Im höchsten Norden
[647] Im höchsten Norden. Welche Heldenthaten die muthigen Entdecker der Polarwelt vollbracht, welche Märtyrerstationen sie durchgemacht, davon giebt wiederum der Bericht des Lieutenants A. W. Greely über die Lady-Franklin-Bai-Expedition in den Jahren 1881 bis 1884 Auskunft (Jena, Costenoble). Die Aufgabe dieser Expedition war, eine der einjährigen Beobachtungsstationen zu beziehen, welche die Vereinigten Staaten an der Ostküste von Grinnell-Land, westlich vom äußersten Norden Grönlands, errichtet hatten. Die Greely’sche Expedition setzte ihre wissenschaftlichen Arbeiten fort über die festgesetzte Zeit, unerschrocken dem Tode durch Frost, Hunger und Skorbut trotzend. Einen nach dem Andern verscharrten sie im Polarschnee; die Ueberlebenden fuhren fort in der Führung der Tagebücher, in den Forschungen und Aufzeichnungen, die sie noch mit erlahmender Hand machten. Nur sieben waren zuletzt übrig geblieben – und den Kräftigsten war die Kraft geschwunden, durch Erlegung eines Seehundes oder gar eines Eisbären den Kameraden und sich selbst das Leben zu fristen. Flechten, gewärmtes Robbenfell, der Rest der schmutzigen ölgetränkten Decken der Schlafsäcke war zuletzt die einzige Nahrung. Vorher waren Diebstähle begangen worden aus Hunger und Verzweiflung; selbst der Arzt der Expedition hatte sich eines solchen Vergehens schuldig gemacht; doch konnte Greely ihn zunächst nicht zur Rechenschaft ziehen, da er für die Andern unentbehrlich war. Dagegen ließ er einen der Matrosen, der in die letzten Provisionskisten Einbrüche gemacht hatte, ohne Wissen desselben kriegsrechtlich verurtheilen und aus dem Hinterhalt niederschießen, da dieser im offenen Kampf seinen Kameraden überlegen gewesen wäre, denn der Dieb war kräftiger und besser genährt als sie.
Am 22. Juni waren Alle aufs Tiefste erschöpft; zum Theil gelähmt und schrecklich an Rheumatismus leidend. Etwas Wasser nebst einigen Quadratzoll eingeweichter Robbenhaut war Alles, was in 42 Stunden über ihre Lippen gekommen war. „Ich versuchte,“ schreibt Greely, „mit wenig Erfolg in meinem Gebetbuch oder sonst etwas zu lesen, aber der Wind war zu stark und die Erschöpfung zu groß. Gegen Mitternacht am 22. Juni hörte ich die Dampfpfeife der ‚Thetis‘, durch welche Kapitän Schley seine Bote zurückrief. Meine Ohren konnten mich nicht täuschen, aber ich konnte kaum glauben, daß sich ein Schiff bei solchem Sturm an diese Küste wagen würde. Ich bat mit schwacher Stimme Brainard und Long nachzusehen, wenn sie Kraft dazu hätten, sie waren wie immer bereit, ihr Bestes zu thun. Brainard war 50 Schritte weit nach dem Hügel gegangen und brachte die entmuthigende Nachricht zurück, es sei nichts zu sehen; Long wollte die Nothflagge, welche der Sturm umgeweht hatte, wieder aufrichten. Es entspann sich nun eine Diskussion über das Pfeifen. Biederbeck meinte, das Schiff liege im Paynohafen, aber mir hatte es von der Küste her getönt. Wir hatten schon alle Hoffnung aufgegeben, als sich plötzlich seltsame Stimmen hören ließen, welche meinen Namen riefen, und in einem Rausche des Entzückens überzeugten wir uns, daß unser Vaterland uns nicht im Stich gelassen hatte, daß der lange Todeskampf vorüber und der Rest der Lady-Franklin-Expedition gerettet sei.“