Jugendleben und Wanderbilder:Band 1:Kapitel 12
Johanna Schopenhauer: Jugendleben und Wanderbilder | |
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[107] Auch Vergangenes zeigt euch Bakis; denn selbst das Vergangne
Ruht, verblendete Welt, oft als ein Räthsel vor Dir,
Wer das Vergangene kennte, der wüßte das Künftige, Beides
Schließt an Heute sich rein, an ein Vollendetes an.
Allmälig gerieth das Leben in Danzig wieder in den alten Gang, aus welchem das allgemeine Unglück es eine Zeitlang verstört hatte. Die große Wohlhabenheit, zu der die Einwohner durch Fleiß, Sparsamkeit und ihre den Handel so sehr begünstigende Lage im Verlauf von Jahrhunderten gelangt waren, ließ im Innern ihrer Häuser die Folgen desselben nicht gleich fühlbar werden, und wie ein an unheilbarer Auszehrung Leidender anfangs in glücklicher Unbewußtheit dem Grabe zusinkt, so gingen auch sie, ohne eine Ahnung davon zu haben, dem jammervollen Loose des langsamen Verarmens entgegen. Klagen über schlechte Zeiten wurden zwar von allen Seiten geführt, und machten den Hauptgegenstand [108] aller geselligen Unterhaltung aus, doch für’s Erste fiel die Einwirkung derselben nicht sonderlich auf.
Wie Alles, wovon mein Kindskopf zu keinem deutlichen Begriff gelangen konnte, beängstigten auch diese Klagen mich oft bis zum Weinen; denn was schlechte Zeiten eigentlich wären, wußte ich in der That nicht, und war nicht übel geneigt, sie wie Pocken und Masern für eine Art Krankheit zu halten.
Können wir aber nicht wohin reisen, wo keine schlechten Zeiten sind? fragte ich furchtsam leise aus meinem Puppeneckchen hervor, wenn Herr Moser sein Lieblingsviertelstündchen vor Tische benutzen sollte, um durch seine trübseligen Jeremiaden meine Mutter bis zum weichherzigsten Einstimmen in seine Klagen zu rühren, erhielt aber entweder gar keine Antwort oder wurde kurzweg zum Schweigen verwiesen.
Mein Vater nahm es weniger tragisch; denn Klagen war durchaus nicht seine Sache, aber er war innerlich ergrimmt, und seine tiefe Erbitterung über die himmelschreiende Ungerechtigkeit, welche die Stadt von ihrem übermächtigen Nachbar zu erleiden gezwungen war, sprach in jedem seiner Worte, in all’ seinem Thun und Lassen ganz unverhohlen sich aus. Jameson stimmte völlig ihm bei, mein Onkel aber [109] trieb es noch weiter; wie alle angehende Hagestolzen, zu denen er damals noch sich zählen konnte, pflegte er gern viel über Kindererziehung zu sprechen, obgleich Niemand bereiter war, als eben er, seine Nichten, besonders mich, die älteste von ihnen zu verziehen.
Hamilkar ließ seinen Sohn Hannibal von frühester Jugend an unversöhnlichen Haß den Römern am Altare schwören – jeder Danziger Bürger muß als Pflicht es anerkennen, diesem großen Beispiele zu folgen, und seine Kinder ohne Unterschied des Geschlechts das gleiche Gelübde gegen Preußen ablegen lassen, rief er in seinem Eifer. Ich hoffte, mein Vater würde sogleich zu der vom Onkel vorgeschlagenen Feierlichkeit Anstalt treffen; ein Gelübde! gar zu gern hätte ich erfahren, was das heiße.
Ich suchte indessen wenigstens von Hamilkar und seinem Sohn etwas Näheres zu erfahren, als ich sah, daß nicht so schnell, als ich es wünschte, zur Ablegung des Gelübdes geschritten werden würde, und fand meinen Lehrer nicht nur sehr bereit, meine Wißbegierde recht umständlich zu befriedigen, sondern auch sonst noch viel schöne, herzerhebende Geschichten von alten Griechen und Römern mir zu erzählen, an denen ich die größte Freude hatte. Kandidat Kuschel war in seinem Innern nicht minder republikanisch [110] gesinnt, dem preußischen Wesen nicht minder abhold, als mein Vater oder mein Onkel, aber er behielt in seinen Aeußerungen darüber die bescheidene Zurückhaltung bei, welche seine persönliche Lebensstellung ihm von Jugend an aufgedrungen hatte.
Absichtlich oder nicht, wählte er aber ein kräftigeres Mittel als jenes Gelübde gewesen wäre, das meinem kindischen Sinn so wohl gefiel, um in früher Jugend für Freiheit und Recht, für alles Große und Edle mich zu begeistern, indem er durch Beispiele aus der alten Geschichte über den Druck und die Jämmerlichkeit der Gegenwart mich zu erheben trachtete.
Unerwartet kam aber auch diese in seinem Bestreben ihm zu Hülfe; ich hatte eben mein neuntes Jahr erreicht, als Anno siebzehn hundert fünf und siebenzig der erste Aufstand der Amerikaner gegen die stolzen Gebieter der Meere in Philadelphia ausbrach. Glühend vor Begeisterung brachte mein Lehrer mir die erste Nachricht davon, und theilte in der Folge alles mir mit, was er von den denkwürdigen Ereignissen dieses gerechtesten aller Kriege im Laufe der Jahre erfuhr. Penn, Washington, La Fayette, der unglückliche Major Andrée, alle bedeutenden Namen [111] jener Zeit waren mir so geläufig, als die meiner nächsten Umgebungen.
Wie liebte ich sie Alle! wie triumphirte ich über jede Niederlage der Britten! wie freuete ich mich, daß Frankreich den Unterdrückten zu Hülfe kam, und wie verabscheuete ich den Landgrafen von Hessen, der seine Landeskinder wie Leibeigene an England verkaufte, und nicht nur für jeden im Kriege Gebliebenen, sondern auch noch nach einem von ihm ersonnenen Tarif für die einzelnen Gliedmaßen derselben, für die Arme und Beine, die sie, ohne zugleich das Leben einzubüßen, etwa in der Schlacht verlören, sich besondere Entschädigungsgelder ausbedingte.
Ueber dem Interesse, das die tapfern Amerikaner mir einflößten, vergaß ich indessen doch meine alten Römer und Griechen nicht. Die letztern waren mir zwar weniger lieb und die Spartaner sogar völlig widerwärtig, weil sie die Kinder nicht bei ihren Eltern lassen wollten, sie peitschten, ohne daß sie etwas verbrochen hatten, und obendrein den Diebstahl für lobenswerth erklärten. Auch ärgerte ich mich sehr über den dummen spartanischen Jungen, der einen Fuchs gestohlen hatte und sich in aller Gelassenheit von ihm todt beißen ließ. Welche Albernheit, einen Fuchs zu stehlen! und wem kann er ihn wohl gestohlen [112] haben? Hunde hält man sich wohl zur Jagd und zum Vergnügen, aber Füchse?
Die Römer, die prächtigen Römer! das waren meine Leute! In einem alten Schranke meines Vaters fand ich eine ziemlich holperige Uebersetzung von Rollins römischer Geschichte, und unterlag, trotz meiner sehr moralischen Gesinnungen, der Versuchung, dem Beispiele des spartanischen Knaben zu folgen und sie mir heimlich zuzueignen. Sonntags Nachmittags und in jeder andern freien Stunde, wo ich sicher war, daß man mich nicht stören würde, verbarg ich mich damit in abgelegene Winkel, oft auf dem Boden oben unter dem Dache. Vier dicke Octavbände! mit welchem Eifer, mit welchem unbeschreiblichen Interesse habe ich sie gelesen, und wenn ich damit fertig war, wieder gelesen, und wenn ich mir ein besonderes Vergnügen machen wollte, meine Lieblingsstellen darin aufgesucht.
Mucius Scävola, Brutus, Virginius, das waren meine Helden, und die ehrwürdigen Senatoren mit ihren langen, schneeweißen Bärten, wie sie in ihren elfenbeinernen Sesseln sich auf dem Markte neben einander hinsetzten und schweigend von dem eindringenden wilden Feinde sich erschlagen ließen! Auch Cicero gefiel mir ungemein, wenn er den gottlosen [113] Catilina öffentlich heruntermacht; die berühmte Rede, die er an diesen richtete, habe ich mir selbst so oft vorperorirt, bis ich sie größtentheils auswendig wußte. Vor allen Andern aber ehrte und bewunderte ich den Dictator Cincinnatus! Stundenlang malte ich in Gedanken es mir aus, wie er in Rom als Sieger triumphirend einzog, und dann still bescheiden zu seinem Pfluge und seinen Teltower Rübchen zurückkehrte, die auch ich sehr gern aß; denn daß der große Mann mit einer schlechteren Sorte als dieser, seit der Erscheinung des berühmten Briefwechsels späterhin classisch gewordenen, vorlieb genommen haben sollte, war mir nicht denkbar.
Niemand, auch nicht mein Kandidat, erfuhr etwas von den römischen Studien, die ich ganz in der Stille neben den Lehrstunden, die er mir gab, betrieb; warum ich so heimlich damit that, weiß ich selbst nicht; wahrscheinlich weil ich in meiner Begeisterung mich nicht irre machen lassen wollte. Uebrigens lernte ich mit großem Eifer Alles, Geographie, alte und neue Geschichte, Mythologie und noch Vieles, Vieles mehr, wovon ich jetzt wenig oder gar nichts mehr weiß; denn ich war in meinem zwölften Jahre weit gelehrter als ich jetzt in meinem ein und siebenzigsten es bin.
[114] Auch mit der schönen Literatur unsers deutschen Vaterlandes, die freilich damals erst im Erblühen war, wollte Kandidat Kuschel mich allmählig bekannt machen, und gab mir Kleist’s Frühling zu lesen. Als einen seinen trefflichen vertrauensvollen Charakter, aber auch seine Unbekanntschaft mit der Welt bezeichnenden Zug muß ich hier anführen, daß er die Stellen im Gedicht mit Bleistift bezeichnete, die ich überschlagen sollte, weil ich noch zu jung sei, um sie zu verstehen. Es fiel dem guten Manne gar nicht ein, daß ich, als eine echte Tochter unserer Urmutter Eva, doch nicht anders können würde, als gerade diese angestrichnen Stellen zu allererst zu lesen.
Und so geschah es denn auch: »Honny soit qui mal y pens;« ich hatte wenig davon. Ich las und las wieder, und konnte gar nicht begreifen, was der gute Kandidat mit seinem Verbot eigentlich gemeint habe. Der Frühling draußen kam mir überdem tausendmal schöner vor, als der in dem Buche.
Es war mit mir wohl noch nicht an der Zeit, in das Wunderreich der Poesie einzudringen, und nicht dem durch die Prosa des wirklichen Lebens doch etwas niedergehaltenen Kuschel, sondern meinem glücklichern Freunde Jameson war es vorbehalten, mir ein Gebiet zu erschließen, in welchem er einheimisch war.