Jugendleben und Wanderbilder:Band 1:Kapitel 23

Johanna Schopenhauer: Jugendleben und Wanderbilder
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Dreiundzwanzigstes Kapitel.

[225] Wie so bunt der Kram gewesen,
Musterkarte giebt’s zu lesen.

Göthe.

Unter Sonne, Mond und Sternen giebt es kein glückseligeres Wesen als Miss in her teens. Mit diesem Alles erschöpfenden Ausdruck bezeichnet die englische Sprache die Zeit des Mädchenlebens zwischen dem vierzehnten und neunzehnten Jahr, den blumigen Scheideweg, der Kind und Jungfrau von einander trennt. Unsre Sprache kann beim Versuch, ihn wiederzugeben, nur durch Umschreibungen sich helfen, die eben immer unbeholfen und schwerfällig auszufallen pflegen. Zu vergleichen aber wäre eine solche Miß am füglichsten dem eben der Puppe entschlüpften Schmetterling, der verwundert über das unerwartet ihm gewachsene Flügelpaar sich keck in die Lüfte schwingt, über die ihm eben so neue Blüthenpracht in frisches Erstaunen geräth, jede Blume neugierig umflattert, die zuletzt gefundene immer für [226] die am süßesten duftende erklärt, und dadurch doch nicht abgehalten wird, auch um die Bekanntschaft der übrigen sich emsig zu bewerben.

Auch ich war in Arkadien! auch ich war vor vielen langen Jahren eine Miss in her teens, war ein solcher unvernünftiger, lustiger, etwas naseweiser Sommervogel, dem der Himmel voll Geigen hing, den Alles entzückte, weil Alles ihm neu war.

Landpartien, Komödien, Tragödien, Hillersche Operetten, ein Ball, ein Konzert, Marionetten, Kunstreiter, Alles gefiel mir unbeschreiblich, und um so mehr, weil meine Eltern vor Uebermaß des Genusses dieser Freuden mich bewahrten, wie das ohnehin der Geist jener Zeit es mit sich brachte. Die lustige Jagd nach Vergnügen nahm damals noch nicht alle unsre Gedanken und die größere Hälfte unsrer Tage ein, Visiten fanden nur bei Kondolenz oder Gratulationsfällen Statt, zu denen die jungen Töchter des Hauses selten mitgenommen wurden. Die Vormittage und auch viele der Abendstunden blieben ganz ungestört dem gewohnten häuslichen Leben.

Ich las mit Jameson, obgleich ich Abends nicht mehr zu ihm ging, zeichnete mit Frau v. P…, lernte Klavierspielen und singen, tant bien que mal, [227] und las nebenher Alles was mir vorkam, auch Romane, die ein älterer Bruder Klementinens uns zu verschaffen wußte; eine Leihbibliothek gab es glücklicherweise damals in Danzig noch nicht.

Werthers Leiden, diese allgemeine Aufmerksamkeit erregende neue Erscheinung, war sogar bis zu unserm abgelegenen Welteckchen hindurchgedrungen; Viele verdammten das Buch als höchst unmoralisch, dem Selbstmorde das Wort redend. Ich hörte darüber so lange, so viel, so für und wider streiten, daß ich endlich der Versuchung nicht widerstehen konnte, mich bei der ersten Gelegenheit dieses Zankapfels zu bemächtigen. Wie war ich froh, als ich unbemerkt ihn wieder auf den Schreibtisch meines Vaters an die Stelle gelegt hatte, von der ich ihn heimlich genommen! Daß vernünftige Leute so viel Redens davon machen konnten, war mir unbegreiflich, ich hatte gelesen, gelesen und gelesen, ohne zu wissen was, und war dadurch nur immer verwirrter geworden.

Mit dem in jener Zeit hochberühmten Muster übermenschlicher Vortrefflichkeit, mit Sir Charles Grandisson[1] ging es mir nicht viel besser. Jameson las keine Romane mit mir, ich mußte also mit einer endlos breiten deutschen Uebersetzung dieses bändereichen [228] Werks vorliebnehmen, und mir viel Mühe geben, mir selbst die Langeweile abzuleugnen, die es mir erregte. War doch Pamela, ein anderer Roman desselben Verfassers, dessen ich aber nicht habhaft werden konnte, in England sogar von der Kanzel herab als ein höchst erbauliches Buch der christlichen Gemeinde angepriesen worden, wie alle Zeitungen zum Lobe englischer Aufklärung überlaut der Welt verkündeten.

In Deutschland machte damals Siegwart Epoche; dieser wirkte schon lebendiger auf mich ein; ich kaufte den Straßenbuben Vergißmeinnicht ab, bemühte mich, Abends unter dem Kastanienbaum vor unserm Beischlage einen vertraulicheren Verkehr mit dem heiligen keuschen Monde anzuknüpfen, versuchte sogar zu seufzen und etwas unglücklich auszusehen, kam aber mit dem Allen nicht sonderlich vorwärts. Es war gegen meine Natur, ich war von meiner Kindheit an zu sehr an Wahrheit im Denken und Empfinden gewohnt, und so gab ich den matten Zeitvertreib bald wieder auf.

In der ersten Hälfte der achtziger Jahre des letztvergangenen Jahrhunderts dämmerte noch keine Ahnung von der überschwänglichen Fluth romantischer Dichtungen, die erst weit später Alles zu überschwemmen [229] begann, der deutschen Lesewelt auf. Nur wenig von dem wenigen Vorzüglichen, das damals in diesem Fache erschien, konnte bis zu uns gelangen. Klementine und ich sahen daher, trotz den Bemühungen von Klementinens Bruder, demnach sehr bald uns genöthigt, wieder zu unsrer alten Landbibliothek unsre Zuflucht zu nehmen, einer mehr als zwanzig Bände starken Sammlung aus dem Englischen übersetzter Romane, welche Klementinens Mutter besaß. Wir thaten es gern, es war uns ungefähr so zu Muthe, wie Einem, der nach kurzer Abwesenheit zu alten Bekannten nach Hause kommt.

Eine unschädlichere Lektüre dieser Art ist kaum denkbar, solche unendlich tapfre, großmüthige, liebende Helden, im Gegensatz zu solchen pechschwarzen ruchlosen Bösewichtern, die gegen Ende des Buchs jenen allemal das Feld räumen mußten! Und diese Misses! alle nicht minder engelschön, als tugendhaft! Da war von Schopenhauerschen Entsagungsromanen, wie Herr Menzel funfzig Jahre später, meine bescheidenen Versuche in diesem Fache getauft hat, keine Spur zu finden, alle jungen Ladies, wenn sie nicht in seltenen betrübten Fällen an der Schwindsucht starben, wurden, zur Belohnung ihrer großen Tugenden, in weißen seidenen Kleidern, erröthend wie [230] junge Rosen, zum Altare geführt, mit der Aussicht auf eine zahlreiche glückliche Nachkommenschaft, in unzerstörbarem Wohlergehen. Die gütigen, weisen Mama’s gingen immer in Kleidern von aschgrauer schwerer Seide einher. Wer Geduld genug besaß, es auf die Länge bei ihnen auszuhalten, sah die Leute wie sie leibten und lebten, und lebte zuletzt ganz bequem sich ebenfalls mit ihnen ein.

Weit entfernt davon, mich auf Romanlektüre zu beschränken, las ich, seit Kandidat Kuschel die Wahl meiner Bücher nicht mehr leitete, ziemlich Alles, was der Zufall in meinen Bereich brachte, und dazu gehörten Lavaters damals eben erschienene Tagebücher, die namentlich nur als Manuskript für Freunde gedruckt und dennoch zu meiner stillen Verwunderung in jedem Buchladen für Geld zu haben waren.

Dankbar gedachte ich noch der physiognomischen Fragmente, ich ehrte und liebte ihren Verfasser, er kam so groß, so wunderbar, so heilig, ich möchte sagen so prophetenartig mir vor. Das mystisch Geheimnißvolle seiner Worte zog um so stärker mich an, je weniger ich davon verstand, oder fähig war, die Deutung derselben auch nur von fern zu errathen. Kindisch neugierig brütete ich stundenlang über die vielen Stellen in den Tagebüchern, die aus [231] Gedankenstrichen oder Sternchen statt Worten gebildet sind, um sie zu entziffern; halbe Nächte hindurch zerquälte ich mich damit, ein Tagebuch in Lavaters Sinn zu führen. Ich einfältiges, funfzehnjähriges Kind, was für Bekenntnisse konnte ich niederzuschreiben haben, die nur der darauf zu verwendenden Tinte werth gewesen wären! Das Ende von dem Allen war, daß ich einst aus Aerger und Ueberdruß mein Tagebuch weit von mir ab in eine Ecke schob, und da ist es denn auch liegen geblieben.

Mein Gefühl für Lavater, so wie sein Andenken gingen allmälig in meinem Gemüth theils in Vergessenheit, theils in Gleichgültigkeit über; ein weit höheres, wahreres, eine Zeitlang mich fast ganz beherrschendes Interesse verdrängte ihn völlig aus meiner jungen Seele, Klopstock[2]! Wie soll ich die hohe Ehrfurcht, die glühende an Anbetung grenzende Bewunderung in Worten aussprechen, mit denen die einzeln erschienenen ersten Gesänge des Messias mich erfüllten! Einen noch wärmeren, innigeren Eindruck machten viele seiner Oden in der ersten Sammlung derselben auf mich. Sie waren, das fühlte ich deutlich, der Erguß seines Herzens, und fanden tief in dem meinigen ihren Wiederhall.

[232] Kapellmeister Neese, dessen einst hochgepriesener Name jetzt selten noch genannt wird, hatte gerade zu meinen Lieblingen unter diesen Oden eben so einfache, als gefällige Melodien gefunden. Willkommen o silberner Mond, schöner stiller Gefährte der Nacht! »Meine Selma, wenn aber der Tod uns Liebende trennt, wenn Dein Geschick Dich zuerst zu den Unsterblichen ruft!« – Wie oft habe ich in stillen einsamen Stunden diese Lieder gesungen! und wie muthwillig lachten meine jungen Freundinnen mich unbarmherzig aus, wenn ich auf den Einfall gerieth, mich vor ihnen damit hören zu lassen!

Damals verlohnte es sich noch der Mühe, ein Buch geschrieben zu haben, gleich viel was für eins, der Autor konnte sicher erwarten, als eine große Merkwürdigkeit von der ihn umgebenden Menge bewundert zu werden. Daß es außer Mad. Dacier[3] und Frau Professorin Gottsched[4] auch Schriftstellerinnen geben könne, daß ich selbst funfzig Jahre später die große Anzahl derselben noch würde vermehren helfen, konnte im wildesten Fiebertraum eben so wenig mir einfallen, als ich daran dachte, daß ein berühmter Dichter ein Mensch sei wie andre, allen Gewohnheiten und Bedürfnissen desselben unterworfen.

[233] Ein ziemlich starker Octavband, herausgegeben von einem der enthusiastischen Anbeter Klopstocks, dem damaligen Professor Cramer[5] in Kiel, entriß mich diesem Wahn, aber auf eine Weise, die meine Bewunderung des größten Dichters unsrer Zeit, der er damals mir war, aufs Höchste steigerte. Was mußte er sein, über den man es wagen konnte, ein solches Buch zu schreiben wie dieses »Klopstock, Er und über Ihn.«

Im Schlafrock und Pantoffeln wie im Gallakleide war der große Mann in Lebensgröße vor uns hingestellt; mit mehr als Walter-Scottischer Ausführlichkeit; Er, seine häusliche Einrichtung, seine Eigenheiten, seine Hausspäße, seine Freunde und Hausgenossen. In den jetzigen Tagen würde ein solches Buch für das Erzeugniß bitterer Ironie gelten, doch war es ehrlich gemeint, und wurde in jener grundehrlichen Zeit auch meistens so verstanden. Ich hatte große Freude daran; daß man mit Klopstock umgehen und sprechen könne wie mit Andern auch, was bis dahin mir ein Undenkbares gewesen. Zwar war ich in mir fest überzeugt, daß ich nie den Muth haben würde, Auge oder Stimme bis zu ihm zu erheben, wenn mein Geschick mich jemals in seine Nähe bringen sollte; aber was hätte [234] ich nicht darum gegeben, nur einmal in bescheidener Entfernung ihn zu sehen, wie Professor Cramer ihn beschreibt, wenn er im Kaffeehause vor dem Ofen steht, stolz und erhaben, wie ein König, und aus langer, horizontal hoch vor sich hingehaltner, thönerner Pfeife über die Häupter der Anwesenden bläuliche Rauchwölkchen sich hinkräuseln läßt!

Anmerkungen (Wikisource)

  1. „Sir Charles Grandisson“: im Jahr 1753 erschienener Roman von Samuel Richardson (* 19. August 1689; † 4. Juli 1761)
  2. Friedrich Gottlieb Klopstock (* 2. Juli 1724; † 14. März 1803)
  3. Anne Dacier (* März 1654; † 17. August 1720)
  4. Luise Adelgunde Victorie Gottsched (* 11. April 1713; † 26. Juni 1762)
  5. Carl Friedrich Cramer (* 7. März 1752; † 8. Dezember 1807)