Jugendleben und Wanderbilder:Band 1:Kapitel 32

Johanna Schopenhauer: Jugendleben und Wanderbilder
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Zweiunddreißigstes Kapitel.

[303] Welche Lust gewährt das Reisen!

Johann von Paris.

Reisen sollte ich, reisen! England sehen! und noch viele Städte und Länder auf dem weiten Wege nach Calais. Mir schwindelte vor Freude, ich glaubte zu träumen, als mein Mann die nahe Aussicht auf dies nie geahnte Glück mir eröffnete; es störte mich in meinem Entzücken durchaus nicht, daß er zu gleicher Zeit mich ziemlich deutlich errathen ließ, wie er mit dieser, eigentlich ohne Hinsicht auf merkantilische Pläne nur zum Vergnügen zu unternehmenden Reise, zugleich die Absicht verbände, das häusliche Familienleben in jenem Lande der Freiheit, wie er es nannte, genauer kennen zu lernen, das vielleicht, wenn die geahnete Veränderung uns auszuwandern bewöge, das Land seiner Wahl werden würde. So lange wir jung sind, liegt die Zukunft uns so fern! Ungeduldig zählte ich die Stunden bis zu dem zur Abreise [304] festgesetzten Tage, und dachte nie über denselben hinaus; ich war wieder das kleine Mädchen geworden, das die Nacht über kein Auge zuthun konnte, weil die Mutter versprochen hatte, es morgen ins Theater mit zu nehmen.

Endlich ging vor vollen funfzig Jahren, Anno siebenhundert sieben und achtzig, die längst herbeigesehnte Sonne des Johannistages auf, oder vielmehr unter; denn in Folge einer seiner alten Gewohnheiten hatte mein Mann die Postpferde erst um elf Uhr in der Nacht nach Oliva bestellt. In später Mitternachtstunde abreisen, gefiel mir außerordentlich, es kam so poetisch mir vor. Da stand ich und sah unsere Koffer aufpacken, sah ein dazu eingerichtetes Magazin unterm Wagen mit Weinflaschen, die großen Seitentaschen im Wagen mit Zitronen, Apfelsinen und ähnlichen guten Dingen anfüllen, wurde jetzt obendrein einen gewaltig großen Speisekorb voll Proviant, meiner Meinung nach auf viele Wochen, gewahr, der aus der Stadt gebracht worden war. Um Gotteswillen, führt denn der Weg nach Berlin durch die arabische Wüste? rief ich verwundert.

Mitternacht war gekommen, Alles zum Abfahren bereit; da sprang unerwartet eine Rührung uns noch quer über den Weg, die, unerachtet des Heldenmuthes [305] mit dem ich die Reise anzutreten im Begriff war, mir ein paar Thränchen ins Auge trieb. Baal, ein wunderschöner großer Hund, seit so manchem Jahr meines Mannes treuester Begleiter, war von seinem Herrn, für die Zeit unserer Abwesenheit, einem seiner Freunde übergeben worden, bei welchem es dem Thiere noch weit besser ergehen mußte als bei uns. Baal hatte den Strick entzwei gebissen, an dem er im Stall angebunden gewesen, hatte in dunkler Nacht den langen Weg von Danzig nach Oliva zurückgelegt und sprang nun, die Ueberbleibsel seiner Fesseln um den Hals geknüpft, freudig bellend an seinem Herrn auf.

Das laute Heulen des armen Hundes, als er uns vom Hofe herunterfahren sah, und uns nicht folgen durfte, ging uns durch die Seele, doch Baal wußte für die an ihm geübte Treulosigkeit sich zu rächen. Nie hat er nach unserer Wiederkehr uns anders als mit Verachtung angeblickt, nie sich bewegen lassen, freundlich Notiz von uns zu nehmen, oder unser Haus mit seinem Besuch zu beehren; er blieb dem Manne treu, der ihn aufgenommen, als wir ihn verlassen, obgleich sein Betragen deutlich verrieth, daß er uns erkannte.

Daß ich diese ziemlich triviale Hundeanekdote für das interessanteste Ereigniß hier erkläre, welches auf [306] dem Wege von Oliva bis Berlin uns aufstieß, möge meinen Lesern zur Beruhigung dienen, denen vielleicht eine kleine Furcht davor anwandelt, von meiner, in diesem Fach oft erprobten Feder, eine Reisebeschreibung en miniature hier überblättern zu müssen.


Langweiliger als diese Reise kann ich mir nichts denken, als etwa eine Beschreibung derselben; Schritt vor Schritt zogen vier abgelebte Postpferde uns durch tiefen Sand, durch armselige Städte und noch armseligere Dörfer, wie ungleich denen auf dem Danziger Gebiet! Legten wir in anderthalb Stunden eine Meile zurück, so war der Postillon sehr zu loben, brachte er zwei Stunden damit zu, so hatten wir kein Recht, uns über ihn zu beklagen; es gab sogar eine Station, ich weiß nicht mehr genau, ob dicht vor oder hinter dem traurigen Städtchen Schlawe, auf der wir einen ganzen Tag zubrachten, um fünf unbarmherzig lange pommersche Meilen mit den nämlichen Pferden zurückzulegen; so unwirthbar öde, so hauslos, möchte ich sagen, war das Land meilenweit umher. Es war eine große Vergünstigung des Herrn Postmeisters, wenn wir nur eine Stunde auf frische Pferde warten mußten, die in der Regel erst vom Felde hereingeholt wurden, aber auch bei längerem [307] Verweilen blieb uns nichts übrig, als uns möglichst in Geduld zu fassen.

So ging es fort ohne Rast und Ruh, vier oder fünf Tage und Nächte lang; der abschreckenden Beschaffenheit der Nachtquartiere, die unterwegs, mit Ausnahme eines einzigen im Städtchen Köslin sich uns boten, könnte nur die Feder des berühmten Beschreibers von Italien, Herrn Gustav Nicolai[1], in allen ihren Details das ihr gebührende Recht angedeihen zu lassen.

Der consumtible Theil unseres Gepäcks schmolz indessen so zusammen, daß wir auf der vorletzten Station vor Berlin sogar den völlig geleerten Korb liegen ließen; was ohne denselben in der zwar nicht arabischen, aber doch sehr trostlos dürren Wüste, die wir durchzogen, aus uns geworden wäre, weiß ich in der That nicht.

Trotz allem diesen kam ich doch sehr wohlgemuth vor dem damals berühmtesten Gasthofe zur goldenen Sonne, der auch vornehmer Hôtel de Russie genannt wurde, in Berlin an; erst beim Aussteigen entdeckte ich zu meinem Erstaunen, daß ich auf meinen übermäßig angeschwollenen Füßen weder stehen noch gehen könne. Mein Mann nahm ohne langes Bedenken mich wie ein Kind auf den Arm, trug mich [308] die Treppe hinauf, und suchte unterwegs mich mit der Versicherung zu beruhigen, daß ich nach einer in einem guten Bette durchschlafenen Nacht wieder ganz hergestellt sein würde; indem mein Zustand nur die natürliche Folge der ununterbrochen fortgesetzten Reise sei. Ich hätte mit dieser Versicherung mich auch gern ganz zufrieden gegeben, hätte nur die Schildwacht, die irgend einem vornehmen Reisenden zu Ehren vor dem Hause aufgestellt war, nicht überlaut gesagt: »ein nettes Frauenzimmerchen, schade daß es kreuzlahm ist,« was ich denn doch sehr übel nehmen mußte.

Während der sechs oder acht Tage, die wir diesesmal in Berlin zubrachten, hatte ich vom Morgen bis zum Abend mit den Merkwürdigkeiten der großen Königsstadt vollauf zu thun. Vor den Erzeugnissen bildender Kunst, die ich noch nie in so zahlreicher Zusammenstellung erblickt hatte, stand ich verstummend, furchtsam, verlegen; ich wußte eigentlich nicht, wie mir geschehen, denn ich hatte noch nicht sehen gelernt.

Der Anblick der wie nagelneu aussehenden Stadt war mir zwar auffallend, aber die unabsehbar langen und breiten Straßen kamen eben wegen ihrer Länge und Breite mir öde und menschenleer vor, [309] eben so auch die alle wie nach einem Modell erbaueten einander durchaus ähnlichen Häuser, von denen damals einige gar keine Häuser, sondern bloß eine Façade waren, hinter welcher nichts als ein leerer Raum sich befand, die nur der Symmetrie zu Liebe erbauet worden war, um eine entstellende Lücke in der Reihe der übrigen Häuser zu verbergen. Daß dem wirklich so sei, davon konnte mich Ungläubige nur der Augenschein überzeugen.

Stoff zur Bewunderung fand ich zwar überall und stündlich, bei jedem Schritte, doch ganz heimlich bei mir selbst verwunderte ich mich am meisten darüber, daß ich nicht noch weit mehr mich verwundern mußte; die glanzerfüllte Mährchenwelt, die hohe ernste Würde des alten Roms, die Ueberbleibsel gediegener Vorzeit in meiner Vaterstadt, leuchteten aus meinen Kinderjahren noch zu blendend zu mir herüber. Wider mein Wollen mußte ich in Berlin immer an Theaterdecorationen denken.

Der Weg von Berlin nach Potsdam beträgt nur vier Postmeilen, die kleine Reise, jetzt eine lustige Spazierfahrt von höchstens drittehalb Stunden, war damals aber ein Unternehmen, zu dessen Ausführung man sich im Voraus mit Geduld waffnen mußte. Im knieetiefen Sande, beinahe einen ganzen Tag [310] lang durch einen traurigen Fichtenwald sich hinschleppen lassen zu müssen, um einen so kurzen Weg zurückzulegen, war in der That keine Kleinigkeit.

Der Anblick der Stadt Potsdam, als wir ihn endlich errungen hatten, entschädigte mich wenig für die überstandene Mühseligkeit, sie kam mir noch menschenleerer, noch verödeter vor als Berlin. Die äußerlich anscheinende Pracht der Gebäude kontrastirte damals gar zu auffallend mit der Aermlichkeit der Bewohner derselben.

Uniformen rechts, links, wohin man sah, überall nichts als Uniformen, nirgend echt bürgerliche Wohlhabenheit, frohsinniger, sich selbst lohnender Gewerbsfleiß. Mir war nicht wohl dabei, und ich sehnte mich bald wieder hinaus.

Auch war es draußen unstreitig weit angenehmer als in der Stadt, die Umgebung derselben gefiel mir um so mehr, da es die erste schöne Gegend war, die ich erblickte, seit ich Danzig verlassen; besonders erfreueten mich die nie zuvor gesehenen Weinberge, welche hier schon anzutreffen ich nicht erwartet hatte. Man behauptete zwar, sie brächten nur »Gewächs sieht aus wie Wein;« aber was ging das mich an, durch eine solche Kleinigkeit ließ ich in meiner Freude mich nicht stören.

[311] Schloß Sanssoucis machte in seiner grandiosen Einfachheit einen Eindruck auf mich, den ich nicht versuchen will durch Worte wieder zu geben. Im Sterbezimmer des großen Königs[2] stand noch Alles, wie es in jener verhängnißvollen ernsten Stunde vor einem Jahre gestanden. Leisen Schrittes näherte ich mich dem Armsessel vor dem Kamin, in welchem die peinlich drückenden Fesseln des Lebens von dem Helden seines Jahrhunderts endlich abgefallen waren; ein lautes Wort wäre hier mir unmöglich, es nur zu hören unerträglich gewesen; doch Niemand unterbrach die heilige Stille, es war, als ob alle Gegenwärtigen noch unter dem Einfluß des hohen Geistes sich fühlten, der einst hier gewaltet.

Leichtfüßig schweifte ich in den Gärten umher, die ich in solcher Pracht noch nie gesehen; lachte den dickköpfigen chinesischen Pagoden ins Gesicht, die in einem Pavillon mich nickend begrüßten, wunderte mich über die übermäßigen Vergoldungen in einem andern, sah die berüchtigte Windmühle von weitem, deren Flügel ebenfalls vergolden zu lassen ein Spottvogel einst dem Könige gerathen, blieb vor den Marmorbildern wie eingewurzelt stehen und meinte endlich ins Feenreich versetzt zu sein, als ich die Orangerie in voller Blüthe, die wunderbaren Palmen und [312] Bäume aus südlichen Zonen, die Fülle der in unglaublichem Farbenglanz prangenden fremden Blumen erblickte, die mit wahrhaft königlicher Pracht in Treibhäusern gepflegt wurden, deren Möglichkeit in solcher Größe und Vollkommenheit mir nie in den Sinn gekommen war.

Unfern dem Schlosse, in einer von hohen Bäumen und düsterm Gebüsch umschatteten Ecke des Gartens, erblickte ich mehrere kleine Leichensteine mit Bello, Diana, Bijou und ähnlichen Hundenamen bezeichnet. Es waren die Gräber der zierlichen Windspiele, einst die vierfüßigen Lieblinge des gewaltigen Herrschers über Millionen, die er im bittern Unmuth für seine »einzig getreuen Freunde« oft erklärt hatte. Wie schwarz und schwer, wie so ganz trostlos muß in jener Stunde Menschenverachtung seinen hohen Sinn gebeugt haben, in der er den Wunsch äußern konnte, hier in ihrer Mitte einst begraben zu werden.

Uebrigens mag aber auch mancher Mensch das Schicksal dieser zierlichen Thierchen mit Neid betrachtet haben; sie führten ein köstliches Leben, überall war ihnen weich gebettet. Im Zimmer des Königs durften sie jede ersinnliche Freiheit sich herausnehmen, wovon Sophas und Sessel noch Beweise lieferten, und bei schlechtem Wetter fuhren sie in Königlicher [313] Equipage spazieren, um die niedlichen Pfötchen nicht zu beschmutzen. Der sie begleitende Page nahm dann im Wagen den Rücksitz ein und überließ ihnen den bequemeren Ehrenplatz; auch redete er nur in der dritten Person des Plurals sie an: Mylord! wo denken Sie hin? ist das auch ein schickliches Betragen? Marquis, halten Sie doch Frieden! Comtesse! wer wird denn so bellen?

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Gustav Nicolai -
  2. großer König - Friedrich II. (Friedrich der Große) (* 24. Januar 1712 in Berlin; † 17. August 1786 in Potsdam)