Textdaten
Autor: Ludwig van Beethoven
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Titel: Heiligenstädter Testament
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Entstehungsdatum: 1802
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Quelle: Ludwig van Beethoven - Briefwechsel Gesamtausgabe, Band 1, Brief 106, S. 121–123, hg. von Sieghard Brandenburg, München 1996, Henle. PDF bei Commons, e-text Beethoven-Haus
Kurzbeschreibung: Nicht abgesandter Brief Beethovens an seine Brüder, geschrieben in Heiligenstadt am 6. und 10. Oktober 1802: das sogenannte „Heiligenstädter Testament“.
Eine abweichende Transkription von Hedwig M. von Asow, die den Zeilenfall des Autographen berücksichtigt ist unter Heiligenstädter Testament (Asow) zu finden.
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Beethoven an seine Brüder Kaspar Karl und Nikolaus Johann van Beethoven
(„Heiligenstädter Testament“)


[Heiligenstadt, 6. und 10. Oktober 1802]


Erste Seite des Autographs

{An} für meine Brüder Carl und {Leerraum}[1] Beethowen

O ihr Menschen die ihr mich für Feindseelig störisch oder Misantropisch haltet oder erkläret, wie unrecht thut ihr mir, ihr wißt nicht die geheime ursache von dem, was euch so scheinet, mein Herz und mein Sinn waren von Kindheit an für das zarte Gefühl des Wohlwollens, selbst große Handlungen zu verrichten dazu war ich immer aufgelegt, aber bedenket nur daß seit 6 Jahren ein heilloser Zustand mich befallen,[2] durch unvernünftige Ärzte verschlimmert, von Jahr zu Jahr in der Hofnung gebessert zu werden, betrogen, endlich zu dem überblick eines daurenden Übels das (dessen Heilung vieleicht Jahre dauren oder gar unmöglich ist) gezwungen, mit einem feurigen Lebhaften Temperamente gebohren selbst empfänglich für die Zerstreuungen der Gesellschaft, muste ich früh mich absondern, einsam mein Leben zubringen, wollte ich auch zuweilen mich einmal über alles das hinaussezen, o wie hart wurde ich dur[ch] die verdoppelte traurige Erfahrung meines schlechten Gehör’s dann zurückgestoßen, und doch war’s mir noch nicht möglich den Menschen zu sagen: sprecht lauter, schreyt, denn ich bin Taub, ach wie wär es möglich daß ich da die Schwäche eines Sinnes angeben sollte, der bey mir in einem Vollkommenern Grade als bey andern seyn sollte, einen Sinn denn ich einst in der grösten Vollkommenheit besaß, in einer Vollkommenheit, wie ihn wenige von meinem Fache gewiß haben noch gehabt haben – o ich kann es nicht, drum verzeiht, wenn ihr mich da zurückweichen sehen werdet, wo ich mich gerne unter euch mischte, doppelt Wehe thut mir mein unglück, indem ich dabey verkannt werden muß, für mich darf Erholung in Menschlicher Gesellschaft, feinere unterredungen, Wechselseitige Ergießungen nicht statt haben, ganz allein fast nur so viel als es die höchste Nothwendigkeit fodert, darf ich mich in Gesellschaft einlassen, wie ein Verbannter muß ich leben, nahe ich mich einer Gesellschaft, so überfällt mich eine heiße Ängstlichkeit, indem ich befürchte in Gefahr gesezt zu werden, meine[n] Zustand merken zu laßen – so war es denn auch dieses halbe Jahr, was ich auf dem Lande zubrachte, von meinem Vernünftigen Arzte[3] aufgefodert, so viel als möglich mein Gehör zu schonen, kamm er mir fast meiner jezigen natürlichen Disposizion entgegen, obschon, Vom Triebe zur Gesellschaft manchmal hingerissen, ich mich dazu verleiten ließ, aber welche Demüthigung wenn jemand neben mir stund und von weitem eine Flöte hörte und ich nichts hörte, oder jemand den Hirten Singen hörte, und ich auch nichts hörte,[4]

Zweite Seite des Autographs

{Zweite Seite des Autographs}

solche Ereignisse brachten mich nahe an Verzweiflung, es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben – nur sie die Kunst, sie hielt mich zurück, ach es dünkte mir unmöglich, die Welt eher zu verlassen, bis ich das alles hervorgebracht, wozu ich mich aufgelegt fühlte, und so fristete ich dieses elende Leben – wahrhaft elend, einen so reizbaren Körper,[5] daß eine etwas schnelle Verändrung mich aus dem Besten Zustande in den schlechtesten versezen kann – Geduld – so heist es, Sie muß ich nun zur führerin wählen, ich habe es – daurend hoffe ich, soll mein Entschluß seyn, auszuharren, bis es den unerbittlichen Parzen gefällt, den Faden zu brechen, vieleicht geht’s besser, vieleicht nicht, ich bin gefaßt – schon in meinem 28 Jahre[6] gezwungen Philosoph zu werden, es ist nicht leicht, für den Künstler schwere[r] als für irgend jemand – Gottheit du siehst herab auf mein inneres, du kennst es, du weist, dasß menschenliebe und neigung zum Wohlthun drin Hausen, o Menschen, wenn ihr einst dieses leset, so denkt, daß ihr mir unrecht gethan, und der unglückliche, er tröste sich, einen seines gleichen zu finden, der troz allen Hindernissen der Natur, doch noch alles gethan, was in seinem Vermögen stand, um in die Reihe würdiger Künstler und Menschen aufgenommen zu werden – ihr meine Brüder Carl und {Leerraum}, sobald ich Tod bin und Professor schmid lebt noch, so bittet ihn in meinem Namen, daß er meine Krankheit beschreibe, und dieses hier geschriebene Blatt füget ihr dieser meiner Krankengeschichte bey, zu damit wenigstens so viel als möglich die Welt nach meinem Tode mit mir versöhnt werde – zugleich erkläre ich euch beyde hier für meine die Erben des kleinen Vermögens, (wenn man es so nennen kann) von mir, theilt es redlich, und vertragt und helft euch einander, was ihr mir zuwider gethan, das wist ihr, war euch schon längst verziehen,[7] dir Bruder Carl danke ich noch in’s besondre für deine in dieser leztern spätern Zeit mir bewiesene Anhänglichkeit,[8] Mein Wunsch ist, daß ich euch ein bessers sorgenvolleresloseres Leben, als mir, werde, emphelt euren nach Kindern Tugend, sie nur allein kann glücklich machen, nicht Geld, ich spreche aus Erfahrung, sie war es, die mich selbst im Elende gehoben, ihr Danke

Dritte Seite des Autographs

{Dritte Seite des Autographs}

ich nebst meiner Kunst, daß ich durch keinen selbstmord mein Leben endigte – lebt wohl und liebt euch; – allen Freunden danke ich, besonders fürst Lichnovski und P[r]ofessor schmidt – die Instrumente von fürst L.[ichnowsky][9] wünsche ich, daß sie doch mögen aufbewahrt werden bey einem von euch, doch entstehe deswegen kein Streit unter euch, sobald sie euch aber zu was nüzlicherm dienen können, so verkauft sie nur, wie froh bin ich, wenn ich auch noch unter meinem Grabe euch nüzen kann – so wär’s geschehen - mit freuden eil ich dem Tode entgegen – kömmt er früher als ich Gelegenheit gehabt habe, noch alle meine Kunst-Fähigkeiten zu entfalten, so wird er mir troz meinem Harten Schicksaal doch noch zu frühe kommen, und ich würde ihn wohl später wünschen – doch auch dann bin ich zufrieden, befreyt er mich nicht von einem endlosen Leidenden Zustande? – Komm, wann du willst, ich gehe dir muthig entgegen – lebt wohl und Vergeßt mich nicht ganz im Tode, ich habe es um euch verdient, indem ich in meinem Leben oft an euch gedacht, euch glücklich zu machen, seyd es –


Ludwig van Beethowen

Heiglnstadt am 6ten october 1802


Vierte Seite des Autographs

{Vierte Seite des Autographs}

{am rechten Rand, um 90° gedreht}

für meine Brüder Carl und {Leerraum} nach meinem Tode zu lesen und zu vollziehen –


{Auf dem Kopf stehend}

Heiglnstadt am 10ten oktober 1802 – so nehme ich den Abschied von dir – und zwar traurig – ja dir geliebte Hofnung – die ich mit hieher nahm, wenigstens bis zu einem gewissen Punkte geheilet zu seyn – sie muß mich nun gänzlich verlassen, wie die blätter des Herbstes herabfallen, gewelkt sind, so ist – auch sie für mich dürr geworden, fast wie ich hieher kamm – gehe ich fort – selbst der Hohe Muth – der mich oft in den Schönen Sommertägen beseelte – er ist verschwunden – o Vorsehung – laß einmal einen reinen Tag der Freude mir erscheinen – so lange schon ist der wahren Freude inniger widerhall mir fremd – o wann – o Wann o Gottheit – kann ich im Tempel der Natur und der Menschen ihn wider fühlen – Nie? – nein – o es wäre zu hart




{Im Autograph folgen noch zwei Eintragungen von anderer Hand}

{unter dem Text, um 90° gedreht}

Erhalten am 21ten 9ber 1827 aus den Händen des Herrn Artaria et Comp. am Kohlmarkte.
Jak. Hotschevar

Erhalten aus den Händen des Herrn Jakob von Hotschevar.
Johanna van Beethoven.

Anmerkungen (Wikisource)

Als Quelle dient das Autograph Beethovens, das aus einem Doppelblatt mit drei beschriebenen Seiten besteht. Der letzte Absatz wurde am 10. Oktober 1802 auf der als Adresse dienenden vierten Seite zugefügt, nachdem das Schriftstück gesiegelt und gefaltet war. Das Autograph befindet sich in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek (ND VI 4281).

  1. An drei Stellen in dem Dokument ist anstelle eines Namens ein Leerraum gelassen. Beethoven gibt nur den Namen seines Bruders Kaspar Anton Karl (1774–1815) an und lässt den von Nikolaus Johann (1776–1848) aus. Womöglich war er im Zweifel, welchen Rufnamen er verwenden sollte, beide Brüder hatten nach ihrer Übersiedelung nach Wien ihre Rufnamen geändert: Karl Kaspar, ursprünglich Kaspar, nun Karl; Nikolaus Johann, ursprünglich Nikolaus, nun Johann. Vielleicht ist es aber auch ein Hinweis auf das gespannte Verhältnis zu Nikolaus Johann, den er einen „Pseudo-Bruder“ nannte.
  2. gemeint ist seine Ertaubung, deren Beginn nicht genau feststellbar ist. Beethoven äußert sich dazu in Briefen an Franz Gerhard Wegeler (29.6. und 16.11.1801) und an Carl Amenda (1.7.1801).
  3. Johann Adam Schmidt (1759–1809) – Professor der Anatomie und Chirurgie, Lehrer für allgemeine Medizin an der Josephsakademie – behandelte Beethoven seit 1801.
  4. Siehe: Franz Gerhard Wegeler und Ferdinand Ries, Biographische Notizen über Ludwig van Beethoven 1838, S. 98. Die Darstellung von Ludwig Rellstab – Aus meinem Leben, Teil 2, Berlin 1861, S. 257 –, angeblich auf einer Mitteilung von Ries beruhend, ist Fiktion, bei der zwei weit auseinderliegende Begebenheiten vermischt werden.
  5. Beethoven suchte von Mai bis Oktober 1802 die mineralhaltige Quelle der Badeanstalt in Heiligenstadt auf, um die gastritischen Beschwerden an denen er, verbunden mit heftigen Koliken, häufig litt zu kurieren. Beethoven befürchtete offensichtlich sein nahendes Ende, wie der Fortgang des Briefes zeigt.
  6. Auffällig ist die falsche Altersangabe. Beethoven war bereits 32 Jahre alt. Gewöhnlich hielt er sich für zwei Jahre jünger, da er glaubte 1772 geboren zu sein, weil der Vater den Dreizehnjährigen als „elf jähriges Wunderkind“ hatte auftreten lassen.
  7. Ries berichtet von Auseinandersetzung im Sommer oder Herbst 1802 mit dem Bruder Kaspar Karl, die bis zur Handgreiflichkeit gereichten. Beethoven soll dem Bruder anschließend einen Brief geschrieben haben, dessen Inhalt Ries folgendermaßen wiedergibt: „Eine schönere Moral hätte wohl keiner mit gütigerem Herzen predigen können, als Beethoven seinem Bruder über sein gestriges Betragen. Erst zeigte er es ihm unter der wahren, verachtungswerthen Gestalt, dann verzieh’ er ihm Alles, sagte ihm aber auch eine üble Zukunft vorher, wenn er sein Leben nicht völlig ändere“, s. Wegeler/Ries S. 88.
  8. seit 1801 half Kaspar Karl seinem Bruder zunehmend durch Erledigung von Geschäfts-Korrespondenz.
  9. Es handelt sich um ein „Streichquartett“, eine Violine und ein Violoncello von Guarneri, eine Geige von Amati und eine Bratsche aus dem Jahre 1690. Sie befinden sich jetzt im Beethovenhaus Bonn.


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