Gordon in Khartum
Gordon in Khartum.
Im fernen Sudan, an der Grenze aller Civilisation, wo die Jagd auf den schwarzen Menschen ihre scheußlichen Triumphe feiert, in jenem unglücklichen Lande, dessen Völker seit Jahrhunderten unter der Vergewaltigung einheimischer und fremder Herrscher seufzen, hat sich im letzten Jahre ein blutiges Drama abgespielt, das uns jene Zeiten lebhaft in die Erinnerung zurückruft, in denen das Kreuz und der aufzeigende Halbmond um die Weltherrschaft stritten. Khartum am Nil war die Scene für den letzten Akt desselben; Gordon und Machdi waren die Helden, von deren Sieg oder Fall das Wohl oder Weh des Landes abhing.
Die Geschichte jenes Ringens ist noch heute in vielfaches Dunkel gehüllt. Fast ein Jahr lang dauerte die Belagerung, und über bange Wochen und Monate derselben fehlen uns wahrheitsgetreue Berichte; ungenaue Aussagen der Ueberläufer und Spione lassen uns nur schwache Einblicke in die Ereignisse gewinnen und tragen dazu bei, daß ein Kranz von Märchen und Sagen um die beiden Gegner sich immer enger zusammenzieht. Nur über die kurze Spanne vom 10. September bis zum 14. December 1884 sind in dem vor Kurzem in England veröffentlichten Tagebuche Gordon’s der Nachwelt authentische Nachrichten erhalten.
Es ist wohl eine seltene Erscheinung in der Weltgeschichte, daß der Krieger selbst unter dem Feuer der feindlichen Geschütze die Geschichte seiner Kämpfe niedergeschrieben hat, als ob er geahnt, daß er vor kommenden Geschlechtern sein eigener Anwalt werden müßte.
Diese seltsamen Aufzeichnungen wurden frühzeitig begonnen. Der muthige Begleiter Gordon’s, Oberst Stewart, schrieb sie anfangs nieder, wohl in Gemeinschaft mit seinem Befehlshaber, da Gordon über dieselben sagt: „Das Tagebuch Stewart’s ist ebenso gut mein Tagebuch wie sein eigenes.“ Diese Aufzeichnungen umfassen die Zeit von der Ankunft Gordon’s in Khartum bis zum 9. September, sind aber für die Welt so gut wie verloren, da sie in die Hand des Machdi gefallen sind. An jenem Tage verließ nämlich Stewart Khartum auf dem Dampfer „Abbas“, um nilabwärts Oberägypten zu erreichen und von dort einen wahrheitsgetreuen Bericht über die Zustände in der belagerten Stadt nach England zu depeschiren. Er gelangte auch glücklich über Berber hinaus, erlitt dann aber Schiffbruch und wurde mit allen seinen Begleitern bis auf den Koch, der sich flüchtete, von den Monassir-Arabern beim Landen meuchlings ermordet. So ging uns auch sein Tagebuch, das er mit sich führte, verloren.
Inzwischen setzte Gordon, auf die Entsatzarmee wartend, die Aufzeichnungen fort, und als die Kunde zu ihm gedrungen war, daß die britischen Truppen den Nil entlang sich Khartum näherten, sandte er denselben einige Dampfer entgegen, die dem [482] kommandirenden General unter anderen Nachrichten auch sein Tagebuch überbringen sollten, das mit den schwerwiegenden Worten schloß: „Wenn die Hilfstruppen – und ich verlange nicht mehr als 200 Mann – nicht in zehn Tagen ankommen, so mag die Stadt fallen, und ich habe mein Bestes für die Ehre unseres Vaterlandes gethan. Lebt wohl!“
Diese Hilfe kam doch zu spät, und Khartum fiel am 27. Januar 1885. Es mag einer anderen Feder vorbehalten bleiben, den Lesern der „Gartenlaube“ die Geschichte dieser Belagerung zu schildern, die Gordon selbst mit jener von Sebastopol vergleicht, indem er am 9. December ausruft: „Die Belagerung von Sebastopol dauerte 326 Tage, wir verzeichnen jetzt unsern 271sten Tag. – – Die Russen hatten Geld, wir haben keins; sie hatten geschickte Officiere, wir haben keine, sie hatten keine Civilbevölkerung, wir haben deren vierzig Tausend; sie hatten ihre Rückzugslinie frei und hatten Nachrichten (von ihrem Lande), wir haben weder das Eine noch das Andere!“ – Wir wollen heute nur das Charakterbild „des Helden von Khartum“ skizziren, wie sich dasselbe zwischen den Zeilen des Tagebuchs wiederspiegelt, ein Charakterbild, das vor vielen anderen unseres Jahrhunderts durch besondere Züge sich scharf und deutlich heraushebt.
Die tiefe Religiosität Gordon’s war seit jeher bekannt. Seine Humanität wurzelte tief in den Lehren des Christenthums, und darum finden wir so oft in seinen Aufzeichnungen neben Aufzählungen von Kanonen, Gewehren, Munitionsvorräthen und muthmaßlicher Stärke der feindlichen Kolonnen Citate aus dem Alten und Neuen Testament, so daß wir schier denken möchten, kein moderner General, sondern ein puritanischer Heerführer hätte uns seine Thaten und Pläne in dieser Niederschrift überliefert.
Schon auf den ersten Seiten beruft sich Gordon auf den Spruch Christi: „Wer mich verleugnet auf Erden, den werde ich im Himmel verleugnen“, spricht von den alten Märtyrern, die diejenigen als ihre Feinde ansahen, welche sie am Bekennen ihres Glaubens zu hindern versuchten, und erinnert an jene Männer aus der Zeit der Königinnen Marie und Elisabeth, die auf jede Gefahr hin standhaft bei ihrer Ueberzeugung verharrten, obgleich es sich damals nicht um Verleugnung des Christenthums, sondern nur um die Frage der Messe handelte. Veranlassung dazu gab ihm der Umstand, daß einige Europäer in den fernen Provinzen des Sudan, um ihr Leben zu retten, den mohammedanischen Glauben angenommen hatten. „Es ist vielleicht gut,“ erklärt er, „daß dies ausgelassen wird, wenn dieses Tagebuch veröffentlicht wird, da Niemand das Recht hat, einen Andern zu verurtheilen,“ – „aber,“ fügt er weiter hinzu, „es ist besser zu fallen mit reinen Händen, als vermengt zu werden mit zweifelhaften Handlungen und zweifelhaften Männern.“ Diese Stelle ist von dem Herausgeber der Tagebücher, dem Bruder Gordon’s, mit Recht nicht gestrichen worden, denn mehr als irgend eine andere ist sie für die Stellung des Generals in Khartum bezeichnend, und die in ihr niedergelegte Anschauung bildet die reine Quelle, aus der alle seine Handlungen und Pläne entspringen. Nur in einem Falle erhebt sich in uns, da wir in den Tagebüchern blättern, ein leiser Verdacht, daß auch Gordon in dem schwierigen Kampfe zu hinterlistigen Mitteln gegriffen habe, die mit seinem stets so offenen Charakter nicht in Einklang zu bringen sind.
In dem Briefe des Machdi an Gordon lesen wir die Bemerkung, daß Machdi auch die „beiden Stempel“ aufgegriffen habe, in denen sein Name und sein Zeichen eingravirt waren. Diese Stempel waren also in Khartum gefälscht worden und mit den Papieren Stewart’s in die Hände des Machdi gefallen. Als die Nachricht von der Wegnahme des Dampfers „Abbas“ nach Khartum gekommen war, schrieb Gordon in seinem Tagebuch die Entschuldigung nieder: „Wenn es wahr ist, daß Machdi den ‚Abbas‘ weggenommen hat, dann fand er auch seine eigenen Siegel, die wir prägen ließen, aber nicht benutzt haben.“
Schwerwiegender als diese selbst durch Kriegslist kaum zu entschuldigende Fälschung ist allerdings jene vielbesprochene Proklamation über das Halten der Sklaven in Khartum, die mit den philanthropischen Grundsätzen Gordon’s unvereinbar erscheint. Vielleicht wird es einer späteren Forschung gelingen, die noch dunkle Angelegenheit in milderem Lichte darzustellen. Dies ereignete sich jedoch vor der Zeit, von der wir jetzt reden. In ihr, während der Belagerung, bleibt Gordon unerschütterlich auf dem rechten, ritterlichen Wege, mag die Gefahr sich noch so hoch thürmen.
Slatin Bey, der Gouverneur von Darfur, der, um sein Leben zu retten, zum Islam übergetreten war und im Lager des Machdi sich befand, sendet Briefe auf Briefe, um eine Unterredung mit Gordon zu ermöglichen. Einen Brief schreibt der ehemalige österreichische Officier deutsch, da die Araber ihm sein französisches Lexikon verbrannt hatten in der Annahme, es sei ein christliches Gebetbuch. Er entschuldigt seinen „vielleicht leichtfertigen“ Glaubenswechsel mit der Bemerkung, daß er von Hause aus keine gute religiöse Erziehung erhalten. Gordon schweigt zu Allem. Slatin Bey bemerkt schließlich, er wolle nach Khartum kommen und wieder in Gordon’s Dienste treten, wenn sich dieser verpflichtet, niemals Khartum zu übergeben, da er, Slatin Bey, sonst einen qualvollen Tod erleiden würde. Da ruft Gordon aus: „Das ist wahrlich kein Spartaner, der Solches verlangt!“
Ein Grieche bringt die Nachricht, daß auch die Priester und Nonnen der Mission zu Obeyed zum Islam übergetreten sind, die sechs Nonnen haben, um Gewaltthaten zu entgehen, dort ansässige Griechen – wohl pro forma – geheirathet. Nur Luigi Bornoni, der erste Priester, ist standhaft geblieben. Sarkastisch bemerkt Gordon dazu: „Das ist die Union der griechischen und lateinischen Kirche!“
Aber auch für ihn kommt die Zeit, wo er an seine eigene Niederlage und ihre Folgen ernstlich denken muß. So schreibt er einmal:
„Ich überlege bei mir selbst, ob ich, dafern die Stadt fällt, den Palast und alles, was darin ist, in die Luft sprengen oder aber mich gefangen nehmen lassen und mit Gottes Hilfe treu zu meinem Glauben halten und wenn nöthig dafür leiden soll (was höchst wahrscheinlich ist). Den Palast in die Luft zu sprengen ist das Einfachste, während das Andere langwieriges und beschwerliches Leiden und Erniedrigung aller Art heißt. Ich denke, ich werde den letzteren Weg wählen, nicht aus Furcht vor dem Tode, sondern weil ersterer mehr oder weniger den Makel des Selbstmordes trägt.“
Gordon besaß auch die echt soldatische Verachtung eines Max Piccolomini gegen Diplomaten. „Ich kann mir denken,“ sagt er, „wie sie die Nase darüber rümpfen werden, daß ich es wage, eine Meinung über sie zu haben.“ In Bezug auf den früheren Premier-Minister, dessen Manie für außerordentlich hohe, steife Hemdekragen bekannt ist, spricht er sich in folgender Weise aus:
„Mr. Gladstone hat einen Rivalen hier bezüglich seiner Hemdekragen. Mohamed Bey Ibrahim erschien heute mit richtigen Flügeln, etwas zerlumpt zwar – mit einem Kragen, der ihm bis an beide Ohren ging – nach richtigem orthodoxen Muster.“
Andere Diplomaten, und in mancher Hinsicht seine Vorgesetzten, wie Sir Evelin Baring, Mr. Egerton, Sir Edward Malet, heute englischer Gesandter in Berlin, werden noch stärker von ihm gegeißelt. Freilich, war er nicht auch auf das Aeußerste von ihnen gereizt? Doch er selbst ist keineswegs blind für seine Schwächen, und mit der ihm eigenen freimüthigen Offenheit bekennt er an einer anderen Stelle:
„Ich gebe es zu: ich habe große Insubordination gegen Ihrer Majestät Regierung und ihre Beamten gezeigt, aber das ist meine Natur, und ich kann nichts dafür.... Ich weiß, ich würde, wenn ich Chef wäre, nie mir selbst eine Anstellung geben, denn ich bin unverbesserlich. Männern wie Dilke, die jedes Wort abwägen, muß ich das reine Gift gewesen sein.“ – –
Es ist sonderbar, daß über den siegreichen Gegner Gordon’s, über den Machdi, das Tagebuch so wenig Aufschlüsse bringt. Wie vor den Kriegsgewaltigen früherer Zeiten schreitet vor ihm nur das Gerücht seiner Macht und seines Schreckens; er selbst bleibt uns unsichtbar. Die anekdotenartige Geschichte, die uns Gordon in humoristischer Färbung wiedergiebt: der Machdi habe stets Pfeffer unter seinen Nägeln, damit er je nach Bedarf Thränen vergießen könne – darf schwerlich ernst genommen werden. Bezeichnend dagegen ist die Stelle, die Gordon am 13. September in sein Tagebuch schrieb:
„Die Nachricht von der Annäherung des Machdi hat mich nicht beunruhigt, denn wenn sein Feldzug keinen Erfolg hat, so ist er verloren und eine Expedition nach Kordofan wird unnöthig; wenn er aber das Kriegsglück für sich hat, so kann er durch seine Gegenwart ein Blutbad verhindern. Ich habe immer gefühlt, es wäre unsere Bestimmung, von Angesicht zu Angesicht einander gegenüber zu treten, ehe die Sache zu Ende käme.“
[483] Wer weiß, ob nicht in den letzten Tagen der Belagerung jene Zusammenkunft stattgefunden, ehe die Würfel des Schicksals gefallen waren und der Verrath Mahomed, dem Machdi, dem Sohne von Abd-Allah die Thore Khartums öffnete!
Seit dem letzten „Lebt wohl!“, das Gordon den britischen Soldaten durch sein Tagebuch sandte, hielt er sich noch einige Wochen länger, als er selbst glaubte im Stande zu sein, aber die Hilfe von außen kam dennoch nicht zeitig genug. Die von ihm selbst lange vorhergesehene Stunde nahte. Er fiel, ein Opfer seiner Pflicht, treu ausharrend auf dem ihm anvertrauten Posten. Ganz England trauert noch heute um seinen Heldensohn, und die Vorwürfe, die es sich machen muß, können die Trauer nur doppelt schmerzlich machen.
Kein Wunder, daß, sobald die Trauerkunde einlief, der Plan gefaßt wurde, dem großen Mann ein nationales Denkmal zu errichten. Aber welche Form sollte dasselbe erhalten? Ein Mann, der bei seinen Lebzeiten alle äußeren Ehrenbezeigungen verachtete und – wie sich erst nach seinem Tode alles so recht herausstellte – die ihm verliehenen Ehrenzeichen in Geldeswerth umwandelte, um die Hungerigen zu speisen, ein Mann, der schon eine Einladung zu einem Gastmahl fast wie eine Beleidigung zurückwies, da Tausende seiner Mitmenschen nicht wüßten, wie sie auf das nothdürftigste ihren Hunger stillen sollten und daher für sie eine solche Einladung besser am Platze wäre, ein solcher Mann hatte niemals nach der Ehre gestrebt, sein Bildniß in Stein gehauen zu sehen und sich auf diese Weise von der Menge bewundern zu lassen. Seine Freunde waren die Armen und Nothleidenden gewesen, seinen Ruhm hatte er darein gesetzt, ihr Los zu bessern – wie konnte man sein Andenken besser ehren, als dadurch, daß man sein segensreiches Wirken auch nach seinem Tode lebendig erhielt?
Das National-Gordon-Memorial, zu dem die Beiträge von allen Seiten noch immer reichlich einlaufen, wird daher die Gestalt eines „Lagers“ annehmen, das in der Nähe von London für verwahrloste Knaben errichtet werden und ihnen nicht nur Unterhalt, sondern auch Erziehung gewähren soll. Die Idee findet so allgemeinen Anklang und die Zweckmäßigkeit einer solchen Einrichtung liegt so klar zu Tage, daß einzelne Städte der Provinz noch besondere „Gordon camps“ für die eigene verwahrloste Jugend errichten werden. F. Br.