hemmerde und Schwetschke
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Erscheinungsort: Halle
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Originalherkunft:
Quelle: Google und Commons
Kurzbeschreibung:
siehe auch Ilse, oder, die Bewohnerin des Ilsensteins
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Jungfer Ilse.

Wenn man von Ilsenburg aus in dem schönen romantischen Harzthale, das die Ilse durchrauscht, eine halbe Stunde lang aufwärts gegangen ist, so tritt ein nackter gigantischer Granitfelsen, der Ilsenstein genannt, aus der linken Thalwand hervor, dessen bedeutende Höhe und eigenthümliche Form niemand ohne Bewunderung anschaut. Ihm gegenüber steigt ein ähnlicher, doch nicht ganz so hoher, Fels empor, dessen Schichten zu diesem passen; und wahrscheinlich ist es, daß beide einmal zusammenhingen, durch irgend eine Revolution aber getrennt wurden. Diese vielleicht schon in den frühesten Zeiten aufgestellte Muthmaßung gab folgendem Mährchen das Daseyn.

Zur Zeit der Sündfluth, als das Wasser der Nordsee die Thäler und Ebenen von Niedersachsen überströmte, flohen ein Jüngling und eine Jungfrau, die sich schon lange liebten, aus der Ebene dem Harzgebirge zu, um hier auf den Höhen ihr Leben zu retten, oder beisammen zu sterben. Mit dem Steigen des Wassers stiegen auch sie höher, und näherten sich immer mehr dem hohen Brocken, der ihnen ein sicherer Zufluchtsort zu seyn schien. Endlich standen sie auf einem ungeheuern Felsen, der weit über dem wogenden Meere hervorragte. Von hier sahen sie das umliegende Land von der Fluth ganz überdeckt, und Hütten und Thiere und Menschen waren verschwunden. Einsam starrten sie in die Wogen hin, die am Fuße des Felsens sich brachen. Doch noch höher stieg das Wasser, und schon dachten sie darauf, über einen noch unbedeckten Felsenrücken weiter zu fliehen, und den Brocken hinan zu klimmen, der wie eine große Insel über die wogende See hervorragte.

Da erbebte unter ihren Füßen der Fels, auf dem sie standen. Zwischen ihnen riß er aus einander. Beide Theile wichen zurück, als wollten sie die Liebenden trennen, aber fest schlangen diese ihre zitternden Hände in einander, und fest blieben sie verschlungen, bis die Kluft zu breit ward. Da stürzten sich Beide hinab in die tobende Fluth.

Ilse hieß die Jungfrau. Sie gab dem reizenden Thale, dem Flüßchen, das es durchläuft, und dem Felsen den Namen. In diesem, dem Ilsensteine, wohnt sie nun, da ist ihr Schloß. Alle Morgen öffnet sie es, so bald der erste Sonnenstrahl ihn trifft, und steigt herab zur Ilse, in deren spiegelhellem Wasser sie badet. Freilich ist’s nicht allen Menschen vergönnt, sie zu sehen; aber wer sie sah, preist sie wegen ihrer Schönheit und Holdseligkeit. Oft schon theilte sie von ihren unendlichen Schätzen mit, die der Ilsenstein in sich schließt, und manche sonst arme, aber ehrliche Familie verdankt der schönen Jungfrau ihr Glück.

Einst fand sie einmal am frühen Morgen einen armen Köhler, der in den Wald gehen wollte, an der Ilse sitzen. Er grüßte sie freundlich, und da winkte sie ihm, mitzugehen. Er folgte, und bald standen sie vor dem großen Felsen. Da nahm sie ihm den Ranzen ab, klopfte drei Mal mit einem weißen Stäbchen an, und der Ilsenstein that sich aus einander. Sie ging hinein, brachte nach einer kleinen Weile wohlgefüllt den Ranzen zurück, gab ihn dem Köhler, befahl ihm aber ernstlich, ihn ja nicht früher zu öffnen, als bis er wieder in seiner Hütte wäre. Er versprach’s, bedankte sich, und ging. Aber der Ranzen war schwer, und die Neugierde groß; kaum vermochte er ihr zu widerstehen. Als er aber auf die Ilsenbrücke kam, sich niedergesetzt hatte, um etwas auszuruhen, und den schweren Ranzen mit seinem geheimnißvollen Inhalte neben sich liegen sah, da konnte er sich nicht länger halten. Er öffnete ihn, und sah – Eicheln und Tannenäpfel. Voll Unwillen schüttelte er sie von der Brücke hinab in den angeschwollenen Fluß. Aber, wie ward ihm, als er ein helles Klingeln hörte, wenn die Eicheln und die Aepfel die Steine in der Ilse berührten, als er sah, daß er das pure Gold verschüttet hatte. Bloß vor Schrecken machte er schleunig den Ranzen zu, um etwas noch zu retten. Und als er nach Hause kam, kehrte er ihn ganz um, störte aus den Winkeln alles heraus, was noch darin war, und da fand sich doch immer noch so viel, daß er sich ein kleines Bauergütchen dafür erkaufen konnte.

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Volkssagen von Otmar, S. 169.