Gottfried Hermann: Eine Gedächtnissrede

Textdaten
Autor: Otto Jahn
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Titel: Gottfried Hermann
Untertitel: Eine Gedächtnissrede
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Erscheinungsdatum: 1849
Verlag: Weidmannsche Buchhandlung
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: GDZ Göttingen (Signatur CD 8 H L BI V, 7260) = Commons
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[1]
GOTTFRIED HERMANN.
EINE GEDÄCHTNISSREDE
VON
OTTO JAHN.


GEHALTEN AM 28. JANUAR 1849 IN DER ACADEMISCHEN AULA
ZU LEIPZIG.



LEIPZIG
WEIDMANNSCHE BUCHHANDLUNG.
1849.

[2] [WS: Stempel der Bibliothek] [3] Im Auftrag der Universität trete ich vor Sie hin, um das Andenken Gottfried Hermanns zu feiern. Ich habe mich zu dieser schwierigen Aufgabe nicht gedrängt, aber ich habe es für meine Pflicht erachtet, mich derselben nicht zu entziehen, für eine Pflicht gegen die Universität, welcher ich meine Kräfte darzubringen schuldig bin, da wo sie es verlangt, für eine Pflicht gegen mich selbst, weil sie mir das Recht giebt, eine lange gehegte innige Dankbarkeit und Liebe auszusprechen. Auch glaubte ich diesen Auftrag übernehmen zu können, weil ich mir sagen musste, dass eine erschöpfende Darstellung und Würdigung Hermanns an diesem Ort und zu dieser Zeit nicht erwartet werden könne. Ja, wenn ich nicht hoffen darf, vor Männern, welche den Verewigten zum grossen Theil länger als ich gekannt haben, Neues und Unbekanntes darzubringen, so werde ich meine Aufgabe als gelöst ansehen, wenn es mir gelingen sollte, in einfachen und treuen Umrissen Ihnen die gewohnten und verehrten Züge vor die Seele zu rufen.

Johann Gottfried Jakob Hermann ward am 28. Nov. 1772 in Leipzig geboren, wo sein Vater Senior des Schöppenstuhls war, ein Mann, der als brav und tüchtig allgemeine Achtung genoss, aber von wenig hervorragendem Geist und Charakter. Seine Mutter, eine geborne Plantier aus Halle, gehörte einer aus Frankreich eingewanderten Familie an. Sie war ausgezeichnet durch eine ausserordentliche Lebhaftigkeit des Geistes, welche sie bis in das hohe Alter von neunzig Jahren mit einem bewundernswürdigen Gedächtniss gepaart sich frisch und elastisch erhielt, in ihrem ganzen Wesen bis auf die kleinsten Ausdrücke interessant und eigenthümlich, in ihren Aeusserungen rasch und heftig. Aber sie [4] verband mit diesen Eigenschaften der Französin die echt deutschen eines tief warmen Gemüthes, strenger Sittlichkeit, und eines festen, unbeugsamen Willens. Sie war es, welche auf die Erziehung des Sohnes, der in allen Grundzügen seines Wesens ihr so ähnlich war, wie er auch in seinem Aeussern ihr glich, den entschiedensten Einfluss übte. Der Knabe war so schwach geboren, dass man Anfangs an seiner Erhaltung zweifelte, und entwickelte sich bei zarter Gesundheit nur langsam, so dass er erst mit zwei Jahren gehen und sprechen konnte, und zwar eher französisch als deutsch; später hatte er eine bestimmte Abneigung gegen die französische Sprache.

Bald offenbarte sich das feurige Temperament des Knaben in sprudelnder Lebendigkeit wie in Heftigkeit und Trotz, denen auch die strenge Zucht der nicht minder heftigen Mutter nicht gewachsen war, und sein erster Lehrer Ritter, ein gescheiter aber höchst wunderlicher und grillenhafter Mann, verstand weder ihn zu bändigen noch die Lust am Lernen in ihm zu wecken. Er mochte von den Büchern nichts wissen, tummelte sich in wilden Knabenspielen herum, und war fest entschlossen Soldat zu werden, womit denn freilich seine Eltern keineswegs einverstanden waren. So war er zwölf Jahr alt geworden, als er dem Manne anvertraut wurde, der, wie Hermann stets mit herzlicher Dankbarkeit aussprach, ihn zu zügeln und zu gewinnen verstand, und ihn auf den Weg leitete, welchen er nicht wieder verlassen hat. Karl David Ilgen war ein Mann von kräftigem, gewaltigem Charakter, der in einer harten Schule der Entbehrung und Anstrengung gestählt war, von festem Willen, den er mit Bestimmtheit aussprach und mit unerbittlicher Strenge durchsetzte; seine hohe Gestalt und seine bedeutenden Gesichtszüge, die starktönende Stimme, das ernste, bestimmte Wesen – Alles trug dazu bei ihm Ansehen und Respect zu verschaffen. Unbedingten Gehorsam und angestrengte Arbeit verlangte er von dem Knaben, der weder sich zu fügen geneigt war, noch bei den Büchern sitzen mochte; allein nach einigen vergeblichen Versuchen sich den lästigen Anforderungen zu entziehen, erkannte dieser, dass er seinen Meister gefunden habe, und alsbald gab er sich nun dem Lehrer ganz hin. Ilgens strenge Gerechtigkeit und echte Gutmüthigkeit, die unbefangne Heiterkeit und harmlose Theilnahme an dem kindlichen Sinne, welche unter seinem Ernst verborgen war, gewannen ihm rasch das Vertrauen und die Liebe seines Schülers. Nicht minder verstand er es, die ganze [5] Kraft und Lebhaftigkeit seines Geistes von dem bisherigen Spiel ab und dem Lernen zu zuwenden. Er selbst hatte eine gründliche und ausgebreitete Gelehrsamkeit mit auf die Universität gebracht, die er mehr seinen eigenen Studien als seinen Lehrern verdankte; er wusste die Lernbegierde seines Schülers zu reizen, der in neuen Schwierigkeiten stets einen Sporn zu neuer Anstrengung fand, und doch zu verhüten, dass seine Lebhaftigkeit nicht zur Flüchtigkeit wurde. Vieles war es nicht, das er mit ihm trieb; im Griechischen lasen sie in zwei Jahren (1784–1786) zwei Capitel aus Xenophons Memorabilien und vier Bücher der Ilias. Vor allen Dingen musste der Knabe selbst suchen und finden: eine Grammatik wurde nicht gebraucht, er selbst machte sich eine Grammatik der homerischen Sprache; sodann wurde Alles auf das Genaueste besprochen, von Allem Rechenschaft gefordert und die Gründe sorgfältig erwogen. Der Schüler, der seine ungeduldige Lebhaftigkeit unter der festen Hand seines Lehrers bemeistern musste, vergalt es diesem, indem er nun auch seinerseits nicht müde wurde ihn mit Fragen, Zweifeln, Bedenken zu bestürmen, so dass dieser alle Mühe anwenden musste, um ihm gerecht zu werden. So bildete sich zwischen beiden ein lebhafter Verkehr, der über die Lehrstunden hinausging.

In späteren Jahren sprach er stets mit freudiger Begeisterung von dem Glücke, dass er in diesem Unterricht gefunden, der die Grundlage einer treuen Freundschaft wurde, welche die Männer durch das ganze Leben verband, und von Hermann durch einen schönen Nachruf an Ilgen besiegelt wurde. Nach zwei Jahren war Hermann so weit fortgeschritten, dass er die Universität beziehen konnte (1786); er besass nicht nur im Griechischen und Lateinischen gründliche Kenntnisse, er hatte gelernt zu arbeiten, selbst zu denken und zu prüfen, und Schwierigkeiten wie Anstrengung nicht zu scheuen.

Nach dem Willen seines Vaters sollte er Jurisprudenz studieren, und hörte auch die Vorlesungen dieses Faches, allein seine Neigung und Studien blieben den alten Sprachen zugewandt. Die ausschliessliche Beschäftigung mit denselben gab damals nur unsichere Aussichten auf zureichende Versorgung, und mit nicht geringer Mühe wurde der Vater bewogen, seine Einwilligung zu geben, dass er der Jurisprudenz entsagte, und sich ganz der Philologie widmete. Es war hauptsächlich Reiz, durch dessen Verwendung dieses erreicht wurde; ihm war Hermann verwandt; [6] und trat ihm dadurch so nahe, dass jener den entscheidenden Einfluss auf seine Ausbildung als Mensch und Gelehrter gewinnen konnte. Wie bedeutend Reiz war, das lehren uns nicht so sehr seine wenigen Schriften, als die ehrende Anerkennung seiner Freunde und Schüler. Vor der Reinheit und Tiefe seines Charakters und Wissens beugte sich selbst F. A. Wolf, zu anerkennender Bewunderung sonst nicht geneigt. Und Hermann, in dessen Charakter Pietät und die Freude an dankbarer Erinnerung derer, die er liebte, ein so hervortretender Zug ist, ward nicht müde, seine Verehrung gegen ihn auszusprechen, und hat ihm mehr als ein schönes Denkmal seiner Liebe gesetzt. Mit tiefer Rührung erkennen wir in dem Bilde, das er uns von seinem hochverehrten Lehrer entwirft, die Züge wieder, welche uns in ihm selbst so edel und schön erscheinen; wie Reiz die Richtung seiner Studien bestimmt, zu seinen bedeutendsten wissenschaftlichen Arbeiten die erste Anregung gegeben hat, so ist er auch für seine sittliche Ausbildung das segensreiche Vorbild gewesen. Wohl dürfen wir es als eine grosse Gunst des Geschickes preisen, dass ihm wieder ein Lehrer zu Theil wurde, dem er sich mit ganzer Seele hingeben konnte, der erkannte, was ihm in diesem Schüler gegeben war, und seine volle Liebe und Sorgfalt auf ihn wandte, der fähig war, den ganzen, ungetheilten Menschen zu erfassen und zu bilden. Denn das ist es ja, was Hermann zu einer wahrhaft grossen Erscheinung macht, dass in ihm der Mensch und der Gelehrte, die wissenschaftliche Bedeutung und die sittliche Würde gar nicht zu trennen sind, dass seine wissenschaftliche Leistung stets auch eine sittliche That ist, dass wir in jeder Aeusserung den ganzen, einigen Menschen, den Mann im vollen Sinn des Wortes lieben und verehren müssen.

Friedrich Wolfgang Reiz war ein Mann von fleckenloser Reinheit und der edelsten Einfalt des Gemüthes, uneigennützig und aufopfernd, ohne alle Ansprüche und von der strengsten Wahrheitsliebe. Als Gelehrter war er ausgezeichnet durch die Genauigkeit und Präcision seines Wissens, das stets auf gründlicher Forschung und gewissenhafter Prüfung beruhte, die sich nicht mit empirischer Beobachtung genügte, sondern den Grund jeder Erscheinung zu erkennen bestrebt war. Seine Studien waren so weit umfassend, als im Einzelnen gründlich; nicht nur die Sprachen der Alten, in welchen er, wie man von ihm sagte, das ius de non appellando hatte, sondern auch ihre Geschichte, Alterthümer [7] und bildende Kunst waren Gegenstände seiner Untersuchungen; auf Veranlassung der russischen Regierung bereitete er sich auf eine antiquarische Reise nach Griechenland vor, welche zu seinem Leidwesen dann unterblieb. Seine Vorlesungen, welche er mit der grössten Gewissenhaftigkeit vorbereitete, waren durch einen wohldurchdachten, klaren Vortrag, welcher besonders im lateinischen Ausdruck ungemein treffend und präcis war, und durch die Methode musterhaft, welche mit gründlicher Bedächtigkeit Alles erwog, was zur Sache gehörte, aber Alles bei Seite liess, was überflüssig war. Kurz, man kann mit Wahrheit sagen, dass Reiz Alles leistete, was ein klarer, scharfer Verstand, verbunden mit dem angestrengtesten Fleiss ohne eigentliche Genialität zu erreichen vermag. Er wurde Hermanns Lehrer, nicht nur in seinen Vorlesungen, sondern im vertrauten häuslichen Verkehr war auch er vorzugsweise geeignet, das rasch lodernde Feuer seines genialen Schülers nicht zu dämpfen, aber zu mässigen, und das in ihm auszubilden, was ohne einen solchen Einfluss vielleicht weniger entwickelt worden wäre. Denn allerdings war das reine und rückhaltslose Streben nach Wahrheit in Hermanns Natur ebenso tief begründet, als der Eifer des angestrengten Arbeitens und die Freude Schwierigkeiten mit aller Anspannung seiner Kräfte zu überwinden; aber bei der ausserordentlichen Schärfe seines Blicks, bei der Leichtigkeit, mit welcher er immer Neues fand, bei dem stürmischen Drang, welcher ihn rastlos vorwärts trieb, konnte nichts heilsamer sein, als der Einfluss eines Mannes, der seinen glänzenden und glücklichen Eigenschaften volle Gerechtigkeit widerfahren liess und an ihnen seine Freude hatte, aber ihn bei jedem Schritt festhielt, von Allem genaue Rechenschaft verlangte, wie er sie selbst zu geben wusste, und ihm so die Nothwendigkeit fest einprägte, bei jeder Untersuchung auch dem Einzelnen und Geringen die aufmerksamste Sorgfalt zuzuwenden. Das würde ihm, bei dem entschiedenen Widerwillen gegen Alles blos Empirische, der in Hermanns Natur lag, nicht gelungen sein, wenn er nicht, philosophisch gründlich gebildet, das Bedürfniss seines Schülers nach rationaler Erkenntniss in gleichem Masse befriedigt und ihn stets darauf hingeführt hätte, nicht nur die Sache, sondern den Grund und innern Zusammenhang derselben als das eigentliche Ziel des Forschens zu betrachten. In seiner einfachen, unbefangenen Weise verkehrte er mehr als Freund und Mitforscher, denn als Lehrer mit ihm, was seinen Einfluss auf den [8] jugendlich strebenden Sinn nur erhöhte. Wie stark derselbe war, erkennen wir auch darin, dass ein grosser Theil der wissenschaftlichen Aufgaben, welche Hermann sich vorgesetzt hat, durch Reiz angeregt worden ist. Von der Metrik und Grammatik, den bedeutendsten Früchten der reizischen Disciplin zu schweigen, so wissen wir, dass er bei Reiz Vorlesungen über Aeschylus Agamemnon, Aristophanes Wolken, Aristoteles Poetik, Bion und Moschus, wie über Plautus Rudens hörte. So tief und nachhaltig übrigens der Einfluss war, den Reiz auf Hermann übte, so war doch seine eigenthümliche Anlage eine so bestimmte, er selbst hatte ein so sicheres Gefühl für das, wozu er berufen war, dass eine Einwirkung nur insoweit möglich war, als verwandte Elemente naturgemäss durch sie entwickelt wurden. Sowie Hermann in seinem Leben nie etwas versucht hat, das seinem innersten Wesen nicht gemäss gewesen wäre, und deshalb nie Zeit und Kraft nutzlos vergeudet hat, so ist er auch durch Reiz nicht zu den historisch-antiquarischen Studien geführt worden, die dieser mit Eifer betrieb, sondern nur auf dem Gebiet der alten Sprachen gab er sich ganz dem Einfluss des Lehrers hin, dem er aber an Frische und Tiefe der Empfindung für das geistige Leben und die Schönheit der Sprache und des Rhythmus, an genialer Freiheit und schöpferischer Kraft, an allem, was sich nicht erlernen lässt, weit überlegen war. Uebrigens war Reiz der einzige, welchen man in Wahrheit seinen Lehrer nennen kann, zwar hörte er noch andere Docenten, aber weder die beiden Ernesti, ziemlich mittelmässige Exegeten, noch Chr. Dan. Beck, an dessen philologischer Gesellschaft er Theil nahm, durch seine mehr auf mannigfaltige Kenntnisse als scharfe Methodik gerichteten Vorlesungen, konnten ihn wesentlich fördern. Eben so wenig Befriedigung fand sein Trieb nach philosophischer Ausbildung in den Vorlesungen bei Cäsar und Platner. Durch Ilgen und Reiz war er gewöhnt scharf zu denken, jeder Sache selbst auf den Grund zu gehen und keine Auctorität als solche gelten zu lassen, ja er war so zum Skepticismus geneigt, dass er eine Zeit lang jede Tradition als falsch betrachtete, und bei sich Alles aufbot das Gegentheil darzuthun, um auf diese Weise die Wahrheit frei von jedem Einfluss zu ermitteln. Platners mässiger Eklekticismus konnte ihm so wenig behagen, als der zierlich vornehme Vortrag, und doch besuchte er seine Vorlesungen und schrieb mit einem Eifer nach, der Platner selbst auffiel, dem er aus häuslichem Umgange wohl bekannt war. Da ergab denn eine [9] nähere Erkundigung, dass er nicht aufschrieb, was jener vortrug, sondern seine Widerlegung. Durch einen Zufall kamen ihm Kants Schriften in die Hände, die er mit unsäglichem Eifer studierte; er fasste den Entschluss nach Jena zu Reinhold zu gehen, einen Entschluss, den er ausführte, nachdem er über seine Abhandlung de fundamento iuris puniendi am 17. Oct. 1793 öffentlich disputiert hatte, – Magister war er bereits am 19. Dec. 1790 geworden. Ein halbes Jahr lang beschäftigte er sich hier ausschliesslich mit dem Studium der kantischen Philosophie. Die Erwartung, welche er von Reinhold gehegt hatte, wurde nicht ganz befriedigt; sein Bestreben, das System zu popularisieren und allgemein fasslich zu machen, war nicht für eine Natur geeignet, die mit glühendem Eifer in die Tiefe zu dringen suchte und die Schwierigkeiten nicht sich wegräumen lassen, sondern selbst überwinden wollte. So war er auch hier zumeist auf sich selbst angewiesen, und kehrte als ein ausgebildeter wenn gleich freier Anhänger der kantischen Philosophie zurück, welche er Anfangs in Vorlesungen über Kants Kritik der Urtheilskraft (1795) und Logik (1798) vortrug, und die seiner wissenschaftlichen Darstellung der Metrik und Grammatik das eigenthümliche Gepräge aufdrückte.

Wie tief auch in Hermann das Bedürfniss war, das in der kantischen Philosophie seine Befriedigung fand, wie sehr es auch für ihn eine innere Nothwendigkeit war, seine wissenschaftlichen Untersuchungen in derselben zu begründen, so dürfen wir doch unbefangener urtheilen und ohne Bedenken es aussprechen, dass das wesentliche und dauernde Verdienst derselben nicht in ihrer Abhängigkeit von dem kantischen System beruht. Ja ich glaube, man darf behaupten, dass so entschieden und charakterisch das logisch-rationale Element in Hermanns geistiger Organisation hervortrat, so gewiss er ein klarer, scharfer Denker war, doch die Eigenschaft des eigentlichen, systematischen Philosophierens nicht in seiner Natur lag. Das geht auch daraus hervor, dass selbst in jenen Werken das philosophische System vielmehr die Form für die Untersuchungen darbietet als die eigentliche Wurzel derselben bildet, und dass er selbst später mehr und mehr diese Form aufgab. Allein ich bin weit entfernt den bedeutenden Einfluss zu leugnen, welchen die ernste Beschäftigung mit der Philosophie auf seine ganze Ausbildung gehabt hat; nur umgebildet hat sie ihn nicht. Unleugbar ist jene logisch-rationale Anlage dadurch weiter gebildet und geklärt, und manche Ansicht, die in [10] seinem Wesen begründet lag, zum festen Princip ausgebildet worden. Dahin gehört der scharfe Unterschied zwischen Denken und Fühlen, zwischen Wissen und Glauben, den er theoretisch und praktisch festhielt, indem er die Kunst des Nichtwissens pries, die sich stets klar mache, was man wissen könne und was nicht, und weshalb nicht. Das trat besonders in seinen theologischen Ansichten hervor, wo er als Philosoph wie als Philolog für die wissenschaftliche Forschung die volle Freiheit von jeder Auctorität in Anspruch nahm, und Unbefangenheit und Klarheit von ihr verlangte; aber weil er dem Glauben keinen Einfluss auf die Wissenschaft zugestand, so erkannte er ihm auf seinem Gebiet die vollste Berechtigung zu, und wusste das Heilige heilig zu halten. Auch auf seine sittliche Ausbildung dürfen wir unbedenklich der kantischen Philosophie eine bedeutende Wirkung zugestehen, wie sie dieselbe in ähnlicher Weise auf die edelsten Männer unseres Volks ausgeübt hat. An sich selbst die strengsten Anforderungen zu machen, sich der Pflicht mit vollkommener Selbstverleugnung unterzuordnen, das als Recht erkannte ohne Scheu zu bekennen und zu thun, war ihm zum sittlichen Grundsatz geworden; aber dieser Grundsatz ging aus seiner Natur hervor, darum übte er ihn ohne Zwang und Anstrengung und mit milder Schonung gegen Andere.

Obgleich Hermann mit dem angestrengtesten Eifer seinen wissenschaftlichen Studien oblag, die ihn ganz erfüllten, war er doch nichts weniger als ein Stubensitzer. Sein Behagen an tüchtiger Leibesübung fand in weiten Spaziergängen und Fussreisen und ganz besonders im Reiten Befriedigung, für welches er eine leidenschaftliche Vorliebe fasste. Seine Eltern hielten ihn für zu schwächlich, um ihm das Reiten zu gestatten, und hatten keinen geringen Schrecken, als er ihnen eines Tages zu einem Besuche bei seinem Grossvater in Püchau zu Pferde folgte; der aber belobte ihn mit den Worten: «das hast du recht gemacht, mein Söhnchen!» Diese Vorliebe für die Pferde hat ihn bis in sein hohes Alter nicht verlassen; einem schönen Thier zuzusehen wurde er so wenig müde als es zu loben, ja er entwarf charakteristische Zeichnungen von Pferden, während er sonst nie zeichnete, und zäumte mit eigener Hand die Pferde auf, welche er seinen Knaben zu Weihnachten bescheerte. Nicht zufrieden ein kühner und gewandter Reiter zu sein, machte er die ganze Schule durch und brachte es auch im Reiten zu vollkommener [11] Meisterschaft. Mit einem Behagen, das er bei seinen Erfolgen in der Wissenschaft nicht bezeigte, erzählte er, wie er von einem Cavalerieoficier gefragt worden sei, ob er nicht bei der Reiterei gedient habe. Wie ernst und tüchtig er auch diese Beschäftigung auffasste, geht daraus hervor, dass er nicht nur in seiner philosophischen Begründung der Künste der Reitkunst einen Platz einräumte, sondern in späteren Jahren den Satz einer alten Reitschule lobte: «wer da will ein guter Reiter werden, der muss vor allen Dingen ein braver Mann sein.» Denn um gut zu Pferde zu sitzen, müsse man ein gutes Gewissen haben und in sich fest und ruhig sein; wie der alte Cato als erste Bedingung zur Tüchtigkeit in jedem Können und Wissen verlangte, dass man ein vir bonus sei. Seine ganze Erscheinung hatte dadurch einen eigenthümlichen Charakter bekommen; Haltung und Gang verriethen den Reiter, wie auch die Kleidung, besonders die Stiefeln und Sporen, welche er seit seinen Studentenjahren beständig trug. Damit hatte er freilich nicht weniger Anstoss gegeben, als da er nach seiner Magisterpromotion Zopf und Haarbeutel auf immer von sich that. «Denken Sie denn mit ihren Sporen durch die Welt zu kommen?» fragte ihn einmal Platner, aber dergleichen irrte ihn nicht.

Mit Hermann war eine Anzahl lebhafter und talentvoller Studiengenossen eng verbunden, Ernst Platner, Heinroth, Clodius, Volckmann, Menzel, der einzige Duzbruder Hermann’s. Meistens kamen sie im Bose’schen Garten zusammen, dort ging man, nicht selten in mondhellen Nächten, spazieren, es wurden Gedichte gemacht und kritisiert, mit grossem Eifer disputiert, wo denn Hermann stets bereit war zu opponieren oder Paradoxen zu vertheidigen und des Wehrlosen und Unterdrückten sich kräftig anzunehmen. Die französische Revolution liess es an Stoff zu lebhafter Unterhaltung nicht fehlen, wobei Hermann sich meistens als einen weniger enthusiastischen Verehrer der Republik zeigte, als manche seiner Freunde. Dieser Kreis ist zum Theil zerstreut worden, zum Theil lösten sich die Bande; später ist Hermann mehr zu Jüngeren, namentlich Schülern, in freundschaftliche Verhältnisse getreten. Auch mit Frauen verkehrte er gern, und der feurige, geistvolle junge Mann war bei ihnen wohl gelitten, da er ihnen im Umgange mit anmuthiger Feinheit und ächter Ritterlichkeit begegnete; bei näherer Bekanntschaft liebte er es sehr sich mit ihnen zu necken, wo er ihnen denn lebhaft zusetzte, aber immer in der unbefangensten Heiterkeit und mit harmloser Gutmüthigkeit. Auch über diesen [12] leichteren Verkehr hinaus war er den Frauen ein ritterlicher Beschützer und flösste ihnen das Vertrauen ein, an ihm eine sichere Stütze zu finden, wodurch zu mehreren ein näheres freundschaftliches Verhaltniss begründet wurde, an dem er mit aufrichtiger Treue hielt.

Nachdem Hermann aus Jena zurückgekehrt war habilitierte er sich am 18. Octbr. 1794 durch Vertheidigung seiner Abhandlung de poeseos generibus und eröffnete im folgenden Jahr seine Vorlesungen über Kant’s Kritik der Urtheilskraft und Sophokles Antigone. Seine Erfolge als Lehrer und Schriftsteller waren so entschieden, dass ihm schon 1797 eine ausserordentliche Professur übertragen wurde, welche er am 28. März 1798, nachdem kurz zuvor sein Vater gestorben war (22. März), mit einer Rede auf Reiz öffentlich antrat. Sogleich bei seinem ersten Auftreten schlug er auf das Bestimmteste ausgeprägt die Richtung ein, welche er in der Wissenschaft bis an sein Ende treu und fest eingehalten hat. Dieses Festhalten an sich selbst ging weder aus Beschränktheit noch aus Mangel an Beweglichkeit hervor; es war die Wirkung eines inneren Triebes, welche alle wahrhaft genialen Naturen mit unwiderstehlicher Macht auf das hinweist, was ihr wahrer Beruf ist. Nicht wenige können nur nach Kampf und Noth dieser innern Stimme Gehör geben, und oft ist dann ihre beste Kraft gebrochen; Hermann war darin glücklicher. Er war so ganz und gar gesund, in sich selbst so einig und klar, dass man mit Wahrheit sagen kann, er habe nie geschwankt; im sittlichen wie im wissenschaftlichen Leben prüfte er gewissenhaft, aber ohne Grübeln, ohne Kampf, ohne Selbstentzweiung war er zu dem entschieden, was seiner Natur gemäss war; wenn etwas Fremdes sich ihm aufdrängte, wurde es rasch und ohne allen Zweifel beseitigt. Das Gebiet seiner wissenschaftlichen Leistungen war die Sprache. Sein Verdienst ist es, dass er die Sprache nicht als ein Aggregat äusserer Erscheinungen nach abstracten Regeln geordnet, sondern als ein lebendiges Erzeugniss des menschlichen Geistes aufgefasst hat, das denselben nothwendigen Gesetzen folgt, welchen dieser unterthan ist, und nur aus diesen begriffen werden kann, dass er aber auch die künstlerische Freiheit und Schönheit der Sprache in gleichem Masse anerkannte und zur Klarheit brachte. Diese beiden Elemente der strengen Gesetzmässigkeit des Gedankens und der freien künstlerischen Empfindung und Gestaltung, welche in der Sprache selbst untrennbar walten und schaffen, waren in Hermann’s geistigem Wesen beide gleich scharf ausgeprägt, [13] aber in vollkommenem Gleichgewicht miteinander brachten sie jene unwiderstehlich hinreissende Harmonie seines Wesens hervor. Dieses Verdienst sichert ihm nicht nur in seiner Wissenschaft den ehrenvollsten Platz, es weist ihm auch in der allgemeinen Entwickelungsgeschichte des deutschen Geistes eine eigenthümliche und bedeutende Stellung an. Seitdem Winckelmann von der bildenden Kunst aus eine geistige Auffassung des Alterthums eröffnete, haben die grössten und edelsten Geister unseres Volks aus dieser Quelle geschöpft und die Ausbildung unserer Litteratur steht in einem fortdauernden Wechselverhältniss zu der Erkenntniss des Alterthums. Hermann hat nicht, wie unsere grossen Schriftsteller, unmittelbar auf die Fortbildung der Litteratur eingewirkt, aber indem er die künstlerische Auffassung der Sprache, der Rhythmen, und dadurch der antiken Poesie, wie Winckelmann die der bildenden Kunst, erschloss, hat er mittelbar wesentlich zu dem grossen Bau unserer Litteratur mitgewirkt, und es ist ein glücklicher Gedanke, der ihm zwischen Lessing und Kant einen Platz anwies.

Hermann fand die Behandlung der alten Sprachen als eine rein empirische vor. Die holländischen und englischen Philologen, durch Fleiss und Sorgfalt, zum Theil auch durch Scharfsinn ausgezeichnet, waren nicht über einzelne Beobachtungen hinausgekommen, aus denen man Regeln abstrahierte, welche mechanisch angewandt wurden und in schwierigen Fällen meistens im Stich liessen. Die deutsche Philologie konnte sich theils von der langen Abhängigkeit von der Theologie nicht ganz erholen, theils war sie, hauptsächlich durch Heyne’s Einfluss, den sprachlichen Forschungen abgewandt. Hermann hatte gegen alles rein Empirische eine natürliche Abneigung und liess ein auf diesem Wege gewonnenes Resultat zwar gelten, aber ungern und fast mit Widerstreben; er selbst schenkte sich die Mühe der genauesten Beobachtung, der sorgfältigsten Erforschung des Einzelnen nie, aber er legte gar keinen Werth darauf, weil er das dadurch gewonnene factische Resultat nur als die Basis für die eigentlich allein wichtige Frage nach dem Grunde ansah; wenn diese gelöst war, war ihm der vorbereitende Apparat gleichgültig; was zum Zwecke nöthig war, theilte er mit, wo es erforderlich schien vollständig, übrigens hielt er sich alles fern, was Sammelei und Notizenkram war, und mit dem zu prunken, was nothwendige Vorbereitung der wissenschaftlichen Arbeit war, lag vollends nicht in seiner Art. Daher seine Schriften von der reichen Fülle, welche ehemals für das nothwendige Resultat gründlicher [14] Gelehrsamkeit galt, sich durch die knappe Beschränkung auf das Nothwendige sehr unterschieden. Dies war dadurch gerechtfertigt, dass er stets der Sache selbst ohne alle Umschweife auf den Grund ging. Wie er nie eine Auctorität als solche anerkannte, so liess er auch die Auctorität der aus Beispielen abstrahierten Regel nicht gelten, um so weniger, je zusammengesetzter sie war, je mehr Unterabtheilungen und Ausnahmen sie aufzählte. Das war ihm der sicherste Beweis, dass man noch nicht den wahren Grund erkannt habe, der immer einfach und klar sei. Daher war es stets seine Aufgabe, das Gesetz des Denkens aufzufinden, das die Spracherscheinungen in sich fasst, nothwendig wie das Gesetz der Natur und unverrückbar, aber eben dadurch die Grundbedingung der wahren Freiheit, die in der Anerkennung der nothwendigen Schranken beruht. Diese Auffassung liess ihn nicht die Sprache als das Material zu philosophischen Abstractionen betrachten, sondern mitten in dem vollen Strome ihres reichen Lebens erkannte er die verborgenen Quellen. Das System der griechischen Sprachlehre, das er in der Schrift de emendanda ratione grammaticae graecae (1801) begründete, ist nicht vollendet; es ist möglich, dass die Aufforderung, die Schrift des Viger de praecipuis graecae dictionis idiotismis zu bearbeiten (1802), dazu beigetragen hat, und vielleicht haben die hier niederlegten Bemerkungen für das richtige Studium der griechischen Sprache in weiten Kreisen mehr gewirkt als es das philosophisch begründete System vermocht hätte.

Hermann’s feines Gefühl und sicherer Takt für die Spracherscheinungen in ihren verschiedensten Nüancierungen, wie sie durch die Verschiedenartigkeit der Zeit, der Stilgattungen, der Individualität der Schriftsteller bedingt werden, wurde durch seine Weise zu studieren sehr gefördert. Einfach, wie seine ganze Natur und sein Wesen, war auch seine Methode. Vieles, Verschiedenartiges zu gleicher Zeit zu treiben war ihm nicht möglich, sondern Eins trieb er ganz. So las er auch nur einen Schriftsteller, meistens rasch, um immer den vollen Eindruck des Ganzen frisch auf sich wirken zu lassen, aber oft hintereinander, so dass er bei erneueter Lectüre immer Anderes ins Auge fasste, um den Schriftsteller bis in seine feinsten Eigenthümlichkeiten klar und sicher zu erkennen. Dieses Verfahren stärkte auch sein von Natur treffliches Gedächtniss; in seinen Vorlesungen über Poetik führte er die Beispiele, oft lange Stellen, nicht bloss aus alten Dichtern, meistens aus dem Gedächtniss an, und mit dem Homer war er so vertraut geworden, [15] dass er glaubte, die Ilias mit Ausnahme des Katalogs und einzelner gleichgültiger Stellen, wo er sich in Formeln irren könne, aus dem Gedächtniss herstellen zu können. Auch legte er sich nie weitschichtige Adversarien und Collectaneen an; jede Untersuchung führte ihn wieder zu den Quellen zurück: deshalb machen seine Arbeiten nie den Eindruck des stückweise Zusammengesetzten, man fühlt in ihnen unmittelbar den frischen Hauch des Alterthums, und mit Wahrheit konnte er von sich sagen, was er wisse, das habe er nicht durch mühselige Arbeit erworben.

Die entschiedene Richtung seines Talents und seiner Forschung auf die Sprache haben auch die Auffassung der Philologie bestimmt, der er stets gefolgt ist. Denn obwohl Reiz geschichtliche Forschungen in den Kreis seiner Studien zog, obwohl Heyne und Wolf das Gebiet der Philologie bedeutend erweitert hatten, so sah Hermann doch die sprachlichen Studien als den eigentlichen Mittelpunkt der Philologie an, sowohl weil in ihnen das einzige Mittel zur Erkenntniss des Alterthums geboten sei, als auch weil die Sprache das edelste Erzeugniss des menschlichen Geistes und in der Litteratur der Alten der reichste und höchste Gewinn menschlicher Kunst erhalten sei. Dass auch andere Seiten des Alterthums der Forschung würdig seien, läugnete er nicht, aber theils sah er hier nur die Resultate der sprachlichen Forschung, theils wollte er den Unterschied zwischen Philologie und Geschichte gewahrt wissen. Jedesfalls war er im Recht, wenn er die Unterscheidung einer sprachlichen und sachlichen Philologie ebensowenig zugeben wollte, als dass die Beschäftigung mit historischen Gegenständen unzulängliche Kenntniss der Sprache und unmethodisches Verfahren rechtfertigen könne. Dass aber diejenigen Theile der Alterthumsforschung, welche mit sprachlichen Studien nicht unmittelbar zusammenhängen, von ihm selbst nur gelegentlich betrieben und in ihrem vollen, selbstständigen Werth nicht hinreichend anerkannt wurden, lag in der Eigenthümlichkeit seines Geistes begründet. Sein künstlerisches Talent und Interesse war auf die Sprache, namentlich auf die Poesie gerichtet, für andere Künste, die bildende und die Musik, war er nicht ohne Empfänglichkeit, allein eine dauernde, innere Theilnahme gewannen sie ihm nicht ab. Aehnlich verhielt er sich gegen die historische Forschung; er verkannte ihre Bedeutung nicht, hervorragende Leistungen, wie die niebuhrschen studierte und verehrte er, allein es war nicht sein eigentliches Element, die logische Entwickelung in der Geschichte in ihren allgemeinen [16] Zügen war es, die ihn anzog und befriedigte. So wie es dagegen eine sprachliche Erscheinung galt, bewährte sich in ihm ein feiner historischer Sinn. Bezeichnend ist dafür die Art, wie er an der wolfschen Frage über die homerischen Gedichte, die ihn lebhaft in Anspruch nahm, sich betheiligte. Auf die historischen, vorbereitenden Untersuchungen, durch welche Wolf die Frage in Angriff genommen hatte, liess er sich kaum ein, dagegen fasste er sogleich die Hauptfrage nach den innern Gründen ins Auge, welche die Annahme verschiedener Dichter unterstützten, und machte wiederholt auf Widersprüche, auf Verschiedenheiten in der dichterischen Behandlung, im Sprachlichen und Metrischen aufmerksam, er als der einzige, der in diesem Sinne auf die Frage einging, in welchem sie jetzt Lachmann ihrer Lösung entgegengeführt hat, und es ist bekannt, dass er ähnliche Untersuchungen auch über die homerischen Hymnen und den Hesiodus anstellte. Das schönste Denkmal der Art aber ist die Abhandlung über den Orpheus, ein Muster scharfer Beobachtung und feinen Taktes, in welcher auf dem Wege metrischer und sprachlicher Forschung Resultate von unzweifelhafter Sicherheit für die Litteraturgeschichte gewonnen sind. Nicht minder charakteristisch ist die Stellung, welche er zur Mythologie einnahm. Seine Ansichten über das Wesen und die Bedeutung des Mythos enthalten viel Wahres und Treffendes, aber es sind bestimmt rationale Vorstellungen über die allgemeinsten Fragen der Mythologie, wobei der Phantasie fast gar kein Recht eingeräumt wird, und ohne auf die concrete historische Entwickelung näher einzugehen. Bei der Behandlung des Einzelnen tritt sofort die Sprache in den Vordergrund und das Hauptmittel für die Mythendeutung ist ihm die Etymologie; diese aber übt er mit einer Meisterschaft, dass man, abgesehen von dem wissenschaftlichen Resultat, namentlich an der genialen Kühnheit der lateinischen Uebersetzungen, den reinsten Genuss empfindet. Allerdings ist aber auch die Wichtigkeit der Etymologie für die Mythologie ebenso anerkannt, als es ausser Frage steht, dass gerade hier der Forschung die verschiedensten Wege geöffnet sind.

Die Würdigung des Künstlerischen in der Sprache musste ihn nothwendig auf dasjenige Element führen, das künstlerischer Gestaltung vorzugsweise fähig ist, das rhythmische, und mit Recht ist er als Begründer der Metrik allgemein gekannt. Denn «allein Bentley», sagt er selbst, «der erste unter den Kritikern, verstand den Rhythmus der Alten so gut, wie ihre Sprache: aber, wie ein [17] Dichter sagte er nur, was er fühlte, und überliess dies Gefühl Anderen zu entwickeln. Keiner that es: denn keiner fühlte, wie Bentley.» So ging selbst die Kenntniss der gewöhnlichen Metra fast ganz verloren, Bentleys Lehren galten für thörichte Einfälle. Erst gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts erweckte das regere Studium der griechischen Tragiker auch die Aufmerksamkeit auf die Metra derselben, aber wie in grammatischen Fragen, brachte man es nur zu einer empirischen Silbenzählerei, und auch dies nur für die geläufigeren Masse. Selbst Reiz, dem Hermann auch die Anregung zu den metrischen Studien und die Erkenntniss und Verehrung für Bentleys grosses Vorbild verdankt, stand noch auf diesem Standpunkt, und Porson, als Kritiker durch Scharfsinn, Sorgfalt und Gründlichkeit hervorragend, kam in der Metrik, auf die er zuerst wieder das Studium lenkte, nicht über empirische Beobachtungen des Gewöhnlichsten hinaus. Hermann war es, der mit genialer Kühnheit die Bahn brach. Er durchforschte das ganze Gebiet der alten Poesie und entdeckte auch in der scheinbaren Willkühr der freien lyrischen Masse Ordnung und Gesetz. Unbekümmert um die Auctorität der alten Grammatiker drang er in das Wesen des Rhythmus ein und bestimmte aus dieser Einsicht die nothwendigen, allgemeinen Gesetze der Metrik. Gestützt auf die sorgfältigste und schärfste Beobachtung erklärte er die einzelnen Masse und ihren Gebrauch, ihre Verbindung zu grösseren Gruppen, die in der strophischen Composition ihr höchstes Ziel erreicht, er wies die strenge Gesetzmässigkeit und die geniale Freiheit in der metrischen Kunst der Alten nach, und verfolgte die Entwickelung derselben in ihren einzelnen Spuren. In allen wesentlichen Punkten stellte er gleich zu Anfang in der Schrift de metris (1796) mit sicherer Hand das ganze Gebäude fertig hin; im Einzelnen wurde er nicht müde, an dieser Aufgabe seines Lebens zu bessern und zu feilen. Auch praktisch führte er seine Ansichten gleich an der schwierigsten Aufgabe, am Pindar, durch. Heyne, der mit grammatischer und metrischer Kritik nicht eben vertraut war, ersuchte ihn, dieselbe am Pindar zu üben, und unter seiner kühnen und kunstgeübten Hand entwickelte sich aus dem, was man höchstens als eine Art von Streckversen angesehen hatte, die prachtvolle Gliederung der chorischen Lyrik (1798); nicht minder neue Aufschlüsse gab er über die pindarische Sprache, und bahnte der Kritik desselben, die er durch geniale Emendationen, wie Niemand ausser ihm, gefördert hat, den Weg, auf dem später Böckh fortgeschritten ist. Er hatte aber durch [18] diese Leistung sogleich seine wissenschaftliche Stellung fest begründet; nicht nur die Fachgenossen freuten sich bewundernd der neuen Aufklärung, auch in weiteren Kreisen fanden diese Studien, besonders seit der deutschen Bearbeitung der Metrik (1799), Beachtung und Theilnahme. Bei dem allgemeinen Aufschwung der poetischen Thätigkeit machte sich damals das Streben geltend, auch in der Vollendung der Form sich den Mustern des Alterthums zu nähern; wie willkommen musste ein Werk wie die Metrik sein. Besonders Goethe, der damals mit der Achilleis und der Helena beschäftigt war und genauer in das Wesen der antiken Versmasse einzudringen strebte, nahm den regsten Antheil daran, und als er bald darauf nach Leipzig kam (1800), trat er eines Abends unerwartet zu dem erstaunten Hermann ins Zimmer. In dem Gespräche, das sich über Verskunst zwischen ihnen entspann, forderte ihn endlich Goethe auf eine deutsche Metrik zu schreiben, was Hermann mit dem Bemerken ablehnte, es sei Goethe’s Aufgabe, die deutsche Metrik zu schaffen. Die so angeknüpfte freundschaftliche Verbindung wurde sowohl durch Briefe als persönliche Begegnung, namentlich in Karlsbad, wo sie 1820 zusammentrafen, unterhalten. Wir wissen, wie hoch Goethe Hermann schätzte und mit welchem Interesse er wiederholt auf seine Forschungen einging; man kann leicht ermessen, welche Freude beide Männer von griechischer, in so mancher Beziehung einander nahe verwandter Natur im persönlichen Verkehr empfunden haben.

Wie tief und wahr Hermann’s Gefühl für die alten Sprachen war und wie sehr man Recht hat es ein künstlerisches zu nennen, zeigt am Besten die Art wie er sie beherrschte und selbst zur Darstellung brachte. Wer von Hermann einen Chorgesang oder eine pindarische Ode lesen hörte, der wurde ergriffen von der Begeisterung, Kraft und Klarheit seines Vortrags, in welchem sich die feinste Empfindung für das Schöne in den Rhythmen mit dem sichern Verständniss derselben durchdrang, so dass der Hörer, auch wenn er sich darüber keine Rechenschaft ablegen konnte, von dem Zauber dieser melodischen Sprache gefesselt und hingerissen wurde. Wenn dieses unmittelbar in Hermann’s Persönlichkeit lag, so ist dagegen seine Meisterschaft in der lateinischen Sprache allgemein bekannt, und man kann mit Zuversicht behaupten, dass ihn Niemand darin übertrifft, ja kaum Einer erreicht. Er redete und schrieb die lateinische Sprache nicht wie eine angelernte und fremde, sondern wie die eigene und angeborne, und [19] wenn man zugiebt, dass sie so in Rom nie gesprochen worden ist – er liess sich einzelne Nachlässigkeiten im Ausdruck entschlüpfen, die zu verbessern es keines Hermann bedarf, – so ist nicht minder gewiss, dass sie ebenso echt antik als der eigenthümliche Ausdruck seines Charakters, wahrhaft sein Stil ist. Wer auch nur einen Satz von ihm liest, dem wird Hermann in seiner ganzen Eigenthümlichkeit, ja der Ton seiner Stimme, seine Bewegung, der ganze Mann vor der Seele stehn. Was man von der römischen Sprache rühmt, männliche Kraft, Ernst und Würde, Klarheit und Deutlichkeit, Witz und Laune sind ebensoviel Eigenschaften Hermann’s und in seiner Schreibart aufs Bestimmteste ausgeprägt. Vornehmlich zeichnet diese aber ein ebenso sicheres Gefühl für Tonfall und Wortstellung, als für die feinsten Schattierungen des Ausdrucks, je nach Verhältniss der Darstellung, aus, worin der sicherste Massstab für die echte Empfindung des wahrhaft Lebendigen in der Sprache beruht. Das zeigt sich namentlich in seinen Gedichten, die man in Wahrheit so nennen darf und in denen Versmass und Ausdrucksweise aufs Bewunderungswürdigste mit einander, dem Gegenstande angemessen, harmonieren. Die wenigen griechischen Gedichte, welche er nur zum Spiel gemacht hat, wie die köstlichen Uebersetzungen aus Schiller’s Wallenstein, beweisen hinlänglich, in welchem Grade er auch diese Sprache beherrschte. Er hatte die Muttersprache darüber nicht vernachlässigt; zwar sprach er, wenn es Repräsentation galt, lieber lateinisch, sein deutscher Stil aber ist zwar ungemein einfach und durchaus schmucklos, aber klar, präcis, kräftig und körnig. Er war keineswegs den alten Sprachen so einseitig zugethan, dass er gegen die neuern Dichter gleichgültig gewesen wäre. Vor allen verehrte er, wie sich erwarten lässt, Lessing, dann Goethe, der ihm als der einzige Grieche unter den Deutschen zu leben schien, und Schiller, der ihm in gewissen Beziehungen noch höher stand; Klopstock und Utz waren ihm noch aus jugendlichen Erinnerungen geläufig. Auch der altdeutschen Poesie hatte er, zunächst durch persönliche Verhältnisse angeregt, Aufmerksamkeit zugewandt. Der französischen[WS 1], englischen und italiänischen Sprache war er mächtig, von ihrer Litteratur beschäftigten nur Shakespeare und Dante ihn dauernd. Bei dieser bestimmten Richtung auf die Poesie kann eine Neigung, die ihn ausser seinen eigentlichen Studien lebhaft beschäftigte, fast Wunder nehmen, die zu mathematischen Aufgaben und vorzugsweise zu schwierigen und verwickelten Rechnungen. Nicht nur dahin gehörige [20] Aufgaben aus dem Gebiete der alten Litteratur suchte er mit Vorliebe zu lösen, sondern ganz selbständig stellte er für sich mit Eifer und Geschick grosse Rechnungen an, offenbar angezogen durch die Strenge und Sicherheit der mathematischen Methode.

Die sprachlichen und metrischen Studien Hermanns hatten allerdings ihr Ziel und ihre Befriedigung in sich, allein ihre praktische Bewährung fanden sie in der Behandlung der allen Schriftsteller, zu deren vollem Verständniss sie den Weg bahnen sollten. Hermanns Behandlung der alten Schriftsteller war vorwiegend kritisch. Nicht als ob er darein das ganze Geschäft des Philologen gesetzt hätte; er erkannte und sprach es aus, dass Kritik und Erklärung einander nothwendig ergänzen, von einander getrennt nicht gedacht werden können, und nur in enger Verbindung und Wechselwirkung zum vollkommenen Verständniss führen. Aber da er, namentlich in seinen Schriften, hauptsächlich dahin sein Augenmerk richtete, wo Schwierigkeiten zu heben, Hülfe und Heilung zu bringen war, so trat hier allerdings praktisch die Kritik in den Vordergrund. Nie aber hat er die Kritik um ihrer selbst willen geübt, eine Conjectur vorgebracht, weil sie scharfsinnig und scheinbar war oder mit einem Aufwand von Gelehrsamkeit unterstützt werden konnte; das widerstand gleich sehr der Einfachheit und Wahrheit seines Charakters. Auch darin unterschied er sich von der früher geltenden Weise der Philologen, denen es meist als die Hauptsache erschien, ihre Geschicklichkeit in der Technik und ihre Herrschaft über den gelehrten Apparat glänzend zu bewähren; waren jene Virtuosen, so bewährte Hermann sich auch hier als Künstler. Auch war seine Kritik im Wesentlichen eine künstlerische. Jene diplomatische Kritik, wie sie von I. Bekker und Lachmann ausgebildet worden ist, welche durch sorgfältige Vergleichung und Abschätzung der Handschriften die Tradition des Textes ermittelt und im engen Anschluss an dieselbe Schritt für Schritt sich dem Ursprünglichen zu nähern sucht, hat er nicht geübt. Zum Theil lag das allerdings in der Ueberlieferung der Schriftsteller, mit welchen er sich vorzugsweise beschäftigt hat, aber es widerstrebte auch seiner Natur. Ihm schien dabei dem Materiellen und Technischen zu viel eingeräumt; den Handschriften schenkte auch er sorgfältige Beachtung und Prüfung, aber sie galten ihm meist nur für das Handwerkszeug, mit dem der Kritiker in freier Kunstübung schaltet. Seine Kritik war divinatorisch; nachdem er durch scharfe, nüchterne Prüfung sich von der Verderbniss und ihrer [21] Art überzeugt hatte, versetzte er sich an die Stelle des Schriftstellers und schuf ihm nach. Daher sind seine Vermuthungen oft kühn und gegen die Ueberlieferung gehalten nicht wahrscheinlich, allein stets so beschaffen, dass der Schriftsteller so geschrieben haben könnte, dass man oft wünschen möchte, er habe so geschrieben; der ebenso genialen als unzweifelhaft sicheren Verbesserungen ist eine unzählbare Menge, und wie oft sind sie durch spätere Entdeckungen bestätigt worden. Kein Beispiel ist schlagender als das des Plautus, an welchem er «den glänzendsten Triumph feierte, den eine über alle historische Bedingungen erhabene, eingeborengeniale Divinationsgabe davontragen kann.» Denn nicht nur, dass die scheinbar fest begründete Tradition desselben falsch und trüglich sei, hatte er mit sicherem Blick erkannt, sondern unbeirrt durch das täuschende Dunkel dieser Ueberlieferung hatte er das wahre Wesen der Sprache und Verskunst des Plautus erfasst und zu ihrer Herstellung den richtigen Weg gewiesen; wie das Alles durch Ritschls neue Entdeckungen bestätigt worden ist. Obgleich seine Studien sich über den gesammten Kreis der alten Schriftsteller erstreckten, so wandte er sich doch mit Vorliebe den Griechen und namentlich den Dichtern zu. Von diesen aber kann man mit Wahrheit sagen, dass die kritische Behandlung derselben durch ihn begründet worden ist, und dass er im Einzelnen dieselben in einem Masse gefördert hat, wie kein anderer Philolog, man mag an die epischen, lyrischen oder dramatischen Dichter denken. Diese Vielseitigkeit tritt auch in seinen Schriften hervor; und doch war es nicht der eigentliche Trieb zu schriftstellern, der ihn bestimmte. Schriftstellerische Aufgaben, welche er sich selbst gestellt hatte, waren ausser den Werken über Metrik und Grammatik eigentlich nur die Ausgaben des Aeschylus und Plautus – beide hat er nicht vollendet. Mit dem Plautus hatte ihn schon Reiz förmlich verlobt, und die Ausgabe des Trinummus (1800) konnte als Aufgebot gelten; später hat er dem jüngeren Bewerber seine Ansprüche abgetreten, nachdem er durch die Ausgabe der Bacchides (1845) gezeigt, dass die Jugendliebe noch frisch und kräftig geblieben sei. Am Aeschylus aber, der durch die Ausgabe der Eumeniden (1799) angekündigt, und oft verheissen stets erwartet wurde, hat er bis zu seinem Ende fort und fort gearbeitet und konnte sich kein Genüge thun, um dieser Arbeit seines Lebens die möglichste Vollendung zu geben. Wenige Tage vor seinem Tode legte er die Herausgabe seines Aeschylus als Vermächtniss in eine nahe verwandte Hand. [22] Fast alle anderen Ausgaben sind aus äusseren Veranlassungen entstanden, welche meistens die Vorlesungen boten; zahlreiche Abhandlungen aber rief die oft sich wiederholende Pflicht hervor, im Namen der Universität Programme zu schreiben, welche ihn stets bereit fand, eine in sich abgeschlossene Untersuchung, musterhaft durch das methodische Verfahren und die anziehende Darstellung, als reife Frucht seiner unausgesetzten Studien mitzutheilen. Dieser gesellen sich noch Recensionen in grosser Anzahl hinzu, zum grossen Theil wider seine Neigung auf den Wunsch von Schriftstellern verfasst, die ihn um sein Urtheil baten, manche von nachhaltiger wissenschaftlicher Bedeutung, keine ohne eigenthümlichen Gehalt.

Bei dieser vielseitigen, lang dauernden litterarischen Thätigkeit ist Hermann mit den meisten seiner Fachgenossen in Berührung gekommen; zum grössten Theil waren diese Beziehungen wohlwollend freundschaftlich, nicht selten aber auch polemisch. Denn da Hermann ebenso entschieden als lebhaft und offen, auch dem Disputieren nicht abgeneigt war, so sprach er sich über fremde Ansichten leicht und ohne Rückhalt aus, und vertheidigte seine Ueberzeugung mit Eifer. Das hat ihn in viele Streitigkeiten verwickelt, die zum Theil lange und mit Heftigkeit geführt worden sind. Ich bin so weit von der Anmassung entfernt, mich zum Richter aufzuwerfen, als ich lange vergessene Fehden wieder erwecken möchte. Aber das darf und muss ich hier sagen, dass Hermann’s Polemik stets nur der Sache und nie der Person gegolten hat. Er war in der Beurtheilung der Personen milde und schonend, wie ihn denn auch der heftigste Streit nie gemüthlich erbittert hat, aber er liess die Nachsicht gegen die Person nicht zur Schwäche in der Beurtheilung der Sache werden, und bei seinem entschieden ausgeprägten Wesen war es allerdings möglich, dass er eine ganz verschieden organisierte Natur nicht verstand und ihr so Unrecht that, aber das geschah, wenn es geschah, unbewusst. Er war vielmehr darin echt ritterlich, dass er seinen Gegner stets als ebenbürtig betrachtete, wodurch das Missverhältniss freilich mitunter noch greller hervortrat. Rücksicht auf äussere Verhältnisse zu nehmen, wo es die Wissenschaft galt, kam ihm nie in den Sinn; daher ist auch der Ton seiner Polemik, offen, bestimmt, kräftig, wo er es nöthig fand strenge, sich stets gleich geblieben, und nicht verschieden, da er als junger Mann gegen den gefeierten Porson auftrat, und da er selbst als hohe Auctorität galt. Als solche galt er freilich nur Anderen, ihm selbst wäre es nie eingefallen, sich für [23] eine Auctorität zu halten, dazu strebte er zu unablässig vorwärts, und das Ziel wahrer Gelehrsamkeit war ihm so hochgestellt, dass er sich selbst den Gelehrten kaum beizählen mochte. Seine reine und strenge Wahrheitsliebe, die sich auch darin offenbarte, dass er, wie selten Gelehrte, bereit war, eine als irrig erkannte Meinung zurückzunehmen, hat ihn auch mit den meisten seiner litterarischen Gegner versöhnt und befreundet. Porson, der über den kühnen Angriff ganz erstaunt, beissenden Spott und Hohn gegen die Schwächen seines Gegners richtete, dessen Genialität er nicht begriff, war über die ebenso würdige als feine Entgegnung Hermanns ganz betroffen und las sie kurz vor seinem Tode seinen Freunden mit freudigem Nachdruck vor. Auch Elmsley wurde aus seinem heftigen Gegner sein Freund, wie überhaupt die englischen Gelehrten, denen er durch seine Angriffe auf die unbedingt von ihnen als Auctoritäten verehrten Männer zu nahe getreten war, ihm später grosse Achtung und Freundschaft bewiesen; ja Samuel Parr vermachte ihm als dem ersten Kritiker seiner Zeit zum Zeichen seiner Verehrung nach englischer Sitte einen Trauerring. Auch mit seinen deutschen Gegnern ist ein wohlwollendes, freundliches Verhältniss nur auf Zeiten getrübt worden; eine Fehde, die der Tod geschlossen, hat Hermann selbst durch edle Anerkennung des Hingeschiedenen versöhnt.

Wer Hermann allein aus seinen Schriften kennen gelernt hat, der wird zwar von ihm ein bestimmtes und in den Hauptzügen gewiss richtiges Bild gewonnen haben, allein den vollen Eindruck gab erst seine Persönlichkeit. Das zeichnete eben Hermann vor den meisten Gelehrten aus, dass er eine Persönlichkeit hatte, dass er eben so sehr der grosse Mensch als der grosse Gelehrte war. Deshalb war sein Einfluss als Lehrer so bedeutend und segensreich, deshalb hat er nicht bloss Zuhörer, sondern Schüler gehabt. Dreierlei verlangte er vom Lehrer: dass er den Stoff für gelehrte Studien mittheile, dass er den Weg und die Methode durch Lehre und Beispiel zeige, und dass er seinen Schülern Liebe zur Wissenschaft einflösse. Auf die erste Forderung legte er am wenigsten Nachdruck, weil hier Jeder doch das Seinige sich selbst erwerben müsse; desto glänzender erfüllte er die beiden anderen. Er las über Metrik, Grammatik und andere philologische Disciplinen; aber wie in seinen Schriften so legte er auch in seinen Vorlesungen das Hauptgewicht auf die Behandlung der Schriftsteller, und der Kreis derjenigen, über welche er las, ist ausserordentlich gross: [24] den Hauptstamm bildeten die Tragiker, Pindar und Homer. Wer nun etwa eine praktische Anwendung der Kritik mit grammatischen und metrischen Excursen erwartete, der fand sich getäuscht. Das Verständniss des Schriftstellers war das Ziel, auf das er graden Wegs ohne Umschweife zuging; nie sollte man den Schriftsteller selbst aus den Augen verlieren. Das mechanische Verständniss setzte er voraus, oder deutete es in schwierigen Fällen kurz an, hielt aber vor Allem darauf, dass man stets strenge dem Gedankengange des Schriftstellers folge und den eigenthümlichen Ausdruck desselben klar erkenne, was, ohne dass er viele Worte darüber machte, wie unvermerkt aus der ganzen Behandlungsart hervorging. So schritt die Erklärung in einem Flusse fort, nur da da, wo es nöthig war, hielt er an um ausführliche Erläuterung oder Verbesserung einer schwierigen Stelle zu geben, und lehrte so durch die That, stets nur auf die Sache zu sehen und das Beiwerk nicht zur Hauptsache zu machen. Wenn er dann eine schwierige Stelle ausführlich behandelte, war es ein wahrer Genuss zu sehen, mit welcher Klarheit und Schärfe er den Fehler aufdeckte, nachwies was dem Zusammenhange gemäss gesagt sein müsse, und dann wie im Blitze das Richtige oder jedesfalls das Schöne und Passende fand, das Alles mit einer Lebhaftigkeit, Kraft und Eleganz des Vortrags, dass das Wort des alten Dichters auch von ihm gilt:

Die rasche Peitho thronte auf den Lippen ihm;
ja, er bezauberte den Hörer und allein
liess er den Stachel in der Seele ihm zurück.

Und doch hatte die Verehrung seiner Schüler noch einen tieferen Grund, als in der Bewunderung für den Meister ihrer Kunst. Die frische, kerngesunde Natur, welche von nichts Gemachtem, Ergrübeltem noch Erkünsteltem wusste, die Hingebung und Begeisterung für die Sache, die reine Wahrheitsliebe, der sittliche Ernst, die der eigenen Grösse unbewusste Einfachheit und Unbefangenheit, welche sich in Hermanns Wesen, in jeder Geberde und in jedem Worte treu und wahr aussprachen, gewannen über das jugendliche Gemüth eine unwiderstehliche Macht. Und wie jede bedeutende Erscheinung übte er diesen Einfluss, meist unbewusst, auf die verschiedensten Naturen; er hob den Zaghaften, mässigte den Hastigen, spornte den Trägen, zwang den Flüchtigen sich zu sammeln, die Einheit und Klarheit seines sittlichen Wesens nöthigte Jeden, in sich selbst zurück zu gehen und mit sich einig [25] zu werden, um dem Muster des Lehrers auch in der Wissenschaft nachzustreben. Er hat seine Schüler nicht bloss geschickt, sondern tüchtig gemacht, und wenn wir die Reihe der Männer überblicken, die aus seiner Schule hervorgegangen Zierden der Wissenschaft geworden sind, wir werden keinen finden, der nicht, wie er, muthig und tapfer für Freiheit und Recht gekämpft hat. Wie hoch Hermann von seinen Schülern auch verehrt wurde, so stand er ihnen doch menschlich nahe. In seiner äusseren Erscheinung schon sprach sich eine anmuthige Freundlichkeit aus, die Jeden gewann, denn man fühlte, sie war herzlich und wahr. Niemand, der bei ihm gehört hat, wird den freundlichen Gruss vergessen, mit dem er die Begrüssung der Zuhörer erwiderte, wenn er durch ihre Reihen raschen Gangs auf das Katheder zuschritt. Wer zu ihm kam, fand bei ihm immer Bereitwilligkeit zu hören und zu helfen, Wohlwollen und Theilnahme für jedes Anliegen, und es zeugt eben so sehr für Hermanns humane Gesinnung als für die Elasticität seines Geistes, dass er, der immer beschäftigt war, jeden Besuch annahm, und im Stande war, mitten aus seiner Arbeit heraus dem Besuchenden volle Theilnahme zu schenken, und, sobald er ihn verlassen, ganz wieder in der Arbeit zu sein. Die Veranlassung, als Schüler ihm näher zu treten, gab meistens die Theilnahme an der von ihm geleiteten Gesellschaft. Gleich im Beginn seiner academischen Thätigkeit kündigte er Uebungen sowohl im Lateinisch Schreiben und Disputieren (1795) als in der Behandlung der alten Schriftsteller an (1796). Sehr bald erwuchs hieraus eine Gesellschaft, welche sich Anfangs die philologische (1801), später die griechische nannte (1805), als welche sie eine über Deutschland hinausreichende Berühmtheit erlangt hat, und in der That die Pflanzschule deutscher Philologie geworden ist. Hier in unmittelbarer Berührung mit den Einzelnen wirkte die Persönlichkeit Hermann’s in der ganzen Fülle ihrer Kraft und Liebenswürdigkeit. Er verlangte von den Mitgliedern Anstrengung und Fleiss: sie sollten Etwas leisten, das eigenthümlich und bedeutend sei; deshalb liess er ihnen volle Freiheit sich aus sich selbst zu entwickeln, aber er überwachte sie mit Ernst und Liebe. Nie suchte er ihnen durch Auctorität zu imponieren, die man ihm um so bereitwilliger zugestand, je weniger er sie suchte und gebrauchte. Durch Lebendigkeit, Frische und Reinheit des Gemüthes wie des Geistes auch als Greis noch ein Jüngling hat er stets das Vertrauen und die Liebe der Jugend [26] gewonnen, und keiner, der ihn erkannt, hat je von ihm gelassen; seine Schüler sind ihm treue Freunde gewesen, und Anhänger hat er nie gewollt.

Hermann hatte für Leipzig, wo er geboren, erzogen und durch vielfache Verhältnisse festgewurzelt war, eine grosse Anhänglichkeit, und hat es nie verlassen mögen. Nachdem er das Rectorat in Schulpforta (1802) und einen Ruf nach Kiel abgelehnt hatte, wurde ihm 1803 die ordentliche Professur der Beredtsamkeit übertragen, mit welcher 1809 die der Poesie verbunden ward. Später schlug er noch einen Ruf an die eben gegründete Universität in Berlin aus, obwohl seine Lage in Leipzig allerdings anständig, aber keineswegs glänzend und seinem Ruhm und seiner Wirksamkeit entsprechend war. Gelehrte Ehrenbezeugungen hat sein langes Leben ihm in Fülle gebracht, Ehrendiplome von drei Facultäten und vielen gelehrten Gesellschaften, zahllose Bücher sind ihm gewidmet als Beweise dankbarer Verehrung von Schülern und Freunden. Ihren lebhaftesten und reichsten Ausdruck fand diese, als Hermann am 19. Dec. 1840 sein Magisterjubiläum feierte. Es war ein Fest, das nicht nur die Universität, sondern die Stadt beging, von allen Seiten, aus allen Kreisen wurden ihn Gaben und Glückwünsche dargebracht, ein glänzendes Festmahl vereinigte Hunderte theilnehmender Gäste, und was der Feier ihre eigenthümliche und schönste Bedeutung gab, sie galt nicht sowohl dem berühmten Gelehrten, als dem allgemein geliebten und verehrten Mann. Auch andere Auszeichnungen blieben nicht aus, nie von ihm gesucht, und nur soweit geschätzt, als sie eine Bedeutung haben konnten. Deshalb hat er sich nie mit einem Titel behaften lassen, weil er nichts scheinen wollte; seine Ordenszeichen legte er bei festlichen Gelegenheiten an. Wahre Freude hatte er an dem Ritterkreuz des sächsischen Civilverdienstordens, das ihm bei dessen Stiftung verliehen wurde (1816), weil er es mit Recht als ein Zeichen der persönlichen Huld des Königs ansah, die er durch aufrichtige Verehrung verdient hatte, die er auch in den Zeiten der Unterdrückung laut und furchtlos bekannte. Wenn politische Ueberzeugung nur die ist, welche unter der Fahne der Partei dient und auf ihr Stichwort schwört, so hatte Hermann sie nicht; aber er besass, dessen nicht immer die Partei sich rühmen kann, muthvolle Begeisterung für Licht und Freiheit, die sich nicht beirren liess, und echt deutsche Vaterlandsliebe. Fern von aller Vielthuerei drängte er sich mit seiner politischen Ueberzeugung [27] nicht vor, aber wo sein Amt ihn berief, wo seine Stellung ihn veranlasste, da sprach er sie frei und offen, kräftig und entschieden aus, ohne Ansehen der Person, ohne Rücksicht auf Gunst und Ungunst, ohne Furcht vor Gefahr. Er war ein treuer Sachse, aber über Sachsen ging ihm Deutschland, und mit Wärme hing er stets an der Hoffnung, den deutschen Kaiserthron wieder aufgerichtet zu sehen. Auch er begrüsste in dem Frühlingssturm des vorigen Jahres den Vorboten einer grossen Zukunft für unser Vaterland, das Brausen der Windsbraut erschreckte ihn nicht. «Mag der Sturm», sagte er, «immer einige Hütten niederreissen: die werden schon wieder aufgebaut; er reinigt die Luft.» Und so folgte er den wechselvollen Ereignissen in einer Stimmung, welche manchen Jüngeren beschämen konnte. Als der Reichsverweser hier eintraf, war auch Hermann unter denen, welche ihn empfingen, und er nahm in der freudigsten Bewegung an dem schönen Feste Theil. Bei seiner Heimkehr waren die Seinigen nicht ohne Besorgniss, wie er die ermüdende Anstrengung ertragen habe; er aber rief ihnen begeistert zu: «ich danke Gott, dass er mich diesen Tag hat erleben lassen!» und nachdem er ihnen ausführlich berichtet hatte, fügte er in tiefer Rührung und mit Thränen in den Augen hinzu: «es war mir, als kehrten alte Zeiten wieder; die Fürsten redeten, als ob sie nur edle Männer und brave Deutsche wären.» Sein kräftiger Sinn für Recht und Freiheit machte sich in allen Verhältnissen geltend, immer war er sie zu vertheidigen bereit, und jede Unterdrückung wurde von ihm bekämpft. In den Angelegenheiten der Universität, welcher er als Rector zweimal vorstand, wie der Facultät, stand er zu jedem kräftigen Beschluss für die Ehre und Würde derselben – es war nicht seine Schuld, dass Dahlmann nicht die Zierde Leipzigs geworden ist, – und die Rechte derselben hat er gegen jeden Ein- und Uebergriff tapfer gewahrt, in der Freiheit der academischen Studien sah er das Palladium wahrer Bildung, und missbilligte jede lähmende Bevormundung, die nur die Mittelmässigkeit fördert; so streng er gegen Unsittlichkeit und Rohheit war, so milde war er gegen Fehler der Jugend, und sah ihr lieber kecken Uebermuth als feige Schlaffheit nach; als sich der Alp der demagogischen Untersuchungen über unsere Universitäten lagerte, da hat er laut und nachdrücklich seine Stimme erhoben, wie ungerecht und unklug sie seien.

Das Leben Hermanns, obgleich es in eine vielbewegte Zeit [28] fällt, ist durch keine merkwürdige Begebenheit, die ihn unmittelbar anging, ausgezeichnet; der ruhige und stille Gang desselben ist fast nur durch zwei Reisen in die Schweiz (1815 und 1825) und öftere, eine Reihe von Jahren hindurch ziemlich regelmässig wiederholte Reisen nach Karlsbad, die meistens zu Pferde unternommen wurden, unterbrochen. Seine Zeit gehörte ihrem bei weitem grössten Theile nach der wissenschaftlichen Arbeit; trotz seines feurigen Temperaments hatte er einen ausdauernden Fleiss, der um so mehr zu bewundern ist, da er sich durch mehr mechanische Arbeiten nur sehr ausnahmsweise abspannte, vielmehr immer die volle Thätigkeit seines Geistes angestrengt erhielt. Es war stehende Gewohnheit für ihn geworden, bis Mitternacht zu arbeiten, und wenn geselliger Verkehr die Zeit verkürzte, so pflegte er um so tiefer in die Nacht hinein zu arbeiten, und es kam wohl vor, dass er gar nicht zu Bett ging, ohne am andern Morgen ermüdet oder abgespannt zu sein. Er hatte aber die höchst glückliche Eigenschaft, dass er die Arbeit nach Belieben abbrechen und sogleich Schlaf finden konnte, den dagegen gemüthliche Aufregung ihm ganz störte, so dass er Abends keinen Brief las oder schrieb. Desto mehr schrieb er deren bei Tage, denn er hatte es sich zum Gesetz gemacht, jeden Brief sofort zu beantworten, und er führte einen sehr ausgedehnten Briefwechsel. Diese Frische verdankte er zu grossem Theil der regelmässigen und lebhaften Bewegung, welche er sich durch Reiten und Gehen machte. Ausserdem fand er Zerstreuung nur im geselligen Verkehr mit Freunden und im häuslichen Zusammenleben mit seiner Familie, an derer mit der vollen Liebe seines warmen Herzens hing.

Am 29 Sept. 1803 feierte er seine Hochzeit mit Wilhelmine Schwägrichen, der Tochter eines hiesigen Kaufmanns von strenger, ehrenfester Gesinnung. Ihr stilles ruhiges Wesen, das seine aufbrausende Lebendigkeit und Heftigkeit müssigte, ihre Einfachheit und vollkommne Anspruchslosigkeit konnte sie dem flüchtigeren Beobachter weniger bedeutend erscheinen lassen, als sie in der That war; den wohlthuenden Eindruck reiner Herzensgüte und Milde musste sie auch auf diesen machen. Sie war von tiefem Gemüth, das sich nicht leicht aufschloss, von unbestechlich klarem Gefühl für Sittlichkeit, das in jedem Zuge ihres stets gleichen Wesens, selbst in ihrer ungemein festen und zierlichen Handschrift sich aussprach. Bei einer gewissen Scheu vor Fremden und vor äusserem Auftreten fand sie ihre Befriedigung in stiller, geräuschloser [29] Wirksamkeit; streng in der Erfüllung ihrer Pflicht, glücklich in selbstvergessener Aufopferung, lebte sie nur im Wohle Anderer. Hermann erkannte und würdigte das stille Verdienst der Frauen, das meist nur durch Opfer gewonnen und durch Entsagung belohnt wird. «Da hat man», sagte er zu einem vertrauten Freunde, soviel Aufhebens von den Verdiensten gemacht, die ich haben soll; von den Verdiensten meiner Frau, die viel grösser und schwerer erworben sind, ist keine Rede.» Sie besass nicht nur die zärtliche Liebe Hermanns, sondern auch seine Hochachtung und sein Vertrauen im vollen Masse. Mit aller Sorgfalt war sie bemüht, ihm das häusliche Leben ruhig und behaglich zu machen, und alle Sorgen desselben von ihm fern zu halten. Das war keine leichte Aufgabe, denn ihre Verhältnisse waren Anfangs beschränkt, und die Kriegsjahre brachten immer neue Lasten, die kaum zu erschwingen waren. Und doch wusste sie es so einzurichten, dass das ihm unentbehrliche Reitpferd nie abgeschafft wurde, ohne dass er ahnte, welche Einschränkungen und Entbehrungen sie sich deshalb auferlegte. Eine kräftige Stütze fand sie an seinem immer frischen Muth und Vertrauen, das von äusseren Sorgen nichts wusste; das Nothwendige werde sich schon finden, und was darüber sei, daran dürfe man sein Herz nicht hängen. Auch ward später, als er den grössten Theil seines Vermögens verlor, seine Heiterkeit nicht auf eine Stunde getrübt. Freilich war Hermann von äusseren Bedürfnissen im höchsten Grade unabhängig, in sinnlichen Genüssen äusserst mässig, obwohl er sie keineswegs verachtete, – so war ihm das Rauchen zur Gewohnheit geworden. Einfach, wie sein ganzes Wesen, war seine Erscheinung und seine Umgebung. Der Schnitt seiner Kleidung war seit Jahren unverändert geblieben; von früh bis spät war er in Stiefeln und Sporen; sein Sitz war ein einfacher Rohrstuhl, erst in seinen letzten Tagen bediente er sich, nur auf die Bitten der Seinigen, eines Lehnsessels. Er sah jede Bequemlichkeit in Wahrheit für eine Unbequemlichkeit an, und verachtete jegliche Verweichlichung; Unterstützung und Bedienung suchte er von sich zu halten, und wusste sich in mancherlei kleinen Verrichtungen, oft auf originelle Weise, selbst zu helfen, nicht ohne eine gewisse Geschicklichkeit in Handarbeiten. Den Seinigen machte er die Sorge für ihn nur dadurch schwer, dass er sie nicht an sich kommen liess, wo es geschah, mehr aus Freundlichkeit gegen ihre Dienstwilligkeit, als um seiner selbst willen. Sein inniges Einverständniss mit seiner Frau bewährte [30] sich namentlich in dem Vertrauen, mit welchem er ihr die Erziehung der Kinder übergab. Er selbst gab sich mit seinen Kindern und Enkeln viel und gern ab, spielte mit ihnen, und war auf ihre Freude und Unterhaltung bedacht, so dass sie, mochte er sie auch durch seine Lebhaftigkeit und Heftigkeit oft erschrecken, unbefangen und vertraulich mit ihm verkehrten. Bei ihren sich wiederholenden Anforderungen war er äusserst geduldig, so oft sie ihn auch im Arbeiten störten, und ging immer bereitwillig auf ihre kleinen Interessen ein; in diesem Verkehr entfaltete sich seine ganze Milde und Güte. In die Erziehung der Kinder aber griff er selten ein. Er war der Ansicht, dass in einer durch Liebe und Pflichtgefühl begründeten Häuslichkeit in dem Verkehr mit sittlich gebildeten Menschen die wahre Kraft der Erziehung läge, die in dem stillen Einfluss der mütterlichen Liebe am reinsten wirkt; jeden Eingriff in die Individualität hielt er für schädlich. Dies wahrhaft glückliche Familienleben ist von Schmerzensprüfungen nicht verschont geblieben. Zwei Söhne verlor Hermann, einen im zartesten Kindesalter, den zweiten durch einen plötzlichen Tod während er studierte. Der härteste Schlag aber traf ihn durch den Verlust seiner Frau (1841), der ihn im Innersten so tieferschütterte, dass es eine Zeit lang schien, als habe er seine Kraft gebrochen. Aber auch diesen Schmerz überwand der starke Mann, und fand nicht nur das Gleichgewicht in sich wieder, sondern die frühere Kraft und Frische kehrte zurück.

In den geselligen Verhältnissen Hermanns machte der Tod seiner Frau allerdings eine Lücke, die nicht wieder ausgefüllt werden konnte. Ohne eigentliches Bedürfniss nach lebhaftem geselligen Verkehr stand Hermann mit Amtsgenossen und Freunden in weitem Kreise in vertraulichem Umgang, bei welchem sie oft Veranlasserin und Vermittlerin war. Denn er machte sehr selten einen Besuch ohne bestimmte Veranlassung, schlug aber nie eine Einladung aus, und deren kamen viele. Denn er gab sich in Gesellschaft ganz derselben hin, war stets heiterer Stimmung, jeder Unterhaltung zugänglich, an der er sich lebhaft betheiligte und gern erzählte, lebendig und charakteristisch, mit manchem schlagenden Kraftwort, und überaus ausdrucksvollen aber immer anmuthigen Mienen und Geberden. In allem Verkehr war er stets sich selbst gleich; unbefangen ohne alle Prätension, gab er sich ganz einfach, so wie er war: um so tiefer war der Eindruck, den er zurückliess. Wer aber zu ihm kam mit dem Gedanken an den [31] berühmten Mann, den konnte es wohl verlegen machen, dass so gar keine Gelegenheit war, ihm zu huldigen, dass er in seiner echten Bescheidenheit und Demuth gar nicht ahnte, mit welchem Gefühl der Ehrfurcht man an ihn herantrat. So einfach er war, so feind war er aller Formlosigkeit; was Anstand und Höflichkeit verlangten, übte er mit einem gewissen Pflichtgefühl; in seiner äusseren Erscheinung mit Zierlichkeit und Anmuth, in Formen, die zum Theil an die Zeit seiner Jugend erinnerten, aber der lebendige Ausdruck des herzlichen Wohlwollens waren, das sein ganzes Wesen beseelte und sich in den edlen Zügen seines Gesichtes aussprach, das nur, wenn das Schlechte und Gemeine ihm nahe kam, einen vernichtenden Ausdruck der tiefsten Verachtung annehmen konnte.

Die ungetrübte Gesundheit seines Geistes, die innere Einheit seines Gemüthes übten über seinen von Natur zarten Körper eine Macht aus, die durch die Einfachheit und Mässigkeit seines Lebens unterstützt wurde. Er ist selten ernsthaft krank gewesen, und körperliche Beschwerden, wie der ihn lange quälende Husten, überwand er durch Geduld und gestand ihnen keinen Einfluss auf seine Stimmung zu. Mitunter konnte er einer Neigung zu heroischen Selbstcuren nicht widerstehen, die er von seiner Mutter geerbt. So hatte er bei seinem Aufenthalt in Jena sich dadurch von einem furchtbaren Rheumatismus befreit, dass er in einem wohlgeheizten Zimmer Anfangs mit unsäglichen Schmerzen Schritt vor Schritt, dann immer rascher, über zwölf Stunden ohne auszuruhen auf und abging. Bis ins hohe Greisenalter blieb er körperlich rüstig, wie geistig frisch, er war wohl milder, aber nicht schwächer geworden; der rasche Gang, die Lebhaftigkeit aller Bewegungen, die kräftige Stimme, das glänzende Auge, Alles zeugte von frischer Kraft, und liess den Gedanken nicht wach werden, dass auch ihm sein Ziel gesetzt sei. Um so schmerzlicher war unsere Besorgniss, als ihn in den letzten Tagen des vergangnen Jahres ein Unwohlsein befiel, das bald ernstlich wurde und ein langes, schmerzenvolles Krankenlager befürchten lassen musste, das Gott gnädig abgewendet hat. Er selbst erkannte die Nähe seines Todes sogleich mit klarem Blick und sah ihm mit heiterer Ruhe entgegn. Er war zu gesund, um das Leben nicht zu lieben, das für ihn einen so reichen und reinen Gehalt darbot, aber er war bereit es hinzugeben. Seine einzige Sorge war die, die der Seinigen zu erleichtern. Mit unerschütterlicher Standhaftigkeit ertrug [32] er seine Leiden, die ihm bald den Schlaf gänzlich raubten; er liess seine Umgebung nicht ahnen, wie schwer sie waren, seine Stimmung blieb stets die gleiche, heiter und klar, in jedem freieren Augenblick trat das geistige Interesse lebhaft hervor, bis zu seinem letztem Athemzug ist er sich getreu geblieben. Immer war er darauf bedacht die Pflege, welche die Seinigen ihm darboten, zu erleichtern, beklagte die Mühe die er ihnen mache, und sprach ihnen für jeden Beweis ihrer Liebe seinen Dank aus. Wenn man vor dem letzten Tag Niemand glücklich nennen soll, so dürfen wir ihn in Wahrheit preisen, denn seine letzten Tage haben auf ein langes, reiches, edles Leben das Siegel der Vollendung gedrückt. Und auch den Wunsch, der allein noch gestattet war, erfüllte das scheidende Jahr; am letzten Tage desselben nahm ihn der Tod sanft und schnell in seine Arme.

Mit Gottfried Hermann ist unserer Universität die Krone genommen worden, welche sie nie in der Weise wieder gewinnen wird. Uns aber bleibt der Segen, einen grossen Mann in Wahrheit den Unsrigen zu nennen und in treuer, dankbarer Liebe sein Andenken heilig zu halten.




Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: französichen