Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Im Kugelregen
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aus: Reclams Universum. Moderne Illustrierte Wochenschrift, 26. Jahrgang 1910, S. 1185–1189
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Erscheinungsdatum: 1910
Verlag: Phillip Reclam jun.
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
Die Novelle erschien in stark eingekürzter Form 1913 unter dem Titel Ein gefährliches Abenteuer in: Von Nah und Fern. Illustriertes aktuelles Unterhaltungsblatt für Jedermann. Beilage zur Lienzer Zeitung. Heft/Woche 8, S.4–6 und für die Jugend überarbeitet 1914 unter dem Titel Ein Strandspaziergang mit Lebensgefahr in: Die Burg. Illustrierte Zeitschrift für die studierende Jugend, 2. Jahrgang, S. 449–452.
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[1185]
Im Kugelregen.
Novelle von Walther Kabel.

Frau Käthe Traut schaute Heinz Büding ganz traurig an. „Wenn Sie mich doch nur nicht so quälen wollten, lieber Freund,“ meinte sie leise. „Ich habe Ihnen doch schon einmal gesagt, daß ich mit dem Leben wirklich abgeschlossen, daß ich das Vertrauen, nochmals … eines Mannes Gefährtin sein zu können, verloren habe …“ Und nach einer Weile, als sie keine Antwort erhielt, fuhr sie eindringlicher fort: „Sie kennen ja meine Lebensgeschichte! Und trotzdem wollen Sie es nicht verstehen, daß einer Frau nach einer solchen Ehe, die nur trübe Erinnerungen aufweist, das Herz erstorben sein muß, daß sie wohl noch Freundin, aber nichts weiter mehr sein kann. Und an dieser meiner Erkenntnis werden auch Sie nichts ändern, Sie … lieber Mensch … trotzdem …“

Und dann wandte Frau Käthe plötzlich den schwermütigen Blick von ihm und ließ ihn über den leuchtenden Strand, über die spielenden Kinder und die leichtgekräuselte See in die Ferne gleiten, wo das Meer und der Himmel sich berührten, und die Dünen und der Leuchtturm auf der Spitze der Halbinsel Hela wie eine Fata Morgana in der Luft zu schweben schienen.

„Trotzdem? Frau Käthe, trotzdem? Sprechen Sie doch weiter!“ bat Assessor Büding mit einer Stimme, in der sein ganzes heißes Werben um dieses schöne Weib lag. Da kehrte ihr Blick zu ihm zurück. Und impulsiv streckte sie ihm die Hand hin, während eine leichte Röte ihr jetzt in das blasse Madonnengesichtchen stieg.

„Ja, lieber Freund,“ antwortete sie zögernd und bohrte mit der Linken den Sonnenschirm in den rieselnden Sand, „trotzdem Sie mir … das Festbleiben schwer genug gemacht haben.“

„Käthe!“ wollte er aufjubeln; und er preßte ihre schlanken Finger in seiner braungebrannten Männerfaust, daß sie sie ihm mit einem leichten Wehlaut entzog. In ihre Wangen aber war ein flammendes Rot geflutet und zog sich weiter hinab bis zum Halse, dessen selten schön modellierten Ansatz der hohe Stehkragen der schwarzseidenen Bluse neidisch verdeckte. Und dann rückte sie ein Stück von ihm fort, wie unabsichtlich, nur um sich zu wehren gegen dieses heiße Gefühl, das ihr den Herzschlag stocken ließ.

Heinz Büding, der dieses scheue Flüchten anders deutete, beugte sich weit vor, nahm eine Handvoll Seesand und ließ die weißen Körnchen langsam durch die Finger gleiten, daß sie an dem weißen Beinkleid seines Strandanzugs wie ein Bächlein herabglitten. Er wollte sein Gesicht nicht sehen lassen, das den Kampf in seinem Innern nur zu deutlich widerspiegeln mußte. Da klang’s neben ihm wieder so leise, so bittend:

„Nicht böse sein … nicht böse sein! Wozu müssen Sie uns auch immer das Beisammensein stören durch Ihre Wünsche, die ich … nie erfüllen kann – warum … nehmen Sie das nicht an, was ich Ihnen so gern geben möchte: meine herzlichste Freundschaft!“

Leidenschaftlich, mit einem Blick, der ihr das Blut zum Herzen trieb, kam die Antwort: „Weil ich Sie liebe, Käthe, und diese Liebe neben der Freundschaft nie bestehen wird, nie! Ich habe es Ihnen schon so oft gesagt, daß auch ich Schweres durchgekostet habe, eine aussichtslose Neigung, die einst so himmelstürmend groß war, daß ich glaubte, kein Weib könnte den Vergleich mit dem Einst bestehen! Und doch – dann kamen Sie, Sie mit Ihrer weichen, traurigen Stimme, diesem wehen Zug um den Mund, der so viel verrät … mit diesen Augen, die … nicht nur von einer trüben Vergangenheit [1186] erzählen! Nein, in ihnen liegt da hinten tief verborgen ein glimmendes Fünkchen … die Sehnsucht nach Glück, Käthe - und heute habe ich es schimmern sehen, dieses Fünkchen, das Sie mit Gewalt auslöschen wollen, nur weil ein Mann Sie belog, betrog, nichts als Enttäuschungen in Ihr Herz häufte! Und deshalb halten Sie alle für schlecht, für Egoisten, denen das Weib nur ein Spielzeug ist, wie Sie Ärmste es dem einen waren.“

Frau Käthe Traut hatte den Kopf immer tiefer gesenkt. Der Sonnenschirm war ihr entfallen und trostlos schlang sie jetzt die Finger, an deren einem die zwei breiten goldenen Reifen glänzten, ineinander, preßte sie, daß ihr die Gelenke schmerzten. Nur nicht hören, nur nicht aufschauen, wo das lodernde Feuer zu ihr zu sprechen schien, wo dieses Feuer ihre Vorsätze in Asche zu brennen drohte … Und blitzschnell eilten ihre Gedanken wie Rettung suchend in die jüngste Vergangenheit. Fand sie denn nichts, nichts, das ihr das Bild dieses Mannes störte – nichts? War’s denn möglich, daß sie noch vor drei Wochen hier in Zoppot so wunschlos angekommen, daß heute schon alles in ihr in Aufruhr war – nur weil er ihr begegnen mußte, er mit diesen Augen, die wie ein Spiegelbild der ihren waren, in denen ein heimliches Leid und stilles Entsagen lag - mit dieser schlanken, nervigen Figur, an der jede Bewegung die frische Kraft verriet und der doch so frauenhaft zart zu trösten wußte, der sie in dieser kurzen Zeit verhätschelt und verwöhnt hatte wie ein krankes Kind … Nein, sie fand nichts gegen ihn, nichts! Da wollte eine jubelnde Glückseligkeit in ihr aufsteigen, sie hätte die braune Hand, die gegen das zarte Blau der Manschette so seltsam abstach, nehmen mögen und in Dankbarkeit streicheln, ihm irgend etwas Liebes sagen … aber ihr Mund blieb stumm. Da war sie wieder, diese tiefe Mutlosigkeit, diese Feigheit, die sie vor der Entscheidung zurückschrecken ließ. Und langsam verblaßte das Bild dessen, der da im Seesande neben ihr saß, und der andere, der vor kaum fünf Jahren seinen siechen Körper an ihre frische Jugend gefesselt, drängte sich zwischen sie.

Noch tiefer senkte sie ihr blasses Gesicht, und der Leidenszug um den schöngezeichneten Mund trat so deutlich hervor. Ihre Finger schlangen sich fester ineinander … sie wollte sich weh tun! Nur festbleiben – festbleiben! Und um sie her jubelten die spielenden Kinder, kreischten auf vor Lust; die See rauschte leise, so besänftigend, und vom Kurgarten schallten einige Walzertakte zu den beiden törichten Menschen herüber … Erst als sie seine Stimme wieder hörte, die jetzt so gezwungen, so hart die Worte formte, fand sie sich in die Wirklichkeit zurück.

„Also Sie reisen übermorgen bestimmt ab, Frau Käthe?“ Es war wie eine konventionelle Phrase … Und das zwischen ihnen … zwischen ihnen …!

Sie nickte nur und suchte dann in seinem Gesichte zu lesen. Das sah plötzlich so versteinert aus, so ganz anders wie sonst … Und seine Augen schauten an ihr vorüber.

„Wie wird es mit unserem für morgen geplanten Strandspaziergang nach Brösen? Werden Sie nicht von den Reisevorbereitungen zu sehr in Anspruch genommen sein?“ fragte er weiter.

„Der Vormittag gehört noch Ihnen,“ meinte sie zögernd, „es soll unser … Abschied sein!“ Und dann reichte sie ihm die Hand und bat leise:

„Nicht dieses Gesicht, Heinz Büding! Seien Sie doch verständig … bitte, bitte!“

„Ich bin es schon,“ sagte er nur. Da war’s Frau Käthe, als ob sie ihn für immer verloren hatte.

***

Am nächsten Vormittag trafen sie sich pünktlich neun Uhr wie verabredet auf dem Stege. Käthe Traut sah übernächtig aus, hatte bläuliche Schatten um die Augen. Und der Ausdruck müder Resignation in Heinz Büdings schmalem Sportgesicht, das der englisch geschnittene Schnurrbart und die roten Schmißnarben so jung erscheinen ließen, wollte auch trotz des eifrigen Plauderns seiner Begleiterin nicht verschwinden. Sie gingen an dem neuen Südbade vorüber und schritten dann dicht am Ufer auf dem festen Sandstreifen entlang, der nur bisweilen von einer weiter auslaufenden Welle bespült wurde. Es regte sich kein Lüftchen; die See lag wie ein bleigrauer Spiegel da, und nur in langen Zwischenräumen schoß eine sich kräuselnde Brandungswoge wie eine forthuschende Schlange am Ufer hin. Über ihnen brannte die Sonne, die Luft war erfüllt mit den scharfen Gerüchen des in der Hitze faulenden Seetangs, den Teerausdünstungen der Fischerboote, die hier auf dem Südstrande dicht nebeneinander lagen. Hochgeschürzte Fischerfrauen mit roten, frühgealterten Gesichtern waren bei den Fahrzeugen beschäftigt, die beim Morgenfang erbeuteten Flundern auf dünne Weidenruten zu ziehen; die Männer in den bis an die Hüften reichenden Stiefeln besserten Netze aus, legten die langen Fangleinen zusammen, und der beißende Tabakrauch aus ihren kurzen Holzpfeifen wehte bis zu den beiden hinüber, die jetzt schweigend vorüberschritten. Die Blicke der Fischer folgten der Frau. Heinz Büding fühlte, wie ihre Augen die schöne Frau an seiner Seite umspannen. Er erriet ihre Gedanken, und die Bitterkeit wollte in ihm aufsteigen. Sie irrten ja alle, die da neidisch auch nur herzlichere Beziehungen zwischen ihnen vermuteten.

Und das, was er sich in den schlaflosen Stunden der vergangenen Nacht überlegt hatte, sprach er jetzt [1187] aus. Er wollte ihre Freundschaft hinnehmen als Ersatz, nur – damit er sie nicht ganz verlor. Sie hörte ihm stumm zu; nur ihre feinen Nasenflügel vibrierten und in ihren Blick kam langsam eine seltsam trostlose Starre.

Und er redete und redete, sprach sich allmählich in eine gewisse Fröhlichkeit hinein, mit der er sich doch selbst betrog.

„Ich schreibe Ihnen zweimal in der Woche, Frau Käthe. In die Briefe kommt alles hinein, was von meinem einsamen Assessordasein in dem Städtchen überhaupt erwähnenswert ist. Und wenn mich einmal der Zufall nach Königsberg führt, dann suche ich Sie auf und wir feiern ein frohes Wiedersehen, frischen unsere Erinnerungen auf.“

Sie hörte lange nicht mehr zu. Also so leicht, so schnell hatte er sein Wünschen begraben, daß er ihr, ihr jetzt von Briefen sprach, die ihnen die Gegenwart ersetzen sollten! Dann hatte er sich doch selbst in der Größe seines Gefühls getäuscht, seine Leidenschaft war nichts als ein Rausch gewesen, der sich von heute auf morgen verflüchtet hatte. Unter dieser Erkenntnis brach sie beinahe zusammen. Eine namenlose Angst erfaßte sie plötzlich vor der einsamen Zukunft, die sie mit ihrer mädchenhaften Weichheit, ihrer Unkenntnis des Lebens allein durchschreiten sollte. Und aus dieser Angst wuchs etwas Neues hervor, das jetzt mit erschreckender Klarheit vor ihr stand: sie liebte ihn, liebte ihn so, daß nur er diese trüben Jahre auslöschen konnte … nur er! Daß sie ihm ihre Hand überlassen wollte, so gern, damit er sie weiterführe zum Glück, das er ihr so oft ausgemalt hatte, so oft.

Frau Käthes Lippen preßten sich immer fester aufeinander. Und gerade jetzt blieb er stehen und wies rückwärts auf das wunderbare Bild, das der Bogen der Danziger Bucht mit dem Hintergrunde der bewaldeten Höhen, den hellen Villen am Zoppoter Strande und weiterhin dem schroffen Abfall von Adlershorst darbot.

„Norddeutsche Riviera!“ sagte er versonnen und schaute leuchtenden Blickes auf dieses in Sonnenlicht getauchte Panorama, dessen wechselnde Schönheit sein naturfrohes Empfinden immer wieder entzückte.

Dann gingen sie weiter an dem kleinen Badeort Glettkau vorüber, der halb versteckt zwischen hohen Buchen und Pappeln liegt, an den verwitterten Budenreihen des Herrenbades und dem wie ausgestorben erscheinenden neuen Kurhause. Endlich hatten sie beide die anfängliche gedrückte Stimmung überwunden und plauderten harmlos und eifrig wie in den besten Tagen ihrer Bekanntschaft. Da wurde ihre Aufmerksamkeit plötzlich durch einen Vorfall in Anspruch genommen, dem sie zunächst keine weitere Bedeutung beimaßen. Vor ihnen in einer Entfernung von ungefähr 500 Metern war eine größere Gesellschaft von Spaziergängern soeben von einem Reiter, dessen Husarenuniform deutlich zu erkennen war, angehalten worden und bog jetzt vom Strande in die Dünen ab, die hier mit verkrüppelten Kiefern dicht bestanden waren und bis nahe an die See heranreichten. Der Husar ritt neben den Fußgängern her und schien eifrig auf sie einzureden. Und jetzt drehte er sich auf seinem Pferde um und winkte eifrig mit seiner Lanze zu ihnen hinüber, indem er dabei öfters in die Richtung wies, wo vorwärts auf einer Anhöhe eine rote Fahne in dem kaum fühlbaren Lufthauche träge flatterte.

„Was mag er nur wollen?“ meinte Frau Käthe neugierig. Da hatte schon Heinz Büding seinen weißen Panama abgenommen und schwenkte ihn grüßend in der Luft. Der Reiter gab darauf seinem Grauschimmel die Sporen und war bald zwischen den Dünen verschwunden, wohin ihm auch die aus [1188] mehreren Damen und Herren bestehende Gesellschaft in merklich beschleunigter Gangart folgte.

„Die Herrschaften haben den braven Reitersmann wohl nach dem Wege nach Oliva gefragt,“ sagte der Assessor sorglos. „Na, da sind sie ein gut Stück abgekommen.“

Bald war dieser kleine Zwischenfall vergessen. Einsam lag jetzt der hellbeschienene Strand vor ihnen, in der Ferne das große Kurhaus von Brösen mit dem Seesteg, dahinter die Mole von Neufahrwasser mit dem Leuchtturm. Gerade verließ ein großer Seedampfer die Hafeneinfahrt und hielt Kurs auf die Spitze von Hela zu. Aus seinem Schonstein quoll dichter Rauch, der in der stillen Luft auf das Wasser fiel und sich wie ein Wolkenschleier über den See lagerte. Ringsum eine seltene Stille. Kein Lebewesen weit und breit zu sehen. Nur zwei Krähen, die ungraziös herumhüpfend in dem ausgeworfenen Seetang nach toten Fischen gesucht hatten, erhoben sich jetzt schwerfällig vor den Nahenden und strichen niedrig dahin, um sich einige hundert Schritte weiter wieder niederzulassen. Und in der Ferne aus der Richtung des großen Exerzierplatzes bei Saspe her tönte kaum vernehmbar das Knattern von Gewehrfeuer herüber.

In lebhafter Unterhaltung hatten die beiden inzwischen ihren Weg fortgesetzt und die rote Fahne längst passiert. Die hohen Dünen waren verschwunden und nur eine Wand von Weidengesträuch auf der mäßigen Uferhöhe verdeckte den Ausblick in das flache, dahinterliegende Land. Da wies Frau Käthe plötzlich mit der Hand auf die spiegelglatte See hinaus:

„Sehen Sie nur, was mag das nur sein?“ fragte sie lebhaft. „Ja … diese seltsamen Kaskaden meine ich … Ach, wie hoch das Wasser aufspritzt! Ob das Fische sind?“

Heinz Büding war stehengeblieben und starrte auf diese merkwürdige Erscheinung, für die er auch keine sofortige Erklärung fand.

„Jetzt nähern sich die Spritzer dem Ufer … da … da … und wie weit vor und hinter uns das Wasser damit bedeckt ist,“ rief Käthe Traut in sorglosem Interesse.

Da fühlte sie sich plötzlich von seinen Armen fast roh umschlungen, hörte eine keuchende, ganz entstellte Stimme.

„Um Gottes willen, werfen Sie sich hin … nur das kann uns retten.“ Und er versuchte sie niederzwingen, rang mit ihr … Eine sinnlose Angst war über sie gekommen und sie verlieh ihr eine Kraft, daß sie sich gegen seine Umschlingung wehrte, ihn von sich drängen wollte … Und bei diesem Ringen warf sie einen schnellen Blick in sein Gesicht, das leichenblaß war und in dem die Augen so wild flimmerten und von der Anstrengung weit vorgetreten waren.

„Lassen Sie mich, ich rufe um Hilfe!“ schrie sie entsetzt, stemmte die Fäuste gegen seine Schultern, schlug nach ihm … Da hatte er sie schon wie eine Feder hochgehoben und in den Sand gedrückt. Sie schrie wie eine Verzweifelte, wollte auf … Er aber kniete neben ihr, hielt sie fest, rief ihr Worte zu, die sie in ihrer Angst kaum verstand, deren Inhalt sie nicht begriff. Und wieder versuchte sie den Oberkörper aufzurichten. Da hatte er den Mund dicht an ihr Ohr gebracht … und gellend schallte es ihr jetzt deutlich entgegen:

„Käthe, ich beschwöre Sie, bleiben Sie ruhig. Der Husar … die rote Fahne … wir sind in die Feuerlinie einer scharfschießenden Truppe gekommen … Die Kaskaden sind … Geschoßaufschläge im Wasser …“ Jetzt hatte sie ihn verstanden; ein lähmendes Entsetzen ließ sie kraftlos zurücksinken und die Hände vor die Augen pressen … Also daher dieser Ausdruck in seinen Blicken, seine scheinbare Brutalität … Und um sie her jetzt schon ganz dicht am Ufer, bald näher, bald ferner die aufzischenden Wassersäulen, es war, als ob die See in weitem Umkreise kochte. Und da - Heinz Büding duckte sich unwillkürlich tiefer, huschten auch in dem Sande die Staubwölkchen auf, bald hier, bald dort … Und in der Luft dieses Sausen wie von einer vorüberziehenden Windsbraut, unheimlich, tückisch.

Und während jetzt des Assessors Augen hilfesuchend den Strand entlang irrten, bestürmten ihn wie eine Bergeslast die vorwurfsvollen Gedanken, daß er nur durch seine Unachtsamkeit, eine ihm jetzt unverständliche Kurzsichtigkeit das Leben der Geliebten dieser furchtbaren Gefahr ausgesetzt hatte. Er, der seit Jahren regelmäßig einige Wochen seines Sommerurlaubs in Zoppot zubrachte, hätte die Bedeutung der roten Flagge, des ihnen zuwinkenden Husaren erkennen müssen. Oft genug schon war sein Blick in dem Badeanzeiger über jene gesperrt gedruckte Warnung achtlos hinweggeglitten, in der die Badegäste darauf aufmerksam gemacht wurden, daß an dem und dem Tage von Vormittag … Uhr bis … Uhr der Strand südlich Glettkau bis kurz vor Brösen für jeglichen Verkehr verboten sei, da das 1. Leibhusarenregiment aus Langfuhr an diesem Tage vom Lande aus nach der See ein Scharfschießen abhalte, daß weiter die gefährdete Uferstrecke durch rote Fahnen abgegrenzt und außerdem durch Posten bewacht würde … Jetzt, da es zu spät war, besann er sich auf all diese Einzelheiten, die bisher kein Interesse für ihn gehabt hatten. Jetzt konnte er sich auch das Benehmen des Husaren erklären, der die Gesellschaft von Spaziergängern vor ihnen gewarnt und aus seinem bedeutungslosen Hinübergrüßen mit dem Hut geschlossen hatte, daß auch er und Frau Käthe vom Strande in die Dünen abbiegen würden. Daß [1189] man sie überhaupt so weit vorgelassen, konnte nur ein unglücklicher Zufall sein. Wahrscheinlich beobachtete der Reiter nur die nach Zoppot zu gelegene Seite des Strandes, konnte nicht annehmen, daß sie arglos weitergegangen waren … dem Verderben entgegen.

Blitzschnell kamen Heinz Büding diese Überlegungen, während er das flache Ufer nach einer Deckung absuchte. Jetzt richtete er sich auf, um besser Umschau halten zu können. Da fühlte er sich von zwei Armen umschlungen und eine vor Angst zitternde Stimme bat …

„Nein … nein!“ Und die Arme zogen ihn wieder nieder in die Knie. Er aber schob seinen Körper vor den der Geliebten, suchte sie mit dem eigenen Leibe zu schützen. Frau Käthes eiskalte Hände hielten seine Linke wie schutzsuchend und dann, ehe er sich’s versah, hatte sie seine braune Hand an ihren Mund geführt und preßte ihre warmen Lippen darauf … In demselben Augenblick schlug ein Geschoß dicht vor ihnen ein.

Über Heinz Büdings Stirn perlte der Schweiß in großen Tropfen. Was galt ihm sein Leben! Aber sie … sie! Wenn ihr etwas zustieß! Und die sorgende Angst um die Geliebte ließ ihn zu einem schnellen Entschluß kommen. Da vor ihnen, vielleicht hundert Meter landeinwärts, hatte er einen niedrigen, mit dünnem Gras bewachsenen Hügel vorher entdeckt, der von der See unterspült war und so gegen die Landseite hin einigen Schutz gewährte. Aber wie dahin gelangen, wie diese Strecke zurücklegen, auf der nur zu oft die Sandwölkchen aufflogen, als ob sie den Leichtsinnigen vor diesem Wege warnen wollten? Doch – es mußte sein! Hier durften sie nicht bleiben, keine Sekunde länger.

Da beugte er sich über sie, sagte hastig:

„Wir müssen hier fort … halten Sie sich an mir fest, ich werde Sie tragen!“ Und ohne eine Entgegnung abzuwarten, hatte er sie hochgehoben; sie schlang ihre Arme um seinen Hals und … dann ging er rückwärts, oft stolpernd, dem schützenden Hügel zu, suchte sie wieder mit dem Körper zu decken, trotzdem er wußte, daß sein Leib kein genügendes Schild gegen das Nickelgeschoß des Karabiners war, daß ein Treffer sie beide verwunden würde … Die Sekunden wurden ihm zu Stunden, ihm, dem jeder Nerv bis zum Reißen sich spannte, der nur eines befürchtete: ihren Aufschrei, das Zeichen, daß sie getroffen war.

Und endlich, endlich hatten sie die schirmende Sandmauer erreicht. Behutsam legte er die teure Last nieder … Aber Käthe Traut klammerte sich an seinen Arm, zog ihn zu sich herab, und während ein erlösender Tränenstrom über ihre Wangen rann, schluchzte sie bebend:

„Heinz, ich will deine Freundschaft nicht mehr … ich …“ Sie wollte weitersprechen. Aber er verschloß ihr den Mund mit einem langen, innigen Kuß.

„Also nur so konnte ich dir beweisen, daß ich keiner der gefürchteten Egoisten bin, du liebes, liebes Geschöpfchen?!“

Da zog’s wie der Sonnenschein des Glücks über Frau Käthe Trauts einst so leidvolle Züge, und sich an den geliebten Mann schmiegend flüsterte sie beschämt:

„Dafür bin ich jetzt aber auch auf immer geheilt!“ Als sie dann nach Stunden, die ihnen wie im Traum verflossen waren, endlich an die Heimkehr dachten, war die Gefahr längst vorüber. Der Strand hatte sich wieder belebt, die rote Fahne und der Husar waren verschwunden. Arm in Arm, die Herzen voll Glückseligkeit, wanderten sie denselben Weg zurück. Und als wenige Tage später ihre Verlobung veröffentlicht wurde, da wollten die meisten Bekannten diesen Abschluß mit Bestimmtheit vorausgesehen haben. Und niemand ahnte, wie schwer Heinz Büding sich sein Bräutchen erkämpft hatte – eben im Kugelregen!