Gott verloren – Alles verloren

Textdaten
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Autor: Ferdinand Stolle
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Titel: Gott verloren – Alles verloren
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 40–44, S. 430–432, 441–444, 453–456, 463–466, 475–478
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1853
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Gott verloren – Alles verloren.

Ein Seelengemälde nach Familienpapieren mitgetheilt von Ferdinand Stolle.
Es giebt im Menschenherzen eine geheime dunkle Stelle, wo eine giftige Schlange schlummert; ein einziger Gedanke, ein Wort kann sie aufwecken.

Indem ich dies niederschreibe, zeigt mir die ferne Erinnerung meine Wiege, mit Blumen geschmückt, von seidenen Decken überhangen; das Gemach, worin sie stand, war hell, freundlich und reich – ich sehe das liebliche Angesicht meiner Mutter, sorgsam über mich gebeugt; und kehrt mein Blick zurück in die Wirklichkeit, welch ein Gegensatz – eine enge graue Zelle, ein eisern Bett, ein morscher Holzstuhl und das einst so glückliche Kind eine bleiche verfallene Gestalt. So lieblich der Lebensanfang, so schauerlich das Lebensende.

Ich wurde gegen die Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts geboren und war die Tochter eines begüterten Edelmanns, der auf seinem Stammschlosse lebte. Schon frühzeitig sagten mir Eltern, Verwandte, Dienstboten, daß ich hübsch, reich und aus altadeligem Geschlecht sei. Dieses thörige Einprägen zufälliger irdischer Vorzüge würde auf fruchtbaren Boden gefallen sein, wenn nicht eine andere Persönlichkeit, mein jugendlicher Erzieher, in der Stille kräftig dagegen gewirkt hätte. Als der Sohn eines würdigen Geistlichen in der Schweiz war er von seinem Vater trefflich erzogen worden. Nach beendigten Studien ward er meinem Vater als Erzieher empfohlen, so kam er als mein Lehrer und Hausgenosse für mehrere Jahre in unser Haus. Constantin Falk! Verzeihe, edler Schatten, einer Unwürdigen, daß sie Deinen Namen noch einmal aus dem finstern Schatten der Vergangenheit heraufbeschwört. Verzeihe ihr die Ewigkeit ihrer Gefühle für Dich.

Herr Falk erlangte bald nach Antritt seines Lehramtes eine solche Gewalt über mich, daß nur er allein im Stande war, die Unarten und den Eigensinn des verwöhnten einzigen Töchterchens zu zügeln und meine Trägheit in Eifer für das Lernen zu verwandeln.

Einmal, es war in schöner Sommerzeit, besuchte eine Freundin meiner Mutter unser Gut und brachte ihre kleine Tochter Clemence mit. Auf den Wunsch meiner Eltern, denen es um eine passende Spielgefährtin für mich zu thun war, ließ sich die mütterliche Freundin bewegen, die kleine Clemence, die in meinem Alter stand, auf ein Jahr lang bei uns auf dem Lande zu lassen und meinen Unterricht zu theilen.

So verschieden wir beiden Kinder in unserm Aeußern waren, so verschieden zeigte sich auch unser ganzes Wesen. Clemence stammte von väterlicher Seite aus Frankreich; aber ihre sanften hellbraunen Augen, ihr blondes Haar, der weiße Teint und das Ruhig-schwärmerische ihres Ausdrucks ließen die südliche Abkunft nicht ahnen. Sie war ein stilles Kind, das vor jedem Ungehorsam zurückbebte, alle Menschen für gut hielt und sich am glücklichsten unter Blumen befand. Ich dagegen besaß einen aufbrausenden, eigensinnigen, mißtrauischen und kühnen Charakter. Meine Gesichtsfarbe war südlich dunkel; das schwarze Haar flog in zügellosen Locken um mein Haupt; und waren auch meine Augen blau, so funkelte daraus doch ein leidenschaftliches, stolzes Feuer.

Es verging kein Tag, an welchem Clemence und ich nicht zusammen stritten; doch trug ich fast immer die Schuld. Es machte mir ein eigenthümliches Vergnügen, das sanfte Mädchen zu reizen, indem ich ihre Blumen zertrat, ihr Händchen knipp, ihr irgend eine Freude störte. Und dennoch war ich damals noch nicht bösartig; ach nein! aber schon begann meine Eifersucht. Clemence wurde mir von Herrn Falk wegen ihres Fleißes und Gehorsams oft als Muster hingestellt und mit Furcht und Eifersucht glaubte ich zu bemerken, daß sie dem Herzen meines Lehrers näher stehe als ich. Ging er mit uns spazieren, führte er die furchtsame und folgsame Clemence an der Hand und ich lief ungeführt nebenher. War ein Graben zu überschreiten, so hob er sie sorgfältig hinüber, während ich, vor Neid und Aerger zitternd, rasch einen Sprung wagte. Pflückten wir Obst, so bekam Clemence die schönsten Früchte und zu mir sagte der Lehrer: Du Wildfang, magst Dir die Deinigen selbst pflücken, Du kletterst ja wie eine Katze. Ich verbarg bei solchen Gelegenheiten meine eifersüchtigen Thränen und begann Clemence heimlich zu hassen. Sie stiehlt mir die Freundschaft und Liebe meines Lehrers, sprach ich zu mir, sie ist heimtückisch und lügnerisch.

Meine kleinen Bosheiten verschwieg Clemence großmüthig, denn sie wollte mir von Herrn Falk keine Strafe zuziehen. Aber auch dieser Beweis ihres versöhnlichen Gemüthes rührte mich nicht. Ich war ebenso starrsinnig in meinem Hasse, wie in meiner Liebe. Endlich ward Clemence von ihrer Mutter wieder abgeholt. Sie nahm liebend und weinend Abschied von mir und ich sah sie lange Jahre nicht wieder.

Die Jahre der Kindheit vergingen, ich stand in meinem neunzehnten Jahre. Schon lange hatte uns Falk verlassen, um in B. eine seinen Verdiensten entsprechende Stelle als Beamteter einzunehmen. Auch Clemence hatte ich ganz vergessen und hörte nur zufällig, daß sie mit ihrer kränkelnden Mutter in der Nähe von Genf lebe.

Wenn ein Mädchen, das als Kind guten Schulunterricht genossen, noch einige kleine Künste, Clavierspiel, Gesang, etwas Französisch gelernt hat, so nennt man es eine gebildete junge Dame. So war es mit mir. Meine Schönheit, die durch den Contrast der blauen Augen und schwarzen Haare etwas Eigenthümliches hatte, war zu jener Zeit auffallend und wurde noch durch einen schlanken biegsamen Wuchs gehoben.

Ihr, die ihr dies leset, spottet nicht, daß ich von [431] meinen Jugendreizen rede. Ich betrachte mich längst als eine Ausgeschlossene und Gestorbene und darf daher wohl von meiner vergangenen Schönheit erzählen.

Obschon mich meine Eltern mit Geschenken überhäuften, nicht selten mich mit auf Reisen nahmen, so fühlte ich in meinem Innern doch stets eine traurige Leere, eine drückende Leere. Das Landleben behagte mir nicht mehr und ich sehnte mich mehr und mehr nach den geräuschvollen Freuden einer größern Stadt. Im Strudel von Zerstreuungen, welche die Stadt bietet, hoffte ich die klagende Stimme meines unbefriedigten Herzens zu übertäuben.

Mein Charakter hatte sich wenig geändert. Stolz, Verschlossenheit, Leidenschaftlichkeit und Rachsucht waren vorherrschend darin. Meine schlechten Eigenschaften bewiesen übrigens, wie fruchtbaren Boden für sie mein Inneres darbot. Sie wucherten als Unkraut und begannen allmälig das wenige Gute zu ersticken. Ach es war ja Niemand, der das böse Kraut ausrottete und an seine Stelle die Blumen der uneigennützigen Liebe, der Sanftmut, der Demuth und Religiosität pflanzte. Uebelgewählte Lectüre, besonders die leichtfertige französische Philosophie jener Zeit trugen nicht wenig bei, mich zu verderben.

Für Frauen hatte mein stolzes, leidenschaftliches Wesen wenig Angenehmes, aber auf die Männer übte meine schroffe Eigenthümlichkeit einen besondern Reiz. Die Wenigen, die ich auf dem Lande kennen lernte, lagen zu meinen Füßen. Diese kleinen Triumphe machten mir indeß wenig Freude und vermochten nicht, mich aus meiner stolzen Gleichgültigkeit aufzurütteln.


Bisher habe ich unterlassen, einer Person zu erwähnen, die seit einigen Jahren in unserer Familie, aber sehr abgeschlossen lebte. Es war dies die Tante meines Vaters, Frau Angelika Fioretti, Wittwe eines italienischen Edelmannes. Sie hatte ein fast siebenzigjähriges, sturmbewegtes Leben hinter sich. Nach dem Tode ihres Gatten kam sie aus Italien zurück, um bei uns den Abend ihres Lebens zu beschließen. Obschon in ihrem Wesen etwas Abstoßendes lag, so nahmen sie doch meine Eltern mit anscheinender Freude auf, denn die Fioretti besaß ein ansehnliches Vermögen und hinterlies keine Kinder. Aller Wahrscheinlichkeit nach fiel nach ihrem Tode uns Alles zu.

Ueber dem Leben meiner Großtante ruhte ein düsterer Schleier. Ihre Vergangenheit ward nie erwähnt, und kam ich zuweilen darauf zu sprechen, brach sie schnell ab. Uebrigens war ich die einzige Person, welche ihr nicht unangenehm war. Mein leidenschaftlicher, zwischen Widersprüchen sich bewegender Charakter schien ihr Interesse zu erregen. Sie bat sich oft beim Spazierengehen meine Gesellschaft aus. Auch mußte ich ihr des Abends vorlesen. Mit geheimem Aerger unterzog ich mich dieser unangenehmen Pflicht und zeigte unverholen durch mürrisches Wesen, wie unangenehm mir das häufige Beisammensein mit ihr sei. Wunderlicher Weise zeigte sie sich darüber nicht empfindlich. Sie ließ sich sogar gern von mir widersprechen und lachte, wenn ich mich so recht in zornige Heftigkeit hineingeredet hatte. Aber ihr Lachen war mir unheimlich und wahrhaft empörte mich ihre wiederholte Aeußerung: „Leonore ist ganz wie ich war und sie wird mir immer ähnlicher werden.“

Bei unsern Abendspaziergängen führte sie wunderliche Reden über Leben, Schicksal, Zufall und raubte mir nach und nach jedes höhere Gefühl für Gott und Religion. Sie selbst kannte keinen andern Gott als den Zufall, kein anderes als irdisch-erfaßbares Glück. Als ich einst, bezwungen von der sanften Schönheit eines Sommerabends im Walde in einer ungewöhnlich weichen Stimmung Gottes Herrlichkeit bewunderte und stumm anbetend der untergehenden Sonne nachschaute, da klang wie ein Mißton in die Harmonie der Waldeinsamkeit die heisere Stimme der Großtante: „Was blickst Du so unverwandt nach der blauen Decke, welche fromme Thoren so gern den Himmel nennen? Betest Du etwa?“

„Nein,“ erwiederte ich. „aber ich dachte daran, wie groß und herrlich die Natur ist und wie klein und erbärmlich die Menschen in ihrem Treiben. Ich dachte daran, daß es dort oben nach dem Tode schöner sein müsse.“

Der Mund der Alten zuckte höhnisch. „Auch ich glaubte sonst an Gott,“ sagte sie, „aber später ging er mir aus dem Herzen verloren, weil mir der Glaube an ihm fehlte. Was ist Gott? Wo ist er? Ich habe siebenzig Jahre gelebt; ich war oft unglücklich zum Verzweifeln; er hat mir nie geholfen; darum half ich mir selbst. Ich suchte ihn in der Welt, ich fand ihn nicht. Ich sündigte, er hatte keine Strafe für mich. Ich sah Schuldlose jammervoll untergehen, Böse triumphiren, Gott ließ Alles geschehen! Da kam mir endlich die Gewißheit, daß der Zufall allein unser Gott sei.“

Ich schauderte unwillkürlich und sagte leise: „nicht alle Vergeltung soll hier auf Erden reifen.“ Die Großtante fuhr fort: „Ich habe Wahnwitzige, Blödsinnige und kindische Alte gesehen und mich gefragt, wohin ist ihre unsterbliche Seele gegangen? Und meine Vernunft gab mir stets zur Antwort: die Seele ist nichts als ein feiner Herr, der mit dem Körper stirbt und vermodert. Der Mensch ist zwar das vornehmste Thier, aber doch ein Thier und muß spurlos verschwinden wie seines Gleichen. Und was hätten wir auch von der gerühmten Unsterblichkeitsfabel? Den edeln Unglücklichen würde die schreckvolle Erinnerung an die überstandenen Erdenleiden quälen, den Bösen die nagende Reue.“ Sie brach plötzlich ab, rief: „andiamo!“ und ging tiefer in den Wald, wo sie sich auf einen umgefallenen Baumstamm setzte. Ich stand noch auf derselben Stelle, in die Wolken starrend und den trostlosen Worten der Alten nachdenkend: „Wie ungläubig sie ist,“ sprach ich für mich, und mein böser Genius flüsterte: „Sie hat Verstand und Erfahrung, vielleicht sprach sie die Wahrheit.“

Die Sonne war gesunken, der Mond kam langsam über die Berge und bestrahlte die nächtliche Landschaft mit mildem Strahle. Ich blickte verstohlen nach der Großtante. Sie saß noch immer auf dem Baumstamme, hatte den Kopf vorgebeugt und war eingenickt. In der bleichen Beleuchtung des Mondes sah sie doppelt alt und verwittert und wie zum Hohne schien das buntfarbige [432] seidene Gewand und das großblumige Umschlagetuch die verfallene ruinenhafte Gestalt zu umhüllen. Ich mußte sie wecken und nach Hause führen. Scenen, wie die beschriebene, fielen oft zwischen mir und der Alten vor.

Fast in selbiger Zeit ward unser Gut verpachtet und mein lebhafter Wunsch nach der Stadt erfüllt. Wir zogen nach B. Hier sah ich endlich ihn wieder, der das Ideal meiner Kindheit gewesen; ihn, dessen Lächeln, dessen Lobspruch mich glücklich, dessen ernste Miene, dessen Tadel mich eifersüchtig und unglücklich gemacht und mein Herz den Regungen des Hasses eröffnet hatte. O Constantin! warum mußtest Du mir wieder in den Weg treten und – ohne es zu wollen – die Verehrung des Kindes in glühende Liebe der Jungfrau verwandeln?

Meinen Augen erschien er als der herrlichste der Männer. Er hatte ein ernstes blasses, aber von Geist durchleuchtetes Gesicht; eine edle Gestalt, klare durchdringende Augen, vor denen ich die meinigen erröthend senkte, wenn sie ernst und forschend auf mir ruhten. Man sagt, es gebe Menschen, die geborne Fürsten, sei ihre Herkunft noch so gering. Constantin Falk war ein solcher Fürst. Was ging es mich an, daß er keinen adeligen Stammbaum, keine zahlreichen Ahnen aufzuweisen hatte! Ich liebte ihn mit aller Macht meiner Seele. Der Adelstolz meiner Eltern war mir stets anmaßend und lächerlich vorgekommen. Nur Geist und Witz vermochten mir zu imponiren. Jetzt aber ging eine dunkle Ahnung in mir auf, daß der Standesunterschied einst Unheil über mich bringen könnte.

Falk schien bei unserem Wiedersehen von Freude durchdrungen. Seine Augen weilten oft, wenn er sich unbemerkt glaubte, mit einem gewissen staunenden Wohlgefallen auf mir, und instinktmäßig fühlte ich, daß bald meine Macht über seine Seele beginnen sollte. Da es meinen Eltern gar nicht in den Sinn kam, Falk könne die Verwegenheit haben, mich zu lieben, so freuten sie sich seiner häufigen Besuche und legten durchaus kein Hinderniß in den Weg.

Damals begann die schönste Zeit meines Daseins, aber sie blieb nicht lange ungetrübt. Als einziges Kind reicher Eltern von Allen beneidet; als junges schönes Mädchen von der Männerwelt gefeiert; in einem beständigen Wechsel von Zerstreuungen, hätte ich da nicht befriedigt, nicht glücklich sein sollen? Ja, ich war glücklich; aber der eigentliche Grund meiner Heiterkeit lag tiefer. Es war das entzückende Bewußtsein, von Falk innig und heiß geliebt zu sein. In Worten hatte er mir sein Herz noch nicht entdeckt; aber sein Geständniß leuchtete aus seinen mächtigen Augen. Sein häufiger Farbenwechsel in meiner Gegenwart und tausend andere, von Niemandem als mir erkannten Zeichen, sagten: Du bist geliebt. Das Auge der Frauenliebe sieht scharf. – Ein Zufall gab Constantin’s Gefühlen endlich Worte. Eine wohlhabende Gutsbesitzerin lud mich nebst vielen meiner Bekannten auf ihr romantisch gelegenes Waldschloß. Da die ganze Gesellschaft, ausser zwei alten phlegmatischen Ehrendamen, aus lauter jungem Volke bestand, so war natürlich alle Etiquette verbannt und ein Jedes suchte sich nach Kräften zu amüsiren. Ich ging an Constantin’s Arm den Uebrigen um ein beträchtliches Stück Weges voraus, den anmuthigen Waldpfad entlang. Wir sprachen wenig; aber unser Inneres war von einer unnennbaren Seligkeit durchklungen. Mir war’s, als könne ich mein Leben lang so an seiner Hand dahingehen, ohne müde zu werden oder Erschlaffung zu empfinden.

Als wir an einen mit Wasser angefüllten Graben gelangten, wollte Constantin ein Bret darüberlegen, um mir den Uebergang zu erleichtern. Aber der alte Eigensinn und Stolz kamen über mich. Ich wollte nicht schwächer erscheinen als er und sprang entschlossen, seine Hülfe verschmähend, über den Graben. Obschon ich trockenen Fußes hinüber gelangte, konnte ich doch nicht verhindern, an eine hervorgequollene Baumwurzel zu stoßen. Ich schwankte und stürzte mit dem Kopfe an eine Felsenwand. Constantin sprang außer sich an meine Seite. Er hob mich auf, schlang seinen Arm um mich und untersuchte mit unverkennbarer Angst meine Kopfverletzung. „Lassen Sie mich,“ rief ich in halber Betäubung und auf mich selber zürnend. „Die Wunde ist nicht der Rede werth, o, ich war sehr albern und kindisch! Falk, Verzeihung!“ Beschämt, mit hocherrötheten Wangen sah ich zu ihm auf und faßte bittend seine Hand. Es war um seine Fassung geschehen. „Leonore,“ rief er mit bebender Stimme, „hören Sie auf, mich mit so bezaubernder Sanftmuth anzublicken, es möchte sonst die Rinde schmelzen, die ich, zu Ihrem Besten, um mein Herz gelegt.“

[441] „Mag sie schmelzen, Falk!“ gab ich zur Antwort und entzog mich nicht mehr seinem Arm. Wohl wissend, welcher Zauber in meinen Augen lag, fuhr ich fort, ihn anzublicken. Aber nur einige Secunden vermochte ich die Augen offen zu halten; mir schwindelte vor Freude und Schmerz. Ich fühlte, wie das Blut warm über das Gesicht rann und einer Ohnmacht nahe, lehnte ich mich an seine Brust. „Gott, Leonore, Sie bluten,“ sagte er, ließ mich sanft auf das Moos nieder, schöpfte Wasser aus dem nahen Waldbache, wusch und verband mich. Ruhig ließ ich es geschehen. Mir war im Leben nie so wohl gewesen und heimlich mußte ich über Constantin’s ängstliche Fragen lächeln, ob ich viel Schmerzen empfinde. Von seinem Arm gestützt, gingen wir langsam weiter. Unsere Herzen pochten nahe aneinander. Unsere Blicke begegneten sich. Die seinigen ruhten mit einer Art magnetischem Zauber auf mir. Ich schlug die Augen nieder und mein Gesicht überzog dunkle Röthe. „Zauberin,“ flüsterte er, „Du hast endlich den entscheidenden Blick in mein Herz gethan: Du weißt, daß ich Dich liebe, wie ein Wahnsinniger liebe. Mit tausend Schmerzen habe ich gegen diese Liebe wie gegen eine Thorheit gekämpft, umsonst, sie blieb Siegerin.“ Er sank in heftiger Aufregung zu meinen Füßen und barg sein Gesicht in meinen Händen, die ich ihm entgegenstreckte. Wohin war mein Stolz den Männern gegenüber? Mein Auge strahlte vor Freude. Doch ein Gedanke durchzuckte mich schmerzlich. Warum sträubte er sich so heftig gegen seine Neigung zu mir? War ich ein Wesen, das man sich schämen mußte zu lieben? „Constantin,“ sagte ich unter Thränen, aber nicht ohne Stolz, „stehe ich so tief unter Dir, daß Du Deine Liebe beschämt verbirgst? Ist es also, wohl, dann verlaß mich.“ „Dich verlassen?,“ rief er, „Dich verlassen? O Du weißt ja, daß ich das nicht kann, wenn ich auch wollte.“ „Nun denn,“ antwortete ich, „was hindert uns dann, glücklich zu sein?“ „Deine Eltern, Mädchen, sie werden nie einwilligen, daß Du die Meinige wirst. Und Du selbst – sieh mich nicht so zürnend an – Du selbst [442] möchtest vielleicht später Deine Wahl bereuen und Dich nach einem glänzendern Loose sehnen. O, ich habe das Alles oft bedacht, und dennoch – dennoch –“

„Dennoch wirst Du gezwungen, mich zu lieben, mein Freund, mein Lehrer, mein Einziger!“

Das Hinzukommen der Gesellschaft legte uns unerwünschten Zwang auf. Ich erzählte meinen Unfall, ward arglos bedauert und Niemand ahnte Etwas von dem, was vorgefallen, obschon ich fürchtete, die Freude, welche meine Augen und Wangen höher leuchten machte, müßte mich Allen verrathen.

Der Tag verging – Dank unserer liebenswürdigen Wirthin – sehr angenehm. Erst spät Abends trat man den Heimweg an. Ein Theil der Gesellschaft fuhr nach Hause; ich zog mit einigen Wenigen den Fußweg vor, denn auf diese Weise hatte ich Gelegenheit, mich noch lange mit Constantin ungestört zu unterhalten. Da man wußte, daß Falk mein früherer Lehrer und ein Günstling meiner Eltern war, fand es Niemand auffallend, daß er meinen Arm nahm. Wir blieben stets eine Strecke hinter den Andern zurück. Bei der sanften Dunkelheit des Abends, bei dem verklärenden Schimmer des Mondes vernahm ich nun die köstlichen, berauschenden Worte seiner Liebe; hörte, wie er mich schon als Kind geliebt und wie ihn jede meiner damaligen Untugenden geschmerzt habe.

„O Constantin,“ sprach ich, seine Hand an mein Herz drückend, „also aus reinem Interesse, aus unbewußter Neigung, aus dem Wunsche mich zu bessern, hast Du ehedem mich so streng behandelt? Weißt Du noch, Du lobtest Clemence stets und fandest immer an mir zu tadeln?“ „Das ist ja das Seltsame bei der Liebe,“ antwortete er, „daß sie wie ein Zauber den Menschen umstrickt, daß der Kampf gegen sie ein vergeblicher ist. Warum fiel meine Liebe nicht auf Clemence, die – verzeihe dies Geständniß – ein besseres, edleres Kind war als Du? Warum mußte stets ein schönes, stolzes Antlitz mit zauberhaft tiefen lockenden Blauaugen, wie ein blauer See, ein Antlitz umflattert von schweren schwarzen Locken vor meiner Seele schweben? Sieh, Leonore, ich weiß, Du bist heftig, eifersüchtig, unversöhnlich; Clemence dagegen war sanft, liebevoll, versöhnlich und voll Demuth, und doch ist es mir nie eingefallen, etwas Anderes als Freundschaft für sie zu empfinden, als ich sie vor zwei Jahren wieder sah. Nur Dir, Leonore, ist es vorbehalten, mich zu beugen und zu fesseln.“

Ich hätte Falk’s Aufrichtigkeit würdigen und ihm desto fester vertrauen sollen; aber seine Worte erweckten in mir eine heimliche, schmerzliche Eifersucht. Ich zog meinen Arm aus dem seinen, mein Auge füllte sich mit Thränen. „Also liebst Du mich gegen Deinen Willen und hast für meine geistigen Eigenschaften keinen Sinn. Du findest mich unvollkommen und voller Fehler. Nur mein Aeußeres, nicht mein Inneres zieht Dich an mich?“ Falk war erschrocken über meine mißtrauische Heftigkeit. Er zog mich näher an sich und sprach mit zärtlichem Vorwurf: „Wie grausam bist Du, mich also mißzuverstehen. Grade Deine kleinen Unvollkommenheiten zogen mich an. Ein fehlerloses, vollkommenes Wesen würde ich nie mit solcher Leidenschaft lieben. Und auch der Gedanke, Dich durch meine Liebe einst weniger mißtrauisch, sanfter, milder und ruhiger zu machen, begeistert mich. Du kennst meine Macht über mich, meine schöne Wilde – mißbrauche sie nie.“

So gelang es ihm, mich zu beruhigen. Wie wäre es auch möglich gewesen, der aus seinen Worten leuchtenden Wahrheit zu widerstehen. Wir beschlossen, unser Verhältniß noch einige Zeit geheim zu halten und später meine Eltern um Einwilligung zu unserer Verbindung zu bitten. Constantin ahnte harte Kämpfe und Widerstand; ich aber war fest überzeugt, weder Vater noch Mutter könnten sich dem Glücke ihres Lieblings widersetzen.

Eine Woche nach diesem für mich so verhängnißvollen Tage wurde ich durch einen Bedienten auf meines Vaters Stube gerufen. Unwillkürlich erblassend und von ungewisser Angst erschien ich. Mit feierlichem und zugleich freudigem Gesicht kündigte er mir an, einer der vornehmsten und reichsten jungen Männer, der Baron von Neuhaus, habe um meine Hand angehalten. Ich stand unbeweglich vor Schrecken und grausamer Ueberraschung und war im Begriff, meine entschiedene Weigerung zu erkennen zu geben, als mein Vater fortfuhr: „Ich sagte bereits in Deinem Namen Ja; denn es ist mein fester Wille, diese in jeder Beziehung passende Verbindung zu Stande zu bringen. Du wirst als verständiges Mädchen und folgsame Tochter mit Freuden einwilligen.“ „Vater,“ erwiederte ich mit festem Tone, „ich bin bis heute stets Deine gehorsame Tochter gewesen, aber diesmal widersetze ich mich. Ich kann und will diesen Neuhaus nicht heirathen.“

Auf meines Vaters Stirn schwoll die Zornesader. „Was für Gründe,“ frug er strenge, „bestimmen Dich, diesen Mann auszuschlagen?“ „Erstens“, erwiederte ich, „kenne ich diesen Baron zu wenig und zweitens liebe ich ihn nicht und werde ihn nie lieben.“

„Mädchenthorheit, sentimentale Ziererei! Das gibt sich Alles. Du magst ihn lieben oder nicht; aber Du wirst Dich mit Neuhaus vermählen. Du kennst jetzt meinen Willen.“

Ich richtete mich todtenbleich aus meiner bisher demüthigen Stellung und blickte mit entschlossenem Trotz in sein finsteres Antlitz. „Auch meinen Willen lerne kennen,“ sprach ich, „ich bin an Willenskraft Deine echte Tochter, hier schwöre ich Dir zu Gott, daß Du mich nie zu dieser Heirath zwingen wirst. Und weißt Du auch, was mich stark macht, Dir zu widerstehen und wärest Du der mächtigste Fürst? Die Liebe ist es!“

Er faßte zornig meinen Arm und preßte ihn so heftig, daß ich fast einen Schmerzensruf ausgestoßen hätte. „Die Liebe – ? Wen liebst Du, halsstarriges, ungehorsames Kind?“

„Constantin Falk,“ rief ich stolz und meine Augen leuchteten kühn den zornflammenden Blicken meines Vaters entgegen. Er war außer sich und nannte Falk einen elenden Emporkömmling, eine undankbare Schlange, einen heimtückischen Verräther, der ihm das Herz seines Kindes gestohlen.

„Halt ein, Vater,“ rief ich, „ich dulde nicht, daß Falk in meiner Gegenwart geschmäht wird. Was Du ihm [443] thust, thust Du mir, Deiner einzigen Tochter.“ „Ich habe keine Tochter mehr,“ sagte er, vom Zorn zum Schmerze übergehend mit gebrochener Stimme; „dieses stolze halsstarrige Mädchen ist nicht meine Tochter Leonore.“

Meine Thränen begannen zu fließen. Ich demüthigte mich, indem ich zu seinen Füßen sank und um Vergebung und Billigung meiner Liebe flehte. Umsonst, er blieb hart und kalt wie Stein; all’ meine Bitten rührten ihn nicht.

Falk verschwendete vergebens am folgenden Tage seine Beredtsamkeit, seine innigen Bitten. Mein Vater behandelte ihn mit empörender Verachtung und tief in den zartesten Punkten seiner Ehre gekränkt verließ er unser Haus. Ich schrieb heimlich einen Brief voll Liebe und Schmerz an ihn, beschwor ihn, mit mir zu entfliehen und malte mein Verhältniß im elterlichen Hause mit den düstersten Farben. Ach mir ahnte, was er antworten würde. Er wies meinen Vorschlag der heimlichen Flucht als seiner unwürdig zurück und bewies mir, daß mein Vater alsdann mit vollem Rechte seinen Namen beschimpfen könne. Ach, alle Gründe, die er nannte, waren von überwiegender Wichtigkeit und dennoch beleidigte mich sein warmer, zärtlicher, im Schmerze der Entsagung geschriebener Brief. Er deutete auf seine Stellung als Beamteter, die er, ohne ehrlos zu erscheinen, nicht durch heimliche Flucht aufgeben könne und erinnerte mich, daß er nichts weniger als reich sei und es darum für ein schweres Unrecht halte, mich aus dem Ueberflusse zu locken und einem vielleicht dunkeln Schicksale Preis zu geben. Aber er bat mich auch, treu auszuharren und dem Baron standhaft meine Hand zu verweigern. In ihm lebte die feste Hoffnung, daß wenige Jahre unserm Schicksale eine freundlichere Wendung geben würden, und darum beschwor er mich, Muth zu fassen, ihm treu zu bleiben und stets seiner unwandelbaren Liebe zu vertrauen.

Es verflossen nun einige trübselige Wochen. Baron Neuhaus setzte trotz meiner entschiedenen Kälte seine Bewerbungen fort und nahm meine Versicherung, ich würde nie heirathen, mit ungläubigem Lächeln auf. Meine Mutter lag seit den heftigen Auftritten in der Familie krank. Die Großtante kränkelte ebenfalls seit lange und verließ nie ihr abgelegenes Zimmer. Falk wurde in dieser Zeit zu einem ehrenvollen Amte in der Schweiz berufen; und wir mußten scheiden ohne Abschied. Der Gedanke, daß er nicht mehr mit mir an demselben Orte, nicht mehr dieselbe Luft athme, machte mich unaussprechlich muthlos. Er gibt mich auf, sprach ich mißtrauisch zu mir; er hat mich vergessen, sonst wäre er in der schrecklichen Prüfungszeit, die ich zu bestehen, nicht fortgezogen. Er will mich lieber unglücklich sehen, als daß ein Fleck an seiner Ehre hafte.

Die Krankheit meiner Mutter verschlimmerte sich täglich und ihre bisher unterdrückte Liebe zu mir brach in diesen Leidenstagen wieder siegend hervor. Sie nannte mich wieder ihre geliebte Leonore, ließ mich im Gefühl der nahen ewigen Trennung wenig von sich und versprach mir sogar bei dem strengen Vater für mich und Falk zu bitten. Das that sie auch wirklich; aber selbst der Wunsch der sterbenden Gattin vermochte nicht sein hochmüthiges stolzes Herz zu erweichen.

Dem Drange meiner Sehnsucht folgend hatte ich während der Krankheit meiner Mutter einmal an Falk geschrieben, doch keine Antwort erfolgte. Es ist gewiß, er hat Dich vergessen, flüsterte mein böser Genius mir zu, er ist ein Mann wie Alle, treulos, flatterhaft. Aber trotzdem wollte mein Herz seinen Glauben zu ihm nicht so schnell aufgeben.

Da wollte es ein unerforschliches Geschick, daß eine meiner früheren Gespielinnen, die von einer Reise zurückkehrte, meinen früheren Lehrer in B. gesehen haben wollte. „Er führte eine junge schöne Dame,“ erzählte sie arglos, „die er küßte und nach einem Reisewagen führte, in welchem eine ältliche Frau saß. Als er sie in den Wagen hob, küßte er sie nochmals und bat sie, ihm bald zu schreiben. Es war gewiß die Braut Deines ehemaligen Schuldespoten.“ Die gute schwatzhafte Anna hatte keine Ahnung, welchen Wintersturm sie durch ihre Erzählung in mir hervorbrachte, wie sie mein Herz folterte. Als sie fort war, warf ich mich schluchzend zur Erde und gab mich einem wilden, leidenschaftlichen Schmerze hin. Ich dachte gar nicht an die Möglichkeit eines Irrthums, dachte gar nicht daran, Nachforschungen anzustellen. Falk’s Schwester konnte es nicht sein, weil diese zu weit entfernt lebte. Ach und später erfuhr ich, daß sie es doch gewesen. Auch die Kunde, daß mein Vater meinen Brief an Falk unterschlagen, erfuhr ich erst, als es zu spät war. Wehe über meine unzeitige Eifersucht, über mein Mißtrauen und meine maßlose Heftigkeit; sie legten den Grund zu meinem spätern maßlosen Unglück.

Nach einem schrecklichen Tage, dem eine schlaflose Nacht folgte, trat ich bleich, mit kalten starren Zügen vor meinen Vater und erklärte ihm, daß ich bereit sei, Neuhaus meine Hand zu gehen. Er war überrascht und hocherfreut und bemerkte in der Freude über meine Sinnesänderung nicht einmal die Blässe meiner Wangen. Als Herr von Neuhaus mir seine Aufwartung machte, erklärte ich ruhig und kalt, ich wolle nach dem Wunsche meiner Eltern die Seinige werden, falls ihm noch daran gelegen, eine Frau zu besitzen, die keine Liebe und Zuneigung zu ihm besitze. Er war erbärmlich genug, darauf einzugehen.

Den Tag nach meiner Verlobung starb meine Mutter, mich segnend und für das Opfer, das ich gebracht, dankend. Thränenlos stand ich in der Nacht einsam an ihrem Sarge und hatte keine andre Empfindung, als Ekel gegen das Leben, Haß gegen die Lebenden und Neid gegen die Todten. „Mutter,“ sprach ich, ihre kalte Hand erfassend, „warum bin ich nicht statt Deiner gestorben? Mir ahnt es, ein harter Kampf ohne Sieg wird meine Zukunft sein.“ Ich setzte die Lampe auf die Erde und versank neben der Leiche in düstre Träumereien. In meiner Seele leuchtete nicht das tröstende Bild der Religion. Ich hatte weder wahren Glauben an Gott noch Liebe zu ihm; und wurde von Zweifeln an Unsterblichkeit und dunkler Ahnung von etwas Höhern hin und her gerissen. „Was ist das Leben anders als ein Puppenspiel,“ flüsterte ich, „Könige und Bettler wirft man nach beendetem Trauerspiel in die Gerüllkammer.“ [444] Die nächtliche Kühle erst weckte mich aus meinem finstern Brüten. Ich ergriff die Lampe und eilte schauernd nach meinem Zimmer.

Noch waren seit der Mutter Tode kaum acht Tage verstrichen, als auch die alte Fioretti, welche wie eine Klausnerin in ihrem Zimmer bisher noch vegetirt hatte, sich dem Tode näherte. Da sie Niemand anders um sich duldete, war ich nothgedrungen ihre Pflegerin. Bereits zu schwach, um selbst ihre Angelegenheiten zu besorgen, überließ sie das mir. Ich mußte Papiere und Briefe zusammen suchen und verbrennen, ohne daß ich sie hätte vorher lesen dürfen. Ihren reichen Schmuck ließ sie sich auf das Bett bringen, um sich noch einmal an den reichen Kleinodien zu ergötzen. Diese alte seltsame Frau liebäugelte auch im Angesicht des Todes mit dem Geschmeide.

„Nimm hin, Leonore,“ sagte sie endlich, indem sie das Kästchen wieder verschloß; „nimm hin, ich schenke Dir diese Schmucksachen. Ich könnte zwar nicht sagen, daß ich Dich besonders liebte, aber Du stehst mir doch näher als Andere, weil Du mir so ähnlich bist. Auch ich war einst jung und schön.“

Nach einer Weile fuhr sie plötzlich aus einem leisen Schlummer auf, gab mir den Schlüssel zu einem Wandschranke und ließ ein kleines Kästchen von Ebenholz herausnehmen und sich auf’s Bett geben. „Schwöre mir, Leonore,“ sprach sie mit schwacher Stimme, „diese Fläschchen und dieses Pulver in den See zu werfen, wo er am tiefsten ist.“ Ich versprach es und fragte mit natürlicher Neugier: „was enthalten diese Gläschen?“ „Hülfe gegen Feinde, Schlaf für Müde, Strafe für Treulose, Mittel Verläumdern den Mund zu schließen,“ murmelte sie, immer schwächer werdend. „Ach es ist also Gift!“ rief ich leise schaudernd. Sie nickte wie im Traume mit dem Kopfe und begann wie im Delirium Allerlei ohne Zusammenhang durcheinander zu flüstern: „Cäsario, unser Bündniß ist gelöst – die Todten können nichts verrathen – schweig Andrée – Deine Pulver wirkten gut –“. Sie hörte auf zu flüstern und versank in eine schlafähnliche Bewußtlosigkeit. Ich lief aus dem Zimmer und schickte nach dem Arzte. Dann versteckte ich das geheimnißvolle, dem Wasser geweihte Kästchen unter meinen zahlreichen Büchern.

Der Arzt fand die Fioretti dem Tode nahe. Das Bewußtsein kehrte nicht wieder. Er gab ihr nur noch einige Stunden zu leben. Wirklich starb sie auch, ruhig aus der Ohnmacht in den Tod gehend, noch selbe Nacht. Ihr Leben ist ein dunkles, ungelöstes Räthsel geblieben. Ich glaube aber, daß mehr als eine schwere Blutschuld auf ihrer Seele lastete.

Das Kästchen mit dem Gifte wollte ich, meinem Versprechen gemäß, in den Bodensee werfen, aber ich unterließ es. Ein seltsamer Zauber mußte in den unscheinbaren Glasbehältnissen liegen, denn ich vermochte es nicht, sie dem nassen Elemente zu überliefern. Eine Stimme aus der dunkelsten Region meiner Seele sagte mir: „Behalte das Gift für Dich! Nimm es selbst, sobald Du dieses elende Leben enden willst.“ Und ich folgte dieser Stimme. Es war meine erste schlechte That, der später andere folgten; denn das Böse wächst lawinenartig, wenn nicht edle, gewaltige Kräfte dagegen wirken.

Der sechste November des Jahres 17.. nahte heran. Es war mein Hochzeittag. An Falk hatte ich in kurzen, stolzen Worten die tiefe Kränkung geschrieben und ihm meine Verlobung gemeldet. Seine Antwort, die ich am Abende vor meiner Hochzeit erhielt, riß alle Wunden meines Herzens wieder auf und goß glühend Oel in die Flamme. Ernst, würdig, mitleidig und voll unterdrückter Liebe, aber auch vorwurfsvoll waren seine Worte. Ich erfuhr, daß ich auf Constantin’s eigene Schwester eifersüchtig gewesen und daß er seit unserer Trennung keinen Brief von mir erhalten hatte. Seine gerechten Worte trafen wie Dolchstiche mein Herz. Die letzten Worte des Briefes waren: „Alles ist vorbei zwischen uns Beiden! So schriebst Du mir, Leonore! Ja, es ist so – durch Deine Schuld. Hätte uns nur ein widrig Geschick getrennt, so würden wir auch tausend Meilen von einander, geistig vereint geblieben sein. Du aber hast Dich durch schnödes Mißtrauen von mir geschieden. Wer mir nicht fest vertraut, kann mich auch nicht wahrhaft lieben. Lebe wohl! Gott möge Dich segnen. Du kränktest mich tief, aber ich verzeihe Dir und werde Deiner nie vergessen. O Leonore, Du bist unglücklich. Lasse das Unglück Deine Seele läutern, und nicht verdunkeln.“

[453] Ich las seinen Brief wohl zehnmal, wie im dumpfen Traume. Ach, was hätt’ ich drum gegeben, recht heiß weinen zu können. Aber keine Thräne benetzte meine brennenden Augen. Ruhelos schritt ich das Zimmer auf und ab, sah starren Blicks nach meinem Brautkleide, das glänzend und prächtig auf dem Divan ausgebreitet lag. Zornig warf ich den Rubinschmuck, der mich morgen zieren sollte, zur Erde und biß mir die Lippen blutig, um nicht laut aufzuschreien. Kein Gedanke an Gott und die Feierlichkeit des Bundes, den ich morgen eingehen sollte, kam in meine Seele, und die auf leidenschaftliche Schmerzausbrüche eintretende Ruhe war nur die Folge körperlicher Abspannung.

Der klare, sonnige Morgen fand mich ruhig und entschlossen oder vielmehr trotzig und voll stillen Zorns gegen das Schicksal. Ein erzwungenes Lächeln verhüllte wie ein Schleier den Zustand meines Innern. Gleichgültig als ginge es zu einem Balle, ließ ich mich in den schweren weißseidenen Stoff kleiden und Hals und Arme mit funkelnden Steinen schmücken. Als Kranz und Schleier auf meinen dunkeln Locken ruhten und ich mich bräutlich geschmückt im Spiegel beschaute, vermochte ich trotz meiner unglücklichen Stimmung ein gewisses stolzes Wohlgefallen ob meiner Schönheit nicht zu unterdrücken. „So will ich denn von heut’ an,“ sprach ich zu mir, „nur der Prunksucht und Eitelkeit leben, da mir das Glück keine Gabe außer Reichthum und Schönheit gegeben hat.“ Dergleichen weltliche Gedanken erfüllten mich in demselben Augenblicke, wo ich vor Gott treten sollte. Der Schall der Glocken erst brachte mich wieder zu dem niederbeugenden Bewußtsein, daß ich von jetzt an einem ungeliebten Manne angehöre und daß die strenge Pflicht das Opfer meines für einen Andern erglühenden Herzens verlange. Wie von einem bösen Traume befangen, ging ich zur Kirche, hörte die Stimme des Priesters, ohne seine Worte deutlich zu verstehen, sagte mechanisch: Ja, und welchselte den Trauring. Meine Seele war während der ganzen Ceremonie weit weg, fern in den blauen Bergen der Schweiz bei Constantin. Nur Stolz bestimmte [454] mich, bei dem ganzen Feste eine heitere, zufriedene Miene zu heucheln und lächelnd die Glückwünsche der Hochzeitgäste zu empfangen.

Das äußerlich glänzende Leben, das ich von nun an begann, ließ die Menschen glauben, ich sei eine der beneidenswerthesten Frauen. Ich selbst übertäubte auch wirklich die nagende innere Unzufriedenheit eine Zeit lang durch geräuschvolle Vergnügungen und durch die Triumphe, die meine Eitelkeit und mein Stolz feierten.

Eine geraume Zeit ließ sich Neuhaus meine Kälte und Schroffheit ihm gegenüber gefallen. Er fand sich mit dem Gedanken geschmeichelt, der Gatte des hübschesten und witzigsten Frauenzimmers von C. zu sein. Allmälig aber änderte sich dieser Stand der Dinge. An die Stelle der blinden Verehrung trat Enttäuschung und Langeweile. Er hatte gehofft, seine ausdauernde Liebe zu mir endlich mit Gegenliebe oder doch wenigstens mit Vertrauen belohnt zu sehen; ich aber stand ihm nach wie vor kalt und höflich-gleichgültig gegenüber. So fing Neuhaus endlich an, mich zu hassen. Ja, der Fluch einer unglücklichen, verfehlten Ehe ruhte schwer auf uns. Mein Gatte mußte auf jede Traulichkeit, auf jeden Zauber einer glücklichen Häuslichkeit verzichten. Er fand in meinem Herzen nicht eine einzige verwandte Saite. Dabei sah er sich durch mich mancher frühern Freiheit beraubt. Grund genug, mich im Stillen mit Haß und Verachtung zu behandeln – ich sage, im Stillen, denn vor der Welt gaben wir uns Mühe, für ein zufriedenes Paar zu gelten. Und ich, war ich weniger zu beklagen als er? Nur ein Weib kann verstehen, was es heißt, dem Geliebten entsagen zu müssen und die Frau eines unliebenswürdigen und ungeliebten Gatten zu sein.

Ich gab mich fortwährend allen erdenklichen Zerstreuungen hin; aber selbst die Bewunderung, die man meinem Geiste, meinen Worten, meiner Schönheit zollte, vermochten nicht die drückende und grenzenlose Gleichgültigkeit zu tödten, die mich verzehrte. Nur Lectüre ergötzte mich noch; aber was ich las, zeigte den verdorbenen Geschmack und die irreligiöse, unweibliche Richtung meines Geistes.

Mein Mann wurde im Hause immer tyrannischer. Er äußerte seine Abneigung durch unendliche Launen und suchte mich selbst geflissentlich zu kränken. Mein Haß dagegen war so tief und versteckt, daß Neuhaus ihn nur für Gleichgültigkeit hielt.

So schleppten wir uns im Gefühle gegenseitiger Abneigung fast ein Jahr hin. O es war ein Leben so schmachvoll, so entwürdigend, daß ich mir oft sehnlich den Tod wünschte. Um diese Zeit starb sehr plötzlich mein Vater und hinterließ mir ein beträchtliches Vermögen. Gern hätte ich meinem Manne den größten Theil desselben abgetreten, wenn ich dadurch frei geworden wäre; aber er mußte wohl Gründe haben, die ihn nicht in eine Trennung willigen ließen. Ueberdies waren wir katholisch und die Geistlichkeit erschwerte damals die Ehescheidung sehr.

Eines Tages kündigte mir mein Gemahl an, wir würden eine Reise machen. Ich wäre viel lieber daheim geblieben. Das wußte er; aber darum gerade bestand er darauf, mich mitzunehmen. Das Ziel unserer Reise war Zürich. Unterwegs blieben wir einen Tag in B.. und ein sonderbarer Zufall wollte, daß ich dort in einem Concerte, welches ein durchreisender Künstler gab, Constantin von fern erblickte. Er lehnte, ohne meine Anwesenheit zu ahnen, an einer Säule und schien ganz in die Musik versunken. Mein Herz schlug mit so furchtbarer Heftigkeit, daß ich kaum Athem schöpfen konnte. Ich vergaß meine Umgebung, sah einzig nur ihn und ließ mich dabei von den schmeichelnden Tönen der Musik berauschen. Ein unsanftes Rütteln und die Stimme meines Gatten, der mich höhnisch frug, ob ich zur Salzsäule erstarrt sei, riefen mich in die Wirklichkeit zurück. Wenn Blicke tödten könnten, so würde ich Neuhaus getödtet haben, wie ich ihn ansah. Er fühlte auch den Zorn, der aus meinen Augen loderte. „Ich hätte nicht geglaubt,“ sagte er, „daß ein gestörter musikalischer Genuß Madame in solchen Zorn versetzen könnte.“ Wir verließen vor beendigtem Concert den Saal und mir blieb nur Zeit, noch einen verstohlenen Blick nach Constantin zu werfen. Unglücklicher als je kehrte ich von der Reise zurück und wir spielten wieder eine Zeit lang die Rolle eines zufriedenen Ehepaares. Ich besuchte Gesellschaften, tanzte oder saß am Spieltisch, während sich Neuhaus immer mehr dem Genusse übermäßigen Weintrinkens hingab. Seine hierdurch hervorgerufene Kränklichkeit bestimmte ihn, unsern Wohnsitz auf ein halbes Jahr nach unserm zweiten Gute zu verlegen, wo er von der gesünderen Bergluft Stärkung verhoffte. Ich war so stumpf geworden, daß mir es völlig gleichgültig war, wo wir lebten. Ich traf also ohne Widerrede meine Vorbereitungen zur Reise. Als ich in meinen Schränken und Commoden kramte, fand ich auch das Ebenholzkästchen wieder, das ich der todten Großtante versprochen hatte in den See zu werfen. Ich öffnete es und mein Blick heftete sich unwillkürlich auf die kleinen Phiolen. Er vermochte sich von den unheimlichen Gläsern nicht loszureißen. Ein Meer von Gedanken wogte in meiner Stirn, welche fieberhaft brannte. „Trost für Unglückliche,“ sprach die Großtante. „Bist du etwa glücklich? Ist dein Leben werth, daß du es lebst?“

Es giebt Menschen, deren Seelen durch schwere Prüfung im Unglück milder, edler werden; die durch den Kampf mit dem Schicksal nicht innerlich zerrissen und gebrochen werden, sondern die sich erheben, und von Gottvertrauen, von Unschuld und Entsagung getragen werden über die dunkeln Stürme der Erde. Ach, zu solchen gehörte ich nicht! Aber es giebt auch Menschen, bei denen das Böse schon in der Kindheit einen schweren Kampf mit dem Guten beginnt; Menschen, die, wenn ihnen ein heiteres, glückliches Erdenloos fällt, durch das Glück frommer, reiner und vollkommener werden; während im Gegentheil Gram und Schmerz ihre edelsten Kräfte verzehren, das Bessere in ihnen ersticken, das Herz verhärten und alle schlummernden Keime des Bösen wecken. Sie sind nicht geistig erhaben genug, den Schmerz zu verklären; sie gehen darin unter, und der böse Genius schlägt triumphirend seine Fledermausfittige.

Auch mich hatte der Schmerz hart, bitter und [455] schlecht gemacht. Was lag mir daran, wenn Andere litten, kämpften, starben? Warum sollten sie glücklicher sein als ich? Und Sterben schien mir kein Uebel. Ich sah im Tode das Ende alles Schmerzes, aller Leidenschaft, alles Unheils.

„Du hältst das Mittel, das dich von allem Weh befreit, das dich schmerzlos aus diesem elenden Leben führt, in den Händen,“ sprach ich zu mir. Der Gedanke, mich dieses Mittels zu bedienen, ward immer lebendiger. Schon reifte der Entschluß, als mich plötzlich eine feige Angst erfaßte. „Aber wie?“ frug ich schaudernd, „wenn diese italienischen Worte hier, die einen sanften, schmerzlosen Tod verheißen, lügen? Wenn dennoch Kämpfe, Qualen die Pforte des Todes umlagerten? Wenn ich unter schmerzvollem Sturme mein Leben endigen müßte?“ Eine erbärmliche Todesfurcht bemächtigte sich meiner. Hierzu gesellte sich ein anderer Gedanke: „Du bist noch so jung,“ flüsterte es in mir, „dein Geschick kann sich plötzlich wenden; ein reiches Leben kann sich dir noch erschließen. Wenn du jetzt stirbst, hast du nur des Lebens Elend gekostet, nicht seinen Hochgenuß, die Freiheit und die Liebe. Wäre es nicht möglich, daß Neuhaus bald stürbe? Er kränkelt schon lange. – – – “ Es giebt in jedem Menschenherzen eine geheime dunkle Stelle, wo eine giftige Schlange schlummert; ein einziger Gedanke, ein Wort kann sie aufwecken – es muß aber das rechte Zauberwort sein. Bei mir war es der Name meines Gatten. Ein Blitz durchzuckte mein Innerstes, es war der Gedanke: Dein Gatte muß sterben! Ich fühlte keine Reue über diesen schändlichen Vorsatz – im Gegentheil, mir wurde auf einmal leicht und wohl, wie Jemandem, der nach langem, langem Schwanken einen unwiderruflichen Entschluß gefaßt hat. Sorgfältig verschloß ich das Kästchen und nahm es mit nach unserm Gute. Niemand hätte meinen jetzt so ruhigen, leidenschaftlosen Zügen angesehen, über welcher That ich brütete. Vierzehn Tage nach unserer Ankunft auf dem Gute machte ich einen Versuch mit dem Pulver an meinem sprechenden Papagei. Der Vogel war mir lieb gewesen, und jetzt noch nach langen Jahren schaudere ich zurück vor der empörenden Rohheit, mit welcher ich das arme Thier opferte. Kurze Zeit nach Genuß des Giftes wurde der arme Pierre betäubt, taumelte in seinem Käfig wie ein Trunkener und starb nach einer Stunde. Schon ganz matt blickte er noch wehmüthig auf mich und mit einem schnarrenden: gute Nacht, Pierre, gute Nacht, Leonore! erstarrte das treue Thier. Wie konnte ich es nur wagen, den sterbenden Vogel auf meinem Schooße zu liebkosen und über ihn zu weinen? Doch that ich es und es war keine Heuchelei. Ich fühlte eine seltsame Befriedigung, mein Opfer zu beweinen. Aber Reue fühlte ich nicht. O Abgrund der menschlichen Seele!

Laßt mich so schnell als möglich über die dunkelste und verworfenste Zeit meines Lebens weggehen. Sie drückt mir das Kainszeichen auf die Stirn und verweist mich unter die Verworfenen der Menschheit. Fluch jener Zeit! Fluch über mich selber!

Mit einer Vorsicht, Schlauheit und Ueberlegung, die einer Brinvillier Ehre gemacht haben würden, opferte ich das Leben meines Gatten, indem ich langsam und von Zeit zu Zeit seine Speisen vergiftete. Sein allmäliges Hinwelken und Sterben erfolgte ohne alle auffallende und Verdacht erregende Krankheitssymptome. Abzehrung, Traurigkeit, Appetitlosigkeit und beständige Neigung zum Schlaf waren die einzigen Zeichen von der Wirkung des Giftes. Obwohl Neuhaus kein Vertrauen zur Medizin hatte, ließ er doch endlich den Arzt kommen. Dieser verschrieb ein Mittel nach dem andern, ohne die entfernteste Ahnung von der Ursache der Krankheit zu haben. Wer hätte auch so etwas ahnen sollen!

Nach einigen Wochen fühlte Neuhaus sein herannahendes Ende. Er ordnete seine Angelegenheiten und bedachte mich reichlich in seinem Testamente. Kalt und ruhig sah ich die Stunde herannahen, wo sein Lehen erlöschen mußte wie die Lampe, der es an Oel gebricht. Ich war erstarkt und vorgeschritten im Bösen; ja es kam mir zuweilen vor, als zucke meine Hand mit geheimer Lust, wenn ich eine neue Dosis Gift in die Speisen mischte. Es gab wieder Augenblicke, wo ich vor mir selbst zurückschauderte; aber eine geheime unwiderstehliche Macht trieb mich weiter auf dem Pfade der Sünde.

Neuhaus war in der letzten Zeit seines Lebens viel sanfter gegen mich geworden; wahrscheinlich weil ihm die Sorgsamkeit und Geduld, mit welcher ich die Rolle seiner Pflegerin spielte, rührte. Am dreißigsten November starb er. Nachdem mir der Arzt vertraut, der Kranke werde die Nacht nicht überleben, ging er. Ich blieb mit dem Sterbenden allein. Still wie ein Marmorbild saß ich neben dem halb Bewußtlosen und trocknete den kalten Schweiß von seiner Stirn. Ja, die Mörderin erfrechte sich, ihrem Opfer die letzten Liebesdienste zu erweisen. Mir war die Ruhe, mit welcher ich des Sterbenden Pulsschläge zählte, selbst unheimlich und entsetzlich. Warum weinte ich nicht? Warum fühlte ich keine Reue? – Plötzlich schlug der Sterbende noch einmal die trüben eingesunkenen Augen auf; er richtete sich mit seltsamer Kraft etwas empor, starrte mich mit einem unbeschreiblich schrecklichen Ausdrucke, der mein Haar sträuben machte, an und murmelte: „Leonore, ich weiß es!“ – Es waren seine letzten Worte. Wenige Augenblicke später war er eine Leiche.

Was war es, das mein Blut erstarren machte? Was bannte mich an den Sessel neben dem Todten und ließ mich ihn starren Blicks, mit krampfhaft gefalteten Händen anschauen? Erkenntniß und Reue meines Verbrechens war es nicht. Es war ein gewaltiges Entsetzen, das über mich kam. Warum sagte Neuhaus, bevor er starb: Leonore, ich weiß es! In diesen drei Worten lag so Geheimes, Schreckliches. Und doch konnte er nicht ahnen, nicht wissen, wie und durch wen er starb. Unbefangen hatte er ja bis zuletzt Speise und Arznei aus meiner Hand genommen. Oeffnete vielleicht die Nähe des Todes sein Auge zu höherem Wissen, und ließ ihn in den Tiefen meines Herzens lesen? O, dieser Glaube war ja mir meinen aufgeklärten Ansichten ganz unverträglich.

[456] Unbeweglich blieb ich den langen Abend so sitzen. Die furchtbaren drei Worte hielten meine Denkkraft gefesselt. Wie im Traum sah ich die Dienstleute, mich beklagend, leise hin und wiederschleichen. Ich sah zwischen den Gardinen den Mond hinter den Gebirgen aufsteigen. Ich vernahm das Picken der Wanduhr. Endlich fiel ich in eine tiefe wohlthätige Ohnmacht.

Weder die nothwendigen aufregenden Beschäftigungen der folgenden Tage, noch das Begräbniß meines Gatten erweckten in meinem Herzen bessere Gefühle. Mir war es, als sei ein Stein von der Brust gewälzt, als Neuhaus in die Gruft seiner Ahnen gesetzt ward, ohne daß irgend ein Mensch eine Ahnung von der Ursache seines Todes hatte. Ich war frei und dieser Gedanke gab mir alle frühere Energie. „Suche glücklich zu werden,“ sprach eine innere Stimme; „es ist der Zweck und die Krone des Lebens. Unsterblichkeit ist ein eitler Wahn hochmüthigen Menschengeistes, der edler zu sein glaubt als die ganze Natur. Siehe die Pflanzen, die Thiere – das Individuum stirbt, aber die Gattung bleibt. Was willst du mehr sein als sie?“

Die trauernde Wittwe spielend blieb ich den Winter über in meiner ländlichen Einsamkeit; aber unter den dunkeln Trauerkleidern pochte ein gewissenloses, liebeglühendes Herz, das sich begierig nach der Welt zurücksehnte, wo der Gegenstand seiner Liebe lebte. Alle meine Gedanken drängten sich zu Constantin. Ich sehnte mich nach dem Sonnenstrahl seines Auges, nach dem Lichte seiner Liebe. Daß er sich seit der langen Zeit unserer Trennung verlobt, daß er geheirathet haben könnte, fiel mir nicht im Traume ein. Er, für den ich gekämpft und gelitten, für den ich so tief gesunken war, konnte mich jetzt nicht mehr verlassen. Er sollte mich das Erlebte vergessen machen. In dieser Zuversicht wiegte ich mich die ganze Zeit nach meines Gatten Tode.

Eines Abends blättere ich, nichts ahnend, in der Zeitung. Flüchtig übereilen meine Blicke die letzten Seiten und ich bin eben in Begriff, das Blatt wieder hinweg zu legen, als ganz am Schlusse eine Vermählungsanzeige meine Aufmerksamkeit auf sich zieht. Es wird dunkel vor meinen Augen, mein Herz krampft zusammen, ich stoße einen Todesschrei aus und stürze zu Boden – Constantin Falk hat sich mit Clemence Beaumont, meiner ehemaligen Gespielin, vermählt.

Als meine Besinnung endlich wiederkehrt, war mir zu Muthe wie dem Ertrinkenden, dem eine Woge das letzte Bret, an das er sich geklammert hält, hinweggerissen hat und der nun den Untergang vor Augen sieht. Also darum hatte ich gekämpft, gelitten, geheuchelt und gemordet. Stöhnend und mit gerungenen Händen lehnte ich mich in die Polster des Sessels; nur rauhes, trocknes Schluchzen entrang sich meiner Brust. Mir war der Trost der Thränen versagt, seit ich über der Leiche meines armen geopferten Vogels geweint.

Von dieser Stunde an, wo ich Constantin’s Vermählung gelesen, begann meine Strafe, von dieser Stunde an begann die ewige Vergeltung, zwar anfangs nur leise, ihr immer furchtbarer werdendes Rächeramt.

[463] Als der Frühling gekommen, reiste ich, um mich zu zerstreuen, in ein damals sehr besuchtes Bad. Kaum angekommen, ließ ich mir die Badeliste bringen und wer beschreibt meine Gefühle des Schmerzes, des Hasses und der Freude, als ich las: Constantin Falk und Clemence Falk. Auf’s Neue trat der Versucher zu mir und flüsterte: „Er hat sie nicht aus Liebe genommen – Dein Bild lebt noch in ihm. Tritt zwischen Beide mit der Macht Deiner Schönheit und nimm zurück, was Dir gehört, Constantin’s Herz.“ Der Zufall war günstig. Auf meinem Spaziergange am folgenden Tage traf ich mit Clemence zusammen. Ich hätte sie nicht wieder erkannt; sie aber flog sogleich mit einem Freudenausrufe in meine Arme. Wie sah es in diesem Augenblicke in meinem Innern aus. Ich hielt den Gegenstand meines Hasses, Neides, meiner Eifersucht in den Armen, gab ihm die zärtlichsten Betheuerungen, während ich ihn mit Wollust in meinen Armen hätte lieber sterben sehen. Clemence schien wahrhaft erfreut, mich wieder zu sehen. Sie küßte mich immer von Neuem, beklagte mein Schicksal mit argloser, aufrichtiger Theilnahme und bat mich inständig, nach beendeter Badecur eine Zeit lang in ihrem Hause zu wohnen. Mit heimlicher Freude sagte ich zu. Arme Clemence, welche Schlange nahmst Du bei Dir auf.

Nachdem ich die vollkommene Fassung wieder bekommen, betrachtete ich mir die ehemalige Jugendgespielin mit Aufmerksamkeit. Sie war ein Wesen von eigenthümlicher Lieblichkeit geworden. Ihre Gestalt, ihr Gesicht hatten etwas ungemein Zartes und Anmuthiges. In dem Blicke ihres braunen Auges lag der Zauber einer reinen Kinderseele. Lange Locken umflossen reich ihr Gesicht, das nur leise gefärbt, einer Lilie im Abendscheine glich.

„Bist Du nicht neugierig, zu erfahren,“ fragte sie im Laufe des Gesprächs, „wie ich Constantin’s Frau geworden bin?“ Ich bejahte. Sie erzählte mir nun, wie sie mit ihrer Mutter eine Zeit lang in B. gelebt. Hier habe sie Falk wiedergesehen. Er sei oft zu ihnen gekommen und habe endlich um ihre Hand angehalten. [464] „Ach,“ fügte sie mit gesenktem Auge bei, „ich fühle, daß ich seiner nicht ganz würdig bin – mein Geist kann dem seinigen nicht genügen und zuweilen fürchte ich . . . .“

,.Was fürchtest Du?“

„Daß er mich mehr aus Mitleid und Freundschaft als aus Liebe geheirathet hat,“ seufzte Clemence offenherzig; „denn ich verstand nicht, ihm zu verhehlen, wie glücklich mich sein Kommen, wie betrübt mich sein Gehen machte.“ Dann wieder heiter werdend rief sie: „O, wie wird sich Constantin freuen, Dich wiederzusehen. Wie wird er staunen über Deine Schönheit. Denn wirklich, Leonore, Du bist unendlich reizend geworden und selbst die Trauerkleidung kleidet Dich ungemein. – Vor Zeiten seid Ihr freilich nicht immer gute Freunde gewesen,“ fuhr sie arglos fort – „weißt Du noch, er gab Dir oft Stubenarrest und tadelte Dein heftiges Aufbrausen; aber das ist jetzt Alles längst vergessen.“ In diesem Augenblicke sahen wir Falk die Allee daher kommen. Ich nahm alle meine geistige Kraft zusammen, um Constantin nicht meine Aufregung und Freude zu verrathen und es gelang mir. Aber ich sah ihn bei meinem unerwarteten Anblick heftig zusammenschrecken, erst roth, dann todtenbleich werdend – ich triumphirte, er liebte mich noch immer. Kalt, unbefangen und höflich redete ich ihn an, als ob wir uns nie näher gestanden. Mein Benehmen schien ihn in Erstaunen zu setzen, gab ihm aber auch Gelegenheit, sich zu fassen und mit Ruhe Clemence anzuhören, die ihm freudig und arglos erzählte, ich würde sie in B. besuchen. –

Eine geraume Zeit war verflossen. Seit mehreren Wochen befand ich mich im Hause von Clemence und Constantin. Erstere hatte sich so an meine Gesellschaft gewöhnt, sie hing mit so schwärmerischer Freundschaft an mir, daß ich gar nicht von meiner Abreise reden durfte, wollte ich sie nicht ganz traurig machen. Ihren Gatten hatte ich durch meine Kälte und Unbefangenheit ebenfalls getäuscht und sicher gemacht. Der Bethörte! Er glaubte mich und sich von der heftigsten aller Leidenschaften geheilt und drang ebenfalls darauf, meinen Aufenthalt zu verlängern. Da es mir überhaupt gar nicht, bevor ich nicht meinen Zweck erreicht hatte, einfiel zu gehen, so kam mir dieses Zureden um so erwünschter. Nach Verlauf einiger Zeit war mir es gelungen, meinem Plane immer näher zu kommen. Falk’s Liebe zu mir erwachte von Neuem. Ich erkannte bald klar, ich war nie ganz seinem Herzen entschwunden und daß er Clemence halb aus Verzweiflung, halb aus Freundschaft und vielleicht auch aus Sehnsucht nach einer Häuslichkeit geheirathet. Aber was sollte aus ihr werden? Stand sie nicht wie ein Engel mit dem feurigen Schwerte vor den Pforten meines Paradieses? Mit reuevollem Herzen bekenne ich es: in einer dunkeln Stunde hatte ich Clemence denselben Tod geschworen, den Neuhaus starb; doch ward dieser verworfene Gedanke bald von besseren Gefühlen erstickt. Wie schlecht ich auch war, schlich ich doch eines Abends allein an das Wasser, zerschlug die Giftfläschchen und warf sie mit ihrem todtschwangern Inhalt in die Tiefe.

Clemence’s Leben sollte von mir nicht gefährdet werden, das hatte ich mir fest gelobt; aber trotzdem nahm mein Haß gegen sie in dem Grade zu, als die Unmöglichkeit sich immer mehr entgegenstellte, sie aus ihrem Rechte zu vertreiben. Wie viele Mal habe ich ihr geflucht und den Tod gewünscht. Welche abscheulichen Hoffnungen knüpfte ich einst an eine Erkältungskrankheit, von der sie befallen wurde. Während ich mich auf ihren Tod freute, pflegte ich die Erkrankte mit scheinbarer Zärtlichkeit. Wider Erwarten aber genas sie. Als sie mir nach ihrer Genesung mit lieblicher Innigkeit für die sorgsame Pflege dankte und mich zärtlich an ihr Herz drückte, da zuckte zum ersten Male etwas wie Rührung durch mein Herz. Ich zürnte mir selbst wegen dieser Weichheit; aber von diesem Augenblicke an hörte ich auf, Clemence zu hassen.

Nach einigen Wochen fing die Gattin Constantin’s von Neuem zu kränkeln an. Sie hustete oft, ihre Wangen verloren die anmuthige Rundung und Abends glühten ihre Augen und Hände in leisem Fieber. Sie hatte nie so viel Materielles als andere Sterbliche gehabt; aber jetzt erinnerte sie mich unwillkürlich an die duftigen Nebelgestalten aus Ossian’s Gesängen. Der Hausarzt nahm dieses Unwohlsein nicht leicht. Er verschrieb einige Mittel und drang hauptsächlich auf eine Luftveränderung. Clemence beschloß daher eine Reise zu ihrer Tante in den Elsaß. Da Constantin für den Augenblick B. nicht gut verlassen konnte, so bat sie mich flehendlich, sie nach Straßburg zu begleiten. Nach kurzem Bedenken erklärte ich meine Bereitwilligkeit. Sie fiel mir dankbar um den Hals, küsste mich und rief ihrem Manne scherzend zu: „Komm Constantin, küsse sie auch und danke ihr.“ Constantin’s Gesicht wurde bei diesen Worten bleich. Er zitterte und rührte sich nicht von der Stelle. Meine Wangen aber überzogen sich plötzlich mit einem verrätherischen Roth. Zum ersten Male schien Clemence das Benehmen Constantin’s auffallend zu finden; sie sah erst ihn und dann mich klar und forschend an; aber weder ein Wort noch ein Blick von ihr ließ einen Argwohn ahnen und ihre liebevolle Freundlichkeit blieb dieselbe.

Nach einer von dem herrlichsten Herbstwetter begünstigten Reise langten wir in Straßburg an. Clemence schien sich gekräftigt zu haben und war in heiterer Stimmung. Wie stand es aber mit mir? Die unverdiente Güte und wahrhaft engelhafte Freundschaft Clemence’s zu mir erfüllten mein Herz mit schmerzlichen Gefühlen der Reue. Wie gern hätte ich jetzt alle Verwünschungen, die ich noch vor Kurzem über die Schuldlose ausstieß, zurückgenommen. Im Traume erschien sie mir wiederholt, bleich und gestorben im Sarge liegend und die Stimme eines unsichtbaren unheimlichen Wesens flüsterte leis: „Du hast sie getödtet.“ Ich erwachte stets in furchtbarer Nervenaufregung. Indeß zerstreute der heitere Tag, die freundliche Aufnahme bei Clemence’s Verwandten, das rege Leben und die vielen Sehenswürdigkeiten der alten Stadt die finstern Traumgebilde. Auch meine geistigen Leiden wurden durch den stets lächelnden blauen Himmel, durch die Reize einer üppigen Natur für einige Zeit eingeschläfert.

Ihr, die Ihr dieses leset, staunet immerhin, daß eine [465] Verbrecherin, eine Mörderin, noch Sinn und Gefühl für die sanfte Anmuth der Natur, für die großartige Schönheit des gestirnten Himmels sich bewahrt hatte.

Clemence versicherte, sich sehr wohl zu befinden, obwohl ihre Gestalt immer ätherischer, ihre Wangen immer bleicher und durchsichtiger wurden. Sie schien Vergnügen an den kleinen Ausflügen, die wir in die ländliche Umgebung von Straßburg machten, zu finden und lächelte, wenn ich sie bat, sich mehr zu schonen. Eines Tages fuhren wir in Begleitung mit Clemence’s Vetter nach dem Odilienberg, ein Ort nicht ohne Berühmtheit, der häufig besucht ward. Nachdem wir die Reste der alten römischen Straße und die Heidenmauer in Augenschein genommen, traten wir in die alte Kapelle, um auszuruhen. Es saßen bereits zwei junge Männer lesend darin. Der Eine von ihnen erregte durch seine Gestalt und edle Gesichtsbildung unsere Aufmerksamkeit. Der junge Jainville, unser Begleiter, sagte, es sei ein gewisser Herr Goethe aus Frankfurt und stellte uns später dem jungem Manne, den er von Straßburg her kannte, vor. Es entspann sich bald eine lebhafte Unterhaltung mit den beiden jungen Herren. Der Eine war sanft und fast schüchtern, redete wenig; aber Herr Goethe war lebhafter. Die hohe jugendliche Gestalt, die edle freie Miene, die schöngebogene kühne Nase, die großen durchdringenden braunen Augen, die hohe Stirn, durch die damalige Mode, das Haar aufwärts zu kämmen, noch höher gemacht, verfehlten nicht, besonderes Interesse für diesen jungen Mann hervorzurufen.

In der Klosterkirche befanden sich einige nicht eben vorzügliche Gemälde. Während die Andern mit ihrer Besichtigung beschäftigt waren, las ich die unterschiedlichen französischen und deutschen Zeilen, die hier und da in die Fenster und in das Holz eines großen Beichtstuhles eingegraben waren. In die Ecke eines Fensters hatte Jemand geschrieben:

„In deinem Tempel, o Gott –
Suchte ich Schutz vor der Liebe –
Aber sie verfolgt mich zum Altar
Und mischt sich in meine Gebete.
Libera de morte me aeterna, Domine!“

In dem Betstuhle stand:

„Nach heißem Kampfe, heißem Schmerz,
Nach mühevollen Tagen
Laß mich, o Gott, mein müdes Herz
Zu Deinem Altar tragen.“

Doch kehrten meine Blicke immer wieder zu dem trostlosen Hülferuf der Liebe zurück, einer Liebe, die sogar dies Gebet nicht zu verscheuchen vermochte. Wie paßten diese Worte so ganz auf mich. Meine Lippen preßten sich vor Schmerz zusammen; meine Augen trübten sich von verborgenem Weh. So stand ich lange sinnend vor dem Fenster, bis mich Clemence aus meiner Träumerei weckte.

In der Nähe des Klosters befindet sich eine Art Terrasse, zu deren Füßen ein fürchterlicher Abgrund gähnt, von wo man aber die entzückendste Aussicht auf die ganze große reiche Landschaft ringsum genießt. Die ganze fruchtbare Gegend mit Städten, Bergen, Dörfern, Wäldern und Gewässern liegt malerisch vor uns ausgebreitet, und wie ein Leuchtthurm aus Klippen ragt der ungeheure Münsterthurm aus dem Häusergewimmel hervor. Clemence blickte zitternd in die fürchterliche Tiefe. „Welch schrecklicher Tod,“ sagte sie, „hier hinunterzustürzen.“ Mich aber überkam ein wilder Drang nach so jähem Tode. Der Abgrund sprach ordentlich verlockend. Ein Sprung und Alles ist vorbei, sprach es in mir. Herr Goethe, der neben mir stand, schien meine Gedanken zu errathen. Er sprach: „diese schwindelnde Tiefe, wie die unergründlichen Fluthen, üben beide eine Anziehungskraft aus auf Unglückliche.“ Ich wurde roth und wieder sehr bleich. Er schien das jedoch nicht zu bemerken.

Bei später Abendzeit kehrten wir nach Barr, wo wir übernachteten, zurück.

Seit diesem Tage kamen wir oft mit dem jungen Goethe, dessen Gespräche uns wunderbar erregten und erquickten, zusammen. In Folge einer Erkältung ward Clemence’s Gesundheit wieder heftig angegriffen. Sie befand sich bereits seit zwei Wochen sehr unwohl. Plötzlich erschreckte mich der Gedanke, sie könne in Straßburg sterben. Ich freute mich jetzt nicht mehr über den Tod meiner Nebenbuhlerin. Ihre unbegrenzte Sanftmuth und Liebe hatten meinen Haß ertödtet und mein Herz sanfter gestimmt. Vielleicht hatte auch Falk's Einfluß in der letztern Zeit unseres Beisammenseins veredlend auf mich gewirkt. Genug, ich wünschte jetzt eben so sehr ihr Leben als früher ihren Tod. Eine leise Ahnung von der Erhabenheit stiller Entsagung durchklang mein Innerstes. „Dein Werk ist es,“ sprach mein Gewissen. „daß sie so früh stirbt. Du hast so oft und aus vollem Herzen ihren Tod gewünscht. Deine Verwünschungen, der Haß, den Du gesäet, sind aufgegangen und beginnen ihre giftigen Früchte zu tragen.“ Eine tiefe, schwere Melancholie bemächtigte sich meiner innersten Seele. Eine unwiderstehliche Sehnsucht, der Freundin voranzugehen, kam über mich. Diese unerträgliche Stimmung erreichte eines Abends eine solche Höhe, daß ich, nachdem ich noch Clemence wohl verpflegt und der Obhut ihrer Tante überlassen, raschen entschlossenen Schrittes nach dem Münster eilte. Aller Qualen mit einem Male ledig zu werden, war der beständige Gedanke, der mich gänzlich erfüllte. Unverdrossen stieg ich Treppe auf Treppe in dem ungeheuren Bauwerke. Endlich stand ich oben an der Stelle, wo kein schützendes Geländer abhält, sich in die fürchterliche Tiefe zu stürzen. Ohne mich umzusehen, betrat ich die Schwelle des Todes, warf noch einen scheuen Blick in die im Abenddunkel ergrauende Welt und schleuderte Hut und Umschlagetuch hinter mich und ein nur augenblicklicher aber entsetzlicher Kampf begann. Der Gedanke an einen Gott, den ich immer so beharrlich geläugnet, erwachte plötzlich; aber eine trotzige Stimme in mir rief: „Muth! Muth!“ Ich beugte mich vorwärts: Gott habe Mitleid … wollte ich sagen, als mich ein kräftiger Arm vom Abgrunde hinweg riß. Starr und verwirrt blickte ich in das Gesicht desjenigen, der sich erkühnte, zwischen mir und den Tod zu treten. Zwei leuchtende Augen blickten mich ernst strafend, durchdringend und doch mitleidvoll an. Ich erkannte den jungen Goethe. „Zurück!“ herrschte er in gebietendem Tone, und von seinem [466] Befehl gezwungen, sank ich kraftlos und demüthig in die Knie. „Wie kommen Sie hierher?“ stammelte ich. Er lächelte ernst. „Wie ich hierherkomme? Ich sitze schon seit einer Stunde hier oben. Ich steige oft herauf, die Sonne untergehen zu sehen. Es ist so meine Art. Aber Sie, Madame, warum wollten Sie freventlich Ihr junges Leben enden? Läugnen Sie nicht! Die Wildheit und Verstörung Ihres Gesichts bezeugen es.“ Ich zitterte vor seinem mächtigen Blicke, wie vor dem Auge des Richters und erwiederte, den Kopf tief senkend: „Ich wollte ein unglückliches, schuldvolles Leben zum Opfer bringen.“

„Also die eine, jedenfalls kleinere Schuld mit einer größern sühnen? Mit einer Schuld, die man nicht mehr bereuen kann, da der Tod ihr unmittelbarer Begleiter? Nein Madame, kehren Sie in das Ihnen verhaßte Leben zurück, das ist die beste Buße – in ein Leben voll nützlicher, heilbringender Thätigkeit.“ Er hing mir rasch das Tuch um, bot mir den Arm und geleitete mich vorsichtig aus der fürchterlichen Höhe. Dann gingen wir still – ich in stummem Gehorsam – durch die düstern Straßen bis an meine Wohnung, wo er nach sehr kräftiger Ermahnung von mir schied.

Auf meinem Zimmer angekommen, warf ich mich auf die Knie und versuchte das erste Mal zu beten. Vergebens, mir fehlte Vertrauen und Glaube, mein Gebet war nichts als ein wilder Schmerzensruf. Der Schlaf floh mich und die ganze Nacht dachte ich über die Worte meines Erretters nach: „ein Leben voll nützlicher, heilbringender Thätigkeit.“

Als ich am folgenden Morgen bei Clemence eintrat, fiel mir ihre Blässe und Hinfälligkeit in hohem Grade auf. In einer einzigen Nacht hatte sie sich schrecklich verändert. Sie zog mich zu sich auf’s Sopha. „Leonore,“ sagte sie mit matter Stimme, „mir ist, als müßte ich bald sterben; laß uns sobald als möglich von hier abreisen. Ich habe eine grenzenlose Sehnsucht nach Constantin und der Heimath. Ich möchte beide so gern noch einmal sehen, ehe ich heimgehe.“ „Sprich nicht so, Clemence,“ rief ich und umarmte das arme Weib mit Heftigkeit: „Du sollst und mußt noch lange leben!“ Sie lächelte wehmüthig, schüttelte das Haupt und sprach, indem sie mit ihrer Hand liebkosend durch meine aufgelösten Locken fuhr: „wenn die Blume von einem Wurm zerstört ist, hilft weder Jugend noch Liebe und Pflege.“

Wenige Tage später verließen wir Straßburg und fuhren nach der Heimath. Ich sah meinen Retter und Warner nicht wieder, habe aber später seinen Namen hochgefeiert am deutschen Dichterhimmel glänzen sehen. Sein großer, wunderbarer Genius goß mir in spätern Jahren, wo ich ganz einsam mit mir und meiner Schuld war, oft süßen Trost in meine Seele.

Als wir in B. angelangt waren, wollte ich nach meinem Gute abreisen, denn Falk’s Anblick erweckte so leidenschaftliche schmerzliche Gefühle in mir, daß ich zwischen Liebe und Reue schwankend, mich weit hinwegwünschte. Clemence ließ aber nicht ab, mich zu bitten, ihr die letzten Tage durch meine Gegenwart und Pflege zu erheitern. Ich blieb also, um die zarte Blume, die ich ehedem gehaßt und verfolgt, dahin welken zu sehen. Clemence war tief und innig fromm, obwohl sie wenig von Religion sprach und nur selten zur Kirche ging. Ihr ganzes Leben strömte Liebe und Milde, und so war auch ihr Tod.

In den letzten Wochen bat sie ihren Gatten, er möge sie für jenes Leben vorbereiten und ihr Trost mitgeben auf dem dunkeln Pfade. Constantin, der sich in der letzten Zeit sehr verändert hatte und sichtbar bleicher geworden war, fühlte sich doppelt niedergebeugt durch seine stumme Neigung zu mir und durch das so frühe Hinwelken seiner Gattin, der er vielleicht eben so wie mir, aber mit höherer als irdischen Liebe zugethan war. Mit mir sprach er jetzt weniger und hütete seine Blicke, wie ein Wärter seine Gefangenen. Oft saß ich, von ihm unbemerkt, im Alkoven des Krankenzimmers und lauschte, wie er der kranken Clemence Worte himmlischen Trostes zusprach. In solchen Stunden war sein Antlitz das eines jungen Apostels; sein Auge leuchtete mit ungewöhnlichem Glanze und seine Worte waren von überzeugender Kraft. Die Kranke hörte ihm mit freudiger Ergebung zu und schien sich hinwegzusehnen aus dem Erdenleben, hinauf nach dem Lande der Engel, zu welchen letzteren sie schon hinnieden gehörte.

Auch in meinem Gemüthe ging in solchen Augenblicken eine wunderbare Veränderung vor. Constantin’s siegende Beredtsamkeit, die Macht der Wahrheit, die aus seinen Worten sprach, brachen endlich die starre Eisrinde meines Unglaubens und in heißen Thränen schmolz sie von der Sonne der Religion.

An einem stillen klaren Abende ging Clemence zur Ruhe ein. Einige schwere Stunden hatte sie vorher standhaft überwunden und ihr Sterben selbst war schön wie ein Sonnenuntergang, der das bleiche stille Antlitz verklärte. Sie entschlummerte mit lächelnder Lippe, nachdem sie mit Liebe und Dank von mir und Constantin Abschied genommen hatte.

Auch mir dankte sie! O wie schwarz, wie abschreckend kam mir mein ganzes Dasein vor, wenn ich es mit dem Leben dieses Engels verglich.

Constantin’s Schmerz war nicht leidenschaftlich, aber wahr und tief; der meinige nagend und herbe.

Ich hatte schon vor Clemence’s Tode eine Wohnung in einem benachbarten Hause bezogen, um nicht mehr als nothwendig mit Constantin zusammen zu treffen. Jetzt aber sah ich ihn gar nicht mehr. Wir vermieden uns beiderseitig.

Wie soll es mir gelingen, ein Gemälde meines damaligen Seelenzustandes zu entwerfen? Reue, Schmerz, Erinnerungsqualen, Stolz und die alte unbesiegbare Liebe stritten in meinem Herzen. So schwand ein Tag nach dem andern einsam und freudlos dahin. Und meine Nächte! O wer nicht selbst die Last einer schweren dunklen That auf der Seele trägt, wer nicht empfunden hat, was es heißt – jede Nacht denselben gräßlichen Traum zu träumen, dieselbe bleiche Schattengestalt am Lager stehen zu sehen und sie flüstern zu hören: „Leonore, ich weiß es!“ – der kennt nicht den Fluch, der auf solchen Nächten ruht.

[475] Eines Morgens, als ich ermattet aufwachte, wandelte mich plötzlich die Sehnsucht an, nach der Kirche zu gehen. Es war Sonntag. Schwarz gekleidet, gesenkten Hauptes schritt ich nach dem Gotteshause. Viele Leute, die mir begegneten, grüßten mich achtungsvoll als Clemence’s Freundin. Ich hörte, wie man meine aufopfernde Freundschaft für Madame Falk rühmte. Ich hätte mögen vor Scham in die Erde sinken. Diese Beweise von Achtung beugten mich tiefer, als es offene Verachtung gethan haben würde. Gleichwohl hätte ich um keinen Preis der Welt ein offenes Geständniß meiner Schuld abzulegen vermocht. Ich trat in die Kirche. Voll und erhaben schlug der Orgelton an mein Ohr. Das herzdurchdringende Confiteor! einer mächtigen Baritonstimme schüttelte mich wie Fieberfrost und machte mich erbeben wie Espenlaub. Confiteor! tönte es nochmals mahnend und warnend. Ich faltete inbrünstig die Hände und betete zum ersten Male aus voller Seele. Ich demüthigte mich büßend vor Gott. Aber sollte ich auch der Welt meine Sünde bekennen? Nein, das vermochte ich nicht. Sowohl mein Stolz, wie meine Liebe zu Constantin sträubten sich wild dagegen. Mir war der Verlust seiner Liebe und Achtung schrecklicher als der Tod. Hätte es sich blos um mein Leben gehandelt, wäre mir die Wahl nicht schwer geworden.

Etwas beruhigt und getröstet verließ ich die Kirche. Unterwegs kam mir von Neuem der Gedanke: Wie kann ich ein Leben voll heilbringender Thätigkeit beginnen? Kirche gehen, beten, ein Kloster bereichern? Das konnte Goethe unmöglich gemeint haben. Andere Vorsätze kamen in meinen Sinn. Ich reiste zurück nach meinem Gute Waldenheim und begann damit, hierselbst und in der Umgegend gemeinnützige Anstalten in das Leben zu rufen. Das mir von Neuhaus hinterlassene Kapital verwandte ich auf Erbauung eines Waisenhauses. Durch Errichtung einer Fabrik bemühte ich mich, Arbeitlosen Arbeit und Brot zu verschaffen. In Verbindung mit benachbarten Edelleuten bewerkstelligte ich Verbesserungen im Dorfschulwesen. Bei [476] dieser Wirksamkeit ward mir geraume Zeit keine Muse, während der geschäfts- und geräuschvollen Tageszeit über meine dunkle Vergangenheit nachzudenken und mich mit Gewissensvorwürfen zu quälen; aber des Nachts, wenn Alles still ringsum, wenn die Seele in sich selbst zurückkehrte, stand auch der gräßliche Schatten da. Düster und unwiderruflich stand er da und die Stimme des innern Gerichts rief: „Glaube nicht, mit dem, was Du bis jetzt Gutes gethan, Dich zu entsühnen.“ Und wenn sich mein ruheloses Herz innig nach Constantin sehnte, da war es immer, als stelle sich ein schauerliches Etwas dazwischen.

So waren wohl anderthalb Jahre seit Clemence’s Tode vergangen. Ein Frühling, so schön, so reich, wie er nur immer über diese paradiesische Gegend herabsinken kann, umlächelte mich und überschüttete mein gebeugtes Haupt mit Blüthen, aber mein Herz frohlockte nicht mehr wie einst dem Frühlinge entgegen.

Es war am ersten Pfingstfeiertage, als ich langsam dem Walde zuwandelte, um die eine halbe Stunde entfernte Kirche zu besuchen. Es war ein Morgen so still, so klar, so lieblich. Feierliches Rauschen umfing mich im Walde. Aus den Zweigen tönte der Himmelsgesang der Vögel. Das Lied hieß: Lobsinget dem Herrn! Von der einen Seite, wo sich der Wald lichtete, tönte Glockengeläute. Hoch und bläulich, von leisem Duft umzogen, ruhten die fernen Berge und der im Thale dahinziehende Fluß strahlte wie flüssiges Silber. Grüner Sammet überzog die Wiesenflur. Weiße, blaue, rothe Steinchen guckten freundlich zum blauen Himmel. Ich entsann mich, wie ich an einem eben so schönen Pfingstmorgen einst mit Constantin in den Wald gegangen war, um Blumen und Erdbeeren zu suchen. Damals ging ich – sorglos unschuldig – an der Hand des Jünglings, eine helle rosige Gegenwart und Zukunft vor mir. Schon damals liebte ich ihn, wie ein Kind einen milden und doch starken Männergeist lieben kann. Sonst und jetzt! welch ein Unterschied. Auch heute liebte ich ihn noch, aber mit einer andern Liebe, mit glühenden, trostlosen, nagenden Gefühlen. Eine weiche Stimmung kam über mich. Ich weinte und fühlte mich fast erdrückt von der Last der Erinnerung. „Constantin! ach, Constantin!“ rief ich laut durch den einsamen Wald, als ob meine klagende Stimme ihn hätte herbeizaubern können. Aber Alles blieb still. Nur Blätterrauschen, Vogelstimmen und eintöniges Murmeln des Waldbaches zwischen traurig-dunkeln Föhren. Ich setzte mich unter eine alte graue Eiche in’s weiche Moos und schrieb unter einzelnen herabtropfenden Thränen folgendes Gedicht, mein erstes und mein letztes:

Hör’, wie der Frühling ruft mit tausend Stimmen,
Sieh, wie in sanfter, luft’ger Silberpracht
Die leichten Wolken still dort oben schwimmen.
Wie mich umgrünt die duft’ge Waldesnacht.

Ach freudenlos steh’ ich in all’ dem Glanze,
Umsonst lacht mir das Morgensonnenlicht.
Umsonst schmückt sich die Au’ mit buntem Kranze,
Kein Lenz erhellt mein trauernd Angesicht.

Ein Wunsch, ein einz’ger bebt durch meine Seele,
Ein Schmerzensruf nach Ruhe hier im Thal,
Vergessen möcht’ ich alle Schuld und Fehle,
Das Laster und der Lieb’ Erinn’rungsqual!

Wann sinkt mein Abendstern? O daß ich schliefe
Im stillen Moose hier, in grüner Nacht,
In jener Grabesruh’, in jener stillen Tiefe,
Aus der man nicht mehr auferwacht.

Ich barg das beschriebene Blatt in meinem Busen. Mir war, als habe ich dem Walde gebeichtet. Plötzlich tönten entfernte Schritte. Ich blickte auf und mußte meine Arme um einen Baum schlagen, um nicht umzusinken. Wenige Schritte vor mir stand – Constantin. „Leonore! Constantin!“ riefen wir Beide zugleich. Er eilte mit ausgebreiteten Armen auf mich zu, als wolle er mich an’s Herz drücken. Ich aber schlang gleichsam Hülfe suchend meinen Arm fester um den Baum und rief: „Wen suchest Du?“ „Leonore,“ fragte er in weichem Tone, „Du fragst, wen ich suche? Dich nur allein! Dich! Man sagte mir im Schlosse, Du seiest in den Wald gegangen. Siehe, ich komme heute im Namen der mächtigen Liebe – im Namen unserer verklärten Clemence, deren Wunsch es war, uns Beide vereint zu wissen, und frage Dich: Willst Du mein Weib sein?“

Himmel und Erde entschwanden meinen umnebelten Blicken; ich wankte und fühlte mich von seinen Armen umschlossen, an seine Brust gedrückt. Er sprach kein Wort und küßte nur immer und immer meine Stirn und meine geschlossenen Augen. Ich genoß in berauschendem Entzücken einige Sekunden das selige Gefühl seiner Gegenwart und seiner Liebe. Aber was schreckte mich plötzlich aus meinem Himmel? Eine unsichtbare eiskalte Hand legte sich zwischen uns und zog mich von ihm. Eine Grabesstimme raunte das Wort: Mörderin!

„Laß mich los, Constantin!“ stöhnte ich, mich seinen Armen entwindend. „Mein Gott, was ist Dir, Leonore?“ rief er erschrocken und vorwurfsvoll. „Liebst Du mich nicht mehr, Leonore?“

„Ach, nur allzusehr,“ rief ich in überströmendem Schmerze. „Könnte ich an Deinem Herzen sterben, wie wohl wäre mir. Aber die Deine, Constantin, kann ich nicht werden. Ich darf nicht an Deiner Seite leben und mit Dir in die Welt zurückkehren. Nein, ich darf nicht. Ich darf nicht.“

Er erblaßte und verschwendete die leidenschaftlichsten Bitten, die liebevollsten Vorstellungen. Er beschwor mich bei seinem und meinem Glücke, bei Clemence’s Schatten – vergebens, ich blieb starr und fest. Gott hatte mir in dem Augenblicke, als ich in Constantin’s Armen ruhte, den Weg zur Buße gezeigt und mir den dunkeln dornigen Pfad erhellt, den ich hinfort wandeln sollte. Ich sank am Fuße der Eiche in die Knie. „Constantin!“ rief ich mit flehender Innigkeit, „Constantin! einzig Geliebter! foltere mein Herz nicht länger. Etwas, das ich Dir nicht nennen kann, trennt uns. Ich habe dem Himmel darum gelobt, keines Mannes Weib zu werden. Nimmer darf ich im Schatten Deiner Liebe ausruhen. Meine Ruhe hienieden ist verwirkt. Das schwöre ich Dir bei Gott dem Allmächtigen.“

Bei meinen leidenschaftlichen Worten war der Papierstreif [477] aus meinem Busen gefallen. Constantin hob ihn hastig auf und las langsam und mit Thränen in den Augen die geschriebenen Worte. Dann sagte er mit gebrochener Stimme: „Armes, liebes Herz! unglückliche Schwärmerin! Was ist mit Dir vorgegangen, daß Du Dich nach dem Tode sehnst wie der verschmachtende Wandrer nach der frischen Quelle? O Leonore, auch Dich hat die religiöse Schwärmerei angesteckt, der falsche Wahn, durch Entäußerung alles Erdenglückes Gott wohlgefällig zu erscheinen. Dich drückt keine Schuld, als die, welche alle Menschen mit Dir theilen – komm mit mir, sei meine Leonore!“ Er wollte mich zu sich emporziehen. „Weiche von mir,“ rief ich wild abwehrend. „Du erscheinst mir zwar in reizender Gestalt, Deine Stimme gleicht der Stimme eines rettenden Engels; aber Du lockst mich in die Verdammniß, in den ewigen Tod – Versucher! entfliehe! –“ Und er entfloh – todtenbleich, mit dem Ausdrucke tiefsten Seelenschmerzes, getäuschter Hoffnung und Liebe. Seine letzten Worte waren: „Ich liebe Dich, ich verzeihe Dir.“ Ach, er glaubte mich von religiöser Schwärmerei befangen, eine krankhafte Richtung damaliger Zeit, die manches junge Gemüth hinter Klostermauern führte. An die Möglichkeit, daß seine geliebte Leonore eine Mörderin – daran dachte er nicht mit entferntester Ahnung. Nach dieser letzten Trennung schrieb er mir noch einmal, in dem Wahne, mich von meiner frommen Schwärmerei zu heilen; aber in der Entsagung des Theuersten auf Erden erkannte ich meine Buße.

Ein Jahr nach dem andern zog über meinem schuldbelasteten Haupte dahin. Ich fristete mein trauriges Dasein durch die mir einst von Goethe empfohlene nützliche Thätigkeit und wurde darum von Allen, die mich kannten, geachtet und geehrt. Doch was hilft die Achtung Anderer, wenn man sich nicht selbst achten, sondern vor sich zurückschaudern muß. Eine solche Achtung belastet das Herz und quält die Seele.

Meine Schönheit begann zu welken. Die strahlenden Augen verloren ihren Glanz und sanken tiefer in ihre Höhlen; die Wangen fielen ein; die Anmuth der Gestalt entwich. Immer einförmiger wurden meine Tage – die Nächte aber, o die Nächte blieben dieselben. Noch immer streckte der Schatten des Ermordeten seine Hand gegen mich und wehrte meine Seele, an Constantin zu denken. Kein Traum von ihm erquickte jemals meine Nächte. Aber fort und fort tönte es wie feierlicher Choral an mein inneres Ohr: „Confiteor!“

Da erhielt ich an einem trüben Winternachmittage die Nachricht von Constantin’s Tode und sein letztes Lebewohl – Worte der Liebe, der Verzeihung und Hoffnung. Welcher Hoffnung! Er hoffte mich jenseits wieder zu finden. Ach, ich bezweifelte jetzt wohl auch nicht mehr, daß mich ein Jenseits erwarte. Aber durfte ich dort, ohne meine Blutschuld gesühnt zu haben, mit ihm, dem Reinen, zusammen treffen?

Meine Thränen flossen heiß, aber gewährten keine Linderung meinem Weh. Durch meine Schuld starb er einsam, von keinem treuen Herzen bewacht und gepflegt.

Ungefähr acht Tage nach Constantin’s Tode hatte ich einen seltsamen Traum. Ich schritt beim Schimmer des Mondes durch die abendlichen Straßen, als ich plötzlich Constantin erblickte, der vor mir herging. An seiner Seite, dicht angedrängt, schlich eine schwarz gekleidete, schlanke Frauengestalt. Bebend vor Freude suchte ich dem Geliebten nachzueilen; meine Füße aber waren wie gelähmt, so daß ich stets einige Schritte hinter den Beiden zurückblieb. Der Himmel wurde dunkler, finstere Wolken legten sich über den Mond. Da zog Constantin etwas aus seinem Busen und hielt es mit erhobener Hand in die Höhe. Es glänzte wie Silber. Immer heller wurde das Licht, das seiner Hand entstrahlte; immer schneller eilten die Beiden voran, immer athemloser folgte ich. Plötzlich gestaltete sich das Licht in Constantin’s Hand zu einem Sterne, in dessen Mitte das Wort: Confiteor! leuchtete. Jetzt bog Constantin in eine dunkle Halle; die himmlische Leuchte seiner Hand erlosch. Wir stiegen eine steinerne Treppe hinauf, die zu einer eisernen verschlossenen Thür führte. Die Thür sprang auf und wir standen in einem düstern, von einer Oellampe matt erleuchteten Kerker. Nichts befand sich darin als eine eiserne Bettstelle, ein hölzerner Stuhl und ein Tisch mit der aufgeschlagenen Bibel. Das weibliche Wesen, das mit Constantin gegangen war, wandte sich jetzt langsam um nach mir. Ich schaute ein todtenblasses ernstes Antlitz – o Entsetzen! – es war mein eigen Antlitz. Ich war es selbst, die ihr Bild anstarrte! – Der Stern begann von Neuem zu flimmern, das leuchtende Confiteor! ward wieder sichtbar und verklärte den grausigen Kerker – mein eigen Gesicht starrte mich in Einem fort an – ich stieß einen hellen, wilden Schrei aus und – erwachte.

Ernst und entschlossen stand ich auf und fiel vor meinem Lager auf die Knie, Gott um Kraft zu dem Entschlusse anzuflehen, den ich jetzt gefaßt hatte. Ich fühlte die tiefe, mahnende Bedeutung des Traumes. Ich wollte die heuchlerische Rolle, die ich so lange in der Welt gespielt und womit ich die Menschen getäuscht, abwerfen. Ich wollte den Schleier von meinem Verbrechen abreißen und mich öffentlich zeigen, was ich war – eine Mörderin!

O, es kostete großen, schweren Kampf, die Maske, die ich Jahrzehnte lang getragen, abzulegen – die allgemeine Achtung, die ich genoß, mit dem Abscheu zu vertauschen, den man vor meinem Verbrechen haben mußte; aber ich that es muthig und zeigte den an meinen Gatten begangenen Mord den Gerichten an.

Laßt mich schweigen von dem Entsetzen, welches Alle befiel, die mich geliebt und geachtet; laßt mich schweigen von der Stunde, wo ich vor meinen Richter trat, wo mein Mund das Verbrechen bekannte und alle Einzelheiten desselben näher bezeichnen mußte. Es waren schreckliche, entsetzliche Stunden – aber zugleich fühlte ich eine wunderbare Erleichterung. Es war, als wenn eine Felsenlast, die Jahrzehnte auf meiner Seele gelegen, endlich herabgewälzt wäre. Eine wohlthätige Ruhe, eine Art Erlösung kam über mich und zum ersten Male in meinem Leben zuckte wie ein himmlischer, [478] verklärender Strahl der Gedanke durch meine Seele, daß Gott ein barmherziger Richter sei.

Mein Urtheil lautete auf Tod, aber mein Vertheidiger wußte Milderungsgründe geltend zu machen, deutete selbst auf gestörten Seelen- und Gemüthszustand hin. So ward die Todesstrafe in lebenslängliches Gefängniß verwandelt.

In der Abgeschlossenheit und Einsamkeit meiner Zelle – abgeschieden von allem Reiz und Comfort des Lebens – bei Wasser und Brot, dankte ich Gott gleichwohl für die Erhaltung meines Lebens, weil mir jetzt Zeit ward, meine wahre Buße zu beginnen So ist mein schwarzes Haar weiß, meine Lippen sind welk geworden und mein Körper ist zusammengebrochen und hoffend blicke ich der letzten Stunde entgegen. Ein Frieden ist herabgekommen, wie ich ihn in der einstigen Freiheit, in dem Rausche der Vergnügungen nie gekannt, nie geahnt. Ja, Gott ist ein barmherziger Gott. Er ward mein Vermittler bei dem zürnenden Schatten, der mir jetzt nicht mehr zürnt, meine Nächte nicht mehr stört. Und was meinen Kerker in den stillen Stunden oft zu einer Frühlingslaube umschafft – es ist die selige Gewißheit, daß meiner erwarten im bessern Lande mit Freude und Liebe – Clemence und Constantin!