Geschichte der deutschen Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts
[584] Geschichte der deutschen Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts von Ludwig Solomon (Stuttgart, Levy und Müller). Auf allen Gebieten der Interpretation geistiger Erzeugnisse macht sich seit lange das Bestreben fühlbar, die einzelnen Schaffensperioden, ja die einzelnen Producte selbst aus dem Geiste der Zeit heraus zu erklären und sie im Zusammenhange mit demselben zu betrachten. Die Beurtheilung künstlerischer oder literarischer Hervorbringungen lediglich vom Standpunkte ihrer selbst aus und ohne den Wurzeln nachzuspüren, die sie mit dem Boden der Zeit verbinden, gehört heute gottlob! so ziemlich zu den überwundenen Gewohnheiten. Dies gilt namentlich auch von der Literaturgeschichte. Der moderne Literaturhistoriker pflegt die geistigen Einzelproducte auf ihren Zusammenhang mit dem Geiste der Zeit, die sie geschaffen, zu prüfen. In diesem Sinne darf Ludwig’s Salomon’s „Geschichte der deutschen Nationalliteratur des neunzehnten Jahrhunderts“ ein echtes Kind der Gegenwart genannt werden; sie geht in der Besprechung der verschiedenen Zeltabschnitte wie der einzelnen Werke, durch welche diese Zeitabschnitte gekennzeichnet werden, den Fäden nach, welche diese mit den allgemeinen Strömungen der Culturbewegung verbinden, und bestrebt sich so, die Wechselwirkung zwischen Literatur und Zeitgeist im Rahmen des gegenwärtigen Jahrhunderts klarzulegen.
Was uns Salomon bietet, ist keine Literaturgeschichte in jenem engen Sinne kurzsichtiger Historiographen, welche den Kreis literarischen Schaffens geschlossen glauben in den drei Poesiegattungen: Lyrik, Epik, Dramatik, unter Hinzunahme der Prosadichtung als vierter Abtheilung; wir haben es hier vielmehr mit einem Werke zu thun, welches neben einer verständnisvollen Einführung in die schöne Literatur uns auch ein umfassendes Gemälde von jenen Disciplinen eines mehr abstracten Schaffens entrollt, wie sie in Philosophie und Geschichte, in Politik und Naturgeschichte, in der Aesthetik und den übrigen aus den Grenzen der reinen Fachwissenschaften sich erhebenden Bethätigungen geistigen Lebens sich uns darthun. Wenn Salomon dabei die Dichtung im engeren Sinne in den Vordergrund der Betrachtung rückt, so geschieht dies stets im Zusammenhange mit der geistigen Bewegung der Zeit überhaupt, und dieser universelle Standpunkt ist es, welcher dem auf umfassenden Studien beruhenden Werke seinen eigentlichen Werth verleiht.
Die Salomon’sche „Nationalliteratur“, ein auch äußerlich sehr geschmackvoll ausgestattetes und mit vierundzwanzig Portraits hervorragender Dichter geschmücktes Buch, führt uns nach einer kurzgefaßten Einleitung zu den Epigonen Weimars, das heißt zu denjenigen Dichtern, die noch unter dem unmittelbaren Einflusse der Schiller-Goethe’schen Zeit schufen, und geleitet uns von da durch die lange Entwickelungsreihe der nachclassischen Literatur bis zu dem Schriftthum der Gegenwart, bis zur Kriegslyrik von 1870/71 und der Literatur „im neuen Reich“; sie entrollt uns in übersichtlicher und klarer Darstellung ein nahezu erschöpfendes, wenn auch nur in den Grundlinien gezeichnetes Bild dieser acht Decennien deutscher Literatur und verdient daher als ein schätzenswerthes Handbuch die Beachtung aller Gebildeten.