Hyperion an Bellarmin XVI
[97] HYPERION AN BELLARMIN.
Vorn am Rande des Berggipfels standen wir nun, und sahn hinaus, in den unendlichen Osten. Diotima’s Auge öffnete sich weit, und leise, wie eine Knospe sich aufschliesst, schloss das liebe Gesichtchen vor den Lüften des Himmels sich auf, ward lauter Sprache und Seele, und, als begänne sie den Flug in die Wolken, stand sanft empor gestrekt die ganze Gestalt, in leichter Majestät, und berührte kaum mit den Füssen die Erde. O unter den Armen hätt’ ich sie fassen mögen, wie der Adler seinen Ganymed, und hinfliegen mit ihr über das Meer und seine Inseln. Nun trat sie weiter vor, und sah die schroffe Felsenwand hinab. Sie hatte ihre Lust daran, die schrökende Tiefe zu messen, und sich [98] hinab zu verlieren in die Nacht der Wälder, die unten aus Felsenstükken und schäumenden Wetterbächen herauf die lichten Gipfel strekten. Das Geländer, worauf sie sich stüzte, war etwas niedrig. So durft’ ich es ein wenig halten, das Reizende, indess es so sich vorwärts beugte. Ach! heisse zitternde Wonne durchlief mein Wesen und Taumel und Toben war in allen Sinnen, und die Hände brannten mir, wie Kohlen, da ich sie berührte. Und dann die Herzenslust, so traulich neben ihr zu stehn, und die zärtlich kindische Sorge, dass sie fallen möchte, und die Freude an der Begeisterung des herrlichen Mädchens! Was ist alles, was in Jahrtausenden die Menschen thaten und dachten, gegen Einen Augenblik der Liebe? Es ist aber auch das Gelungenste, Göttlichschönste in der Natur! dahin führen alle Stuffen auf der Schwelle des Lebens. Daher kommen wir, dahin gehn wir. |