H. H. Pierson, op. 86 Concertouverture; Ladislaus Tarnowski, Joanna Gray

Textdaten
Autor: Hermann Zopff
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Titel: H. H. Pierson, op. 86 Concertouverture. – Ladislaus Tarnowski, Joanna Gray.
Untertitel:
aus: „Neue Zeitschrift Für Musik”, Leipzig, 1875, Jg 42, Bd 71, No 39, (24. September 1875), S. 377-379; u. No 40, (1. October 1875), S. 386-388.
Herausgeber: Verleger C. F. Kahnt
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: C. F. Kahnt
Drucker: Sturm und Roppe (A. Dennhardt) in Leipzig.
Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Neue Zeitschrift für Musik - Notizen und Artikel über Werke von Ladislas Tarnowski 1870-1878.pdf Commons
Kurzbeschreibung: Rezensionen
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[377]
Werke für Orchester.
H. H. Pierson, Op 86. Concertouverture zu „Romeo und Julie“ von Shakespeare. Leipzig, J. Schuberth. Part. 3 Mk. –
Ladislaus Tarnowski, Joanna Gray. Symphonisches Tongemälde zu des Autors gleichnamiger Tragödie. Wien, Kratochwill. –
Besprochen von Hrm. Zopff.


      Der Zufall fügt hier zwei Componisten zusammen, welche, wenn auch in Bezug auf Styl und Entwicklung grundverschieden, doch jedenfalls das Eine mit einander gemeinsam haben, daß beide von ächt fortschrittlichem Geiste erfüllt und von der Kritik meist nicht grade besonders glimpflich und human beurtheilt worden sind. So wenig es mir einfällt, stümperhafte Mittelmäßigkeit, unberechtigte Anmaßung oder unreife Excentricität in Schutz zu nehmen, so hemmend stellt sich doch der normalen Entwicklung so mancher begabten Natur noch immer der bei Weitem größte Theil der Presse entgegen, sei es mit brüsker oder gehässiger Rücksichtslosigkeit, sei es mit mindesten ebenso verderblicher übertriebener Lobhudelei talentvoller Anfänger. Mit selteneren anerkennenswerthen Ausnahmen ist besonders in der politischen Tagespresse die Kunstkritik bekanntlich noch immer großentheils in den Händen entweder von Dilettanten oder von engherzig verbissenen Fachleuten, von Leuten, deren Beschränktheit öfters viel gemeinschädlicher wirkt als dilettantisch harmlose Ignoranz und Oberflächlichkeit. Aber auch auf dem Gebiete der Fachpresse fördern manche als solche sich gerirende Blätter mitunter wunderbare Dinge zu Tage, welche auf sie ebenfalls ein seltsames Licht werfen müssen. Allerdings ist ja Niemand von uns unfehlbar, wem ist nicht schon ein lapsus c. passirt? Auch der Objectivste hat irgend ein Lieblingscapitel, ein Steckenpferd, das er sich hüten muß, zu häufig und bis ins Extrem zu reiten, jedem sind durch Naturell und Entwicklungsgang bestimmte Grenzen gesetzt, die nur ungewöhnlich unbefangene Frische der Anschauung und Energie des Charakters zu erweitern vermögen, jeder trägt gar zu gern eine bestimmte Brille, durch, die er, ob gerecht oder ungerecht, Alles zu beurtheilen liebt.
      Viel wichtiger dagegen erscheint die Gesinnung, mit welcher man an den oder das Beurtheilende herantritt, jene ächt collegialische Gesinnung, welche bei aller aufrichtigen Wahrheitsliebe von Wohlwollen, von dem unverhohlenen guten Willen getragen sein soll: anzuerkennen, wo sich Anerkennenswerthes findet, und bahnbrechen zu helfen dem noch nicht zur Anerkennung Gelangten, denn Anerkennung ist ja die unentbehrliche aber Lebenslust des Künstlers, besonders aber zu helfen und auf den rechten Weg zu leiten, wo sich Schwäche, Mängel, Irrthümer herausstellen. Nur zu oft findet sich aber die unbefangenere Gesinnung getrübt durch Leidenschaft, erregt durch allerhand ungerechtfertigte persönliche Beweggründe. Besonders häufig läßt sich die Jugend durch Leidenschaft zu unverantwortlichen Handlungen hinreißen, glaubt vor allen Anderen das Privilegium zu haben, die Druckerschwärze aus unedleren Motiven mißbrauchen zu dürfen.
      Kaum fühlt der junge Kritiker die Feder in seiner Hand und der kritischen Pluralis majestatis in seinem berauschten Gehirn, so fühlt er sich selbst auch als Großmacht. Vielleicht bloß, um einmal die Tragweite seines Einflusses zu erproben, kühlt er nunmehr an diesem aber jenem Collegen sein Müthchen, erstickt er mit einem Federstrich ein aufkeimendes Talent, vernichtet mit einem andern die Autorität eines Marx, Brendel oder Kiel, oder die Bedeutung eines Brahms, Franz [378] oder Bülow, voll triumphirenden Selbstgefühls stolz auf seine Großthaten herabblickend. Wie wichtig und bedeutungsvoll prangt ihm noch jedes selbstgeschriebene Wort gedruckt entgegen. Wehe daher Demjenigen, der mit ihm über eine Sache gleicher Meinung; natürlich hat jener diese Meinung von ihm gestohlen – im graden Gegensatze zum gereifteren Fachmann, welcher solche Übereinstimmungen mit Freuden begrüßt. Solche selbstgefällige Eitelkeit wuchert oft in lustiger Ueppigkeit in der Fachpresse, sie verräth sich am Meisten durch die kindlich lästige Wichtigkeit, mit der handwerksmäßige Verstöße, überhaupt Unwesentlichkeiten breit getreten worden, besonders, sobald nur irgend das liebe Ich dabei im Spiel. Hier glauben ferner manche Herausgeber oder Mitarbeiter allen persönlichen Haß, alle kleinlichen Vorurtheile, Bosheiten und hämischen Witze, die gar Nichts mit der großen Sache der Kunst gemein haben, ungestraft ablagern zu dürfen, unbekümmert darum, wie tief sie dadurch sich und die Fachpresse herabwürdigen. Was nicht in ihren Kram paßt, sei es eine Richtung oder eine Person, wird rücksichtslos verkleinert, mit Schmutz beworfen oder todtgeschwiegen. Grade Kunstblätter haben aber doch gewiß in erster Reihe die Pflicht, das Ideal, dem sie dienen oder zu dienen vorgeben, hoch und rein zu halten von verächtlichen Motiven, sowie lediglich gegen wirklich kunstschädliche Speculationen vorzugehen, aber auch hier ebenfalls nur in einem der Sache würdigen Tone! Wie dann aber, wenn der Mitarbeiter überhaupt kein Ideal will, sondern nur sich selbst, wenn ihm Ideal und Idealisten im Wege sind und Begeisterungen für eine bedeutende Erscheinung für ihn Modesachen, die mitgemacht werden müssen, wenn der junge Kritiker vor Nichts Achtung hat als vor dem baaren Erfolge? Wird man dann nicht noch immer an das Göthe’sche Wort erinnert: daß man das literarische Gebiet betreten müsse, um die Unredlichkeit der Deutschen in ihrer ganzen Größe kennen zu lernen! Vielleicht giebt diese durch immer neue bedauerliche Verirrungen hervorgerufene Excursion dem Leser manchen Aufschluß über unerklärlich leidenschaftliche Erscheinungen und veranlaßt ihn fortan, ihre Lauterheit und Glaubwürdigkeit erst etwas genauer zu prüfen. –

      Pierson’s Ouverture zu „Romeo und Julie“ zeigt dieselben zum Theil in der Eigenthümlichkeit seines etwas unsteten englischen Naturells begründeten Licht- und Schattenseiten des ächt fortschrittlichen Komponisten der früher in d. Bl. besprochenen Faustmusik. Fesselnde, geistvolle und tief gemüthvolle Charakterisirung der Situationen, Empfindungen und Konflikte des herrlichen Shakespeare’schen Dramas; nur nicht immer symmetrisch abgerundet genug ausgesprochen oder klar und entschieden genug herausgearbeitet, um überall zu vollster Wirkung zu gelangen. Andrerseits fesseln oft in hohem Grade geistvolle Benutzung der einzelnen Instrumente und deren Farbenmischung. Auch zeichnet sich das Werk vor dem Tarnowski’schen durch stylvollere Anordnung aus. Pierson beginnt mit folgendem Poco allegro appasionato:

An dasselbe schliesst sich ein allmählich bis zu dem Gipfel

sich steigernder Festesjubel voll südlich, ausgelassener Lebenslust. Plötzlich stockt er, Romeo’s erste Begegnung mit Julie tritt an seine Stelle, düstre Züge wechseln mit seelenvollen und sehnsüchtigen. Allmählich bricht sich der Jubel des Festes wieder Bahn, diesmal noch rauschender, glänzender, in breiterer Sextolenbewegung. Wiederum schneller Wechsel; Hangen und Bangen in schwebender Pein, welches sich in jenes schon das erste Mal, nur schüchterner aufgetauchte, süße Zwiegespräch auflöst:

jedenfalls die schönste Stelle des ganzen Werkes, nur leider hier wie auch die folgenden Male fast gar nicht weiter ausgeführt! Sie geht in den an Grabesluft mahnenden Anfang der Ouverture über. Letzterer erhebt sich bedeutender, Posaunen greifen ein, und allmählig gelangt eine immer versöhnender sich durchringende elegische Stimmung zur Herrschaft, wobei die Bässe ausdrucksvoll mitsprechen. Noch ein Anklang an jene süßen Liebesseufzer, und beseligend süß schmerzliches Aushauchen der von Sehnsucht erfüllten Seelen.

[379]

Diese letztere Schilderung ist im Allgemeinen von gewinnender Schönheit, wie überhaupt diese Ouverture wohl von allen Pierson’s in erster Reihe Beachtung verdient. –
(Schluß folgt.)




[386]
Werke für Orchester.

Ladislaus Tarnowski, Joanna Gray. Symphonisches Tongemälde zu des Autors gleichnamiger Tragödie. Wien, Kratochwill. –
      L. Tarnowski hat der Ouverture zu seiner „Joanna Gray” folgendes Programm beigegeben; „ländliche Stimmen im Park – sehnsüchtige Empfindung – Jagdscene – Jane Gray – Kampf der Parteien – Krönungsmarsch – Maria Tudor’s Wuth – zum Schaffot – Abschied vom Volke – Apotheose.” Der Komp. führt die „ländlichen Stimmen” mit folgendem sehr anziehenden Motiv der Vlcelle ein, welches eigentlich im 5/4 Tact notirt sein müßte

[387]

und ergeht sich mit demselben und ähnlichen z. B.

in geistvollem Spiel der verschiedenen Instrumente, den idyllischen Eindruck trefflich zeichnend, musikalisch jedoch sich, wie überhaupt meist bei T., selten in gefestigteren Perioden vollständig aussprechend. Diesen Stempel trägt überhaupt die ganze Ouverture. Wenig Gefühl für architektonische und symmetrische Anordnung der Motive und Tonarten, dagegen höchst fesselnde Charakterisirung, Schilderung und Instrumentirung. Die „sehnsüchtige Empfindung“ leitet das Horn ein:

nach Desdur etc., später in 6/8 Takt.

Die „Jagdscene“ macht die 4 Sechszehntel des ersten Motivs zur Fanfare und stürmt mit vielem Feuer wechselvoll dahin. – Jane Gray selbst führt T. mit dem bekannten Meistersingermotiv ein:

Dies halte ich besonders wegen des hier am Meisten fühlbaren Mangels an jeder Ausführung und Festigung für die am Wenigsten glückliche Partie, um so fühlbarer, je öfterer oder unvermittelter es wiederkehrt[1]. Von hier an hat es mir auch nicht mehr gelingen wollen, das Programm mit der Musik in Uebereinstimmung zu bringen. Auf die Wiederholung des Jane-Gray Motives folgt nämlich ein kurzer feierlich marschartiger Uebergang, hierauf ein leidenschaftlicher Anlauf zu folgendem in Anlage und Instrumentirung schönen Gedanken, auch etwas mehr ausgeführt und gesteigert.

An seine Stelle tritt in Bmoll agitato ein charaktervoll bedeutenderer, düsterer Uebergang mit grollenden Triolenbässen und scharfeinschneidenden Interjectionen. Die Stimmung wird wieder elegischer, bald jedoch tritt in den Bässen ein neues düster leidenschaftliches Motiv in Hdur dazwischen, aber nur 4 Tacte lang. Nun Adagio maestoso 4 Tacte lang mit dem Hduraccorde einleitende pianoAnapästen der Hörner und Fagotte, zu denselben auch tremolo’s von Pauke, Vlcellen und Contrabässen(?); auf fis, gis, fis mf 2maliges Aufstöhnen der Trompeten und Posaunen, und nun Beides nochmals. Generalpause und folgender gemüthvolle Gedanke (Hörner, Fagotte und Vclle):

an welchen sich wiederum das Motiv der Jane Gray schließt, und zwar erst in Fisdur und hierauf in Edur! Unvermittelt fährt in denselben ein charakteristisches Furioso stringendo (wahrscheinlich Maria Tudor’s Wuth) in 5/4 Tact. Nachdem [388] dasselbe gleich verschiedenen der vorhergehenden Sätze in einer Fermate geendet, erscheint ein düster unheimliches Adagio:

etc. die 2. letzten Takte ausgedehnter repet.
auch eine Erinnerung an die elegische Hdurcantilene. Nun führt ein Lento con dolore in den Anfang der Ouverture zurück. An denselben schließt sich eine Wiederholung des Desdursatzes, jetzt voller instrumentirt und mit Sexolengängen der Bässe, nochmalige Erinnerung an das Motiv der Jane Gray und nun als Apotheose einige langgehaltene verklärte Schlußaccorde (zweimal Edur, Asdur; dann Adur, Esdur, Asdur, Cdur) in den höchsten Lagen der Violinen und Harfe. – Aus diesem Referat geht deutlich genug hervor, daß die Ouverture an viel zu großem Reichthum von Gedanken leidet, welcher der Entwicklung der einzelnen selten Raum gestattet, und in enger Verbindung hiermit etwas zu souveräne oder achtlose Verachtung von „Handwerk“ und Form, welcher selten zum Genuß der Gedanken kommen läßt, mit wenigen dann um so wirkungsvolleren guten Ausnahmen mannichfaltige lose aneinandergereihte Reime und Anläufe, meist in Fermaten endigend, viele gleiche Ganzschlüsse und ähnliche Monotonien; auch abgesehn von in die Augen fallenden Schreibfehlern des Autographen unmotivirte Härten (z. B. S. 15 letzter Tact u. d gegen c, Uebergang von S. 74 zu 75, widerstrebende Auflösungen des Secundenaccordes etc.), kurz fast dieselben bedauerlichen Schattenseiten, wie in früheren Werken. Wer sich über dieselben hinwegzusetzen vermag, wird allerdings immerhin reiche Entschädigung in der Eigenthümlichkeit und ächt dramatischen Treue und Ausgeprägtheit der Charakteristik finden, desgleichen wie gesagt in der geistvollen Verwendung der Tonfarben der Instrumente. Diese Eigenschaften machen dem Unbefangenen das Werk trotz alledem sympathisch und verdient dasselbe jedenfalls die Beachtung freisinniger Dirigenten, wie dies auch schon an mehreren Orten mit keineswegs gewöhnlichem Erfolge geschehen ist. –

Z.

Anmerkungen Bearbeiten

  1. Bei Wagner dagegen erscheint es bekanntlich stets nur als gangartiges Mittelglied eines festgeschlossenen Satzes.