Gepolsterte Kutscher und Rettiche

Textdaten
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Autor: Hans Bötticher (Joachim Ringelnatz)
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Titel: Gepolsterte Kutscher und Rettiche
Untertitel:
aus: Ein jeder lebt’s.
Seite 47–56
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1913
Verlag: Albert Langen
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Erscheinungsort: München
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans auf commons und UB Bielefeld
Kurzbeschreibung:
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[47]

Gepolsterte Kutscher und Rettiche

Gerechtigkeit, Höflichkeit, Ängstlichkeit und andere Kommandanten ordneten die Leute vor dem Postschalter zu einer Reihe.

„Sieh mal, Alice, dort steht der Alte von gestern, der so komisch war,“ flüstert ein Blondinchen einer vor ihr stehenden Dame zu. Alice antwortet über die Schulter zurück: „Jawohl – aus dem Kabarett, der die Speisekarte komponierte – Hugo Pielmann heißt er.“

Drei Glieder voraus in der Kette dreht sich darauf ein hoher, breitschultriger Herr um, mit schwarzem Schnurrbart, schwarzen dicken Brauen und weißem Haupthaar. Die Lippen und alle Muskeln in seinem Gesicht arbeiten, er will sprechen, aber es kommt nicht heraus. Zudem wird vor ihm gerade der Schalter frei. Pielmann bringt, herantretend, nur einen krächzenden Laut hervor, welcher aus Heiterkeit und Verachtung gemischt scheint. Er ringt wieder nach Worten, um eine Postanweisung zu verlangen, und ein Nachbar dolmetscht zuvorkommend, weil der Beamte nicht deutsch versteht. Am Nebentisch füllt Pielmann die Anweisung aus. Zuerst setzt er 15 Rubel ein, dann ändert er das in 10 um, endlich streicht er die 10 aus und malt eine 14 darüber. Bei Abfassung der Adresse an ein Fräulein Tilly so und so verfährt er sehr umständlich; er schreibt sie, obwohl zitterig, doch deutlich, kürzt weder „Straße“ noch „Hinterhaus“ ab und fügt [48] an die Stockwerkzahl in Klammern die Bemerkung „vis-à-vis dem Starkastel“. Den Abschnitt bedeckt er flüchtig mit Stichworten: „Letzter Vorschuß! Klavier: Wehe, wenn es losgelassen! Akustik: Horch! Da dringt verworrner Ton. Trotz Applaus mir gekündigt (weil ein Tag ausgesetzt, um Konzert Walter zu hören, Beeth. 9.!!! Symph.), Knopp begibt sich weiter fort. Neuen Hut gekauft. Soll ich dir eine Troika oder einen Hermelinpelz aus Rußland mitbringen? Herzlichst, der Alte, der gestern so komisch war.“

Wohl eine Stunde lang streift Pielmann durch Straßen und Gassen, aufmerksam Schaufenster betrachtend, um etwas zu besorgen, was er Tilly mitbringen wird. An keine Troika und keinen Hermelinpelz denkt er, sondern wählt mit vorzüglichem Geschmack eine kleine, naive Schnitzerei, eine Bauernarbeit, weil sie örtliche Spezialität ist, und weil sie zufällig eine sinnige Bedeutung für Tilly hat, und weil sie gerade einen Rubel kostet. Der Verkäufer lächelt über Erscheinung und Sprache des Käufers. Dieser eilt, dem belebten Stadtviertel zu entrinnen, und schimpft über die kauderwelsche Sprache und die Hieroglyphen auf den Straßenschildern, auch über ein dickes Weib, das wie ein Mehlsack gegen ihn geprellt ist, so daß er es fürder für geraten hält, die Hand vor die Tasche mit Tillys Geschenk zu breiten.

Bei den Kais in einem dunklen, verwitterten Holzverschlag steht ein Standbild des heiligen Christoph, aus Holz, über Lebensgröße. – Armer [49] Christoph! Die Witterung hat ihm tiefe Wunden am ganzen Körper beigebracht und wenig von dem Gold und Blau seines Mantels übriggelassen. In seiner roh ausgehauenen Linken wiegt er das Christkindlein, welches wirkliche Kattunkleider trägt, doch was er einst in der Rechten schwang, erfährt man nicht, denn es ist abgebrochen. Vor dem Denkmal kniet ein Flößer, mit schmutzigem Schafpelz und hohen Stiefeln bekleidet, und küßt abwechselnd die plumpen Füße des Heiligen. Nun zieht er ein neues, wollenes Hemd unter dem Schafpelz hervor, entfaltet es und hängt’s bedächtig dem hölzernen Christoph über.

All dem hat Pielmann zugeschaut, wobei er die Lippen ganz zusammengepreßt, mehrmals den Kopf geschüttelt und sehr tief Atem geholt hat. Als nun der Flößer, umkehrend, ihn anbettelt, ist Pielmann für Augenblicke ganz bestürzt. Er wird rot an der Stirn, sprengt, indem er seine Taschen durchwühlt, einen Westenknopf los, und er schenkt dem Kerl schließlich eine Zigarettenspitze aus Meerschaum. Der Bettelnde will ihm die Hand küssen, doch jener reißt sich los, und fortrennend krächzt er wieder laut, diesmal nur unsägliche Verachtung, keine Heiterkeit.

Diese kehrt ihm erst draußen zurück auf dem freien breiten Wege, der sich zwischen hügeligen Kiefernwäldern im weiten Bogen von der Stadt zum Badestrand hindehnt. Geschäftige Personen und müßige Spaziergänger überholen ihn oder begegnen ihm. Er hat keine Geschäfte, hat nicht [50] auffallende Kleider zur Schau zu stellen; er spürt auch keine Neigung, Mitmenschen zu studieren. Die Sonne fühlt er behaglich; er atmet die reine Luft bewußt. Während er zwei Hunde beobachtet, die sich um den Rest eines Fischkorbes balgen, und später, da Pielmann einem spielernsten, uniformierten Jungen, der vor ihm Front gemacht hat, mit militärischem Gruße dankt, überkommt ihn so ein – gutes Lächeln.

Indem er sich an dem sommerfrohen, unbedrängten Spätnachmittag zufrieden und mit seinen Gedanken genügend beschäftigt fühlt, strebt er unwillkürlich, möglichst unbemerkt durch den regen Verkehr zu lenken, doch seine straff gehaltene Gestalt und das ausgeprägte Gesicht, mit dem breiten, in den Winkeln eingekniffenen Mund fallen vielen Passanten auf. Pielmann hat einen eigentümlich schwankenden Gang. Es ist, als ob er nur auf den Hacken stelze; dabei wirft er die Fußspitzen stark auswärts und fuchtelt, etwa in der Bewegung des Mähens, mit den Armen. Seinen Sprachfehler hinzugerechnet, kann man Pielmann leicht für einen Trunkenbold ansehen, oder anders gesagt, man weiß nie, ob er berauscht ist oder nicht, denn sehr häufig ist er wirklich betrunken. Seine nächsten Freunde vermögen das oft nicht zu unterscheiden.

Eine seidene, parfümierte Dame, die bald vor, bald hinter, bald neben ihm herschreitet und kritische Übung besitzt, wird sich indes bald über ihn klar: Er ist ein nüchterner, lustwandelnder Herr [51] in den hohen Fünfzigern, von ordentlicher, gediegener, wenn auch unmoderner Kleidung; er ist ja, wie sein Hut meldet, Künstler. Die Dame bittet ihn mit gewöhnlichen Phrasen um Angabe der Zeit, der Künstler macht eine übertriebene Verbeugung und entgegnet mit scharfen Betonungen und häufiger Unterbrechung: „Es t–t–tut mir leid, mein verehrtes Fräulein, meine Uhr ist beim Uhrmacher. Der ging’s nämlich wie Ihnen. Bald ging sie vor, bald ging sie nach, bald blieb sie stehen, aber, wissen Sie, was bei meiner Uhr Tiktak war, d–d–das scheint bei Ihnen Taktik.“ Ohne weiteres verläßt er damit die Dame, krächzt und freut sich, einen älteren Witz gut angebracht zu haben.

O, er hat an diesem Tage besondere Erlebnisse. Abends, am Meer, oberhalb des Abhanges, erkennt er eine Freundin, welche einst – es mag zehn Jahre zurückliegen – in München eine wechselreiche Künstlerzeit mit ihm durchgemacht hat. Sie haben niemals etwas wie Liebe füreinander empfunden, aber sind sich doch recht vertraut geworden, indem sie die gleichen Gesellschaften von Künstlern und Scheinkünstlern, die gleichen Atelierfeste, Maskeraden und Trinkhäuser besuchten, manchmal zusammen kochten und sich gegenseitig aushalfen in allerlei Nöten.

Pielmann hält den Ausdruck vergnügter Überraschung zurück, um erst einmal ruhig zu prüfen, was ein Jahrzehnt aus der übermütigen, begeisterten Malerin, aus dem braven, schwächlichen [52] Mädel entwickelt hat. Jetzt gewahrt er eine gesunde, volle, elegante – – auch die Art, wie sie sich im Sande gelagert hat und achtlos mit dem Ärmel einer Spitzenjacke spielt, verrät Wohlbefinden. Ihr zur Seite ereifert sich ein Knabe damit, ringförmige Aufstufungen aus Sand zu bauen. Außerdem steht dort ein vernickelter Spielwagen, auf welchem ein Buch und ein Butterbrot in bedenklich enger Freundschaft beisammen sind.

„Pielmann? Piel–mann!“

„Sascha, hä, hä!“

„Wahrhaftig, Pielmann. Wie geraten denn Sie hierher? Mein Gott, leben Sie denn überhaupt noch? Ich dachte, Sie wären längst gestorben.“

„Daß ich nicht wüßte.“

„Famos! Nein, welch ein Zufall! Sie in Rußland! Was tun Sie denn hier? Sind Sie denn noch am Kabarett? Und noch ganz wie früher! O, Sie müssen uns besuchen; ich bin nämlich verheiratet.“

„Piink! pink!“ Pielmann singt zwei hohe Töne und steckt ein unverständliches Lächeln auf, so eine seiner merkwürdigen Angewohnheiten.

„Hm, ich bin Frau. Mein Mann ist der Baron Rostostowsky. – Ja, ja, das ist unser Junge. – Roby, du hast wieder dein Butterbrot nicht gegessen; jetzt bekommen’s die Vögel und du kriegst zur Strafe heute kein Nachtbonbon. Steh auf und gib dem Herrn die Hand.“ Das verwöhnte Kind schiebt sich trotzig heran und streckt unartig [53] die Hand aus. Der Weißhaarige drückt diese unter einer pompösen Verneigung: „Ah, es fr–fr–freut mich, Baron St–St–St–Stofstoffstoffsky, Euer Hochwohlgeboren beim Wiederaufbau des Kollisseums anzutreffen. D–d–darf ich alte Ruine mich daneben setzen?“

Frau von X. lacht, eigentlich über Pielmanns Schuhe. Es fällt ihr ein, daß er niemals auf der Bühne stottert. „Nein, wie Sie drollig aussehen. – Haben Sie Kinder gern?“

„Ich sehe, spreche, erziehe sie gern. – Und Ihnen geht’s also gut?“

„Nun ja, so, so, man hat viele Sorgen, mit den Dienstboten, und Roby ist unfolgsam, und jetzt wird unsere Wohnung tapeziert. – Und Sie? Sind Sie ein berühmter Mann geworden?“

„Dann würden Sie wohl nicht fragen. Als wir uns zuletzt sahen, war ich schon ein geschiedener Gatte und beinahe ein halb Jahrhundert alt; von solcher Höhe steigt man nicht mehr. Was macht denn Ihre Malerei?“

„Die habe ich aufgegeben, aber Sie, etwas müssen Sie doch erreicht haben?“

„Ja, ja, natürlich, selbstverständlich, zum Beispiel diesen prächtigen Filzhut. – Wohnen Sie am Strand?“

„Wir haben hier ein Sommerhaus, mein Mann wird sich ungemein freuen, Sie kennen zu lernen. Er fuhr zur Stadt um Billette für – –“ und sie berichtet weiteres und fragt dazwischen mancherlei. Ihr alter Bekannter unterbricht sie nur [54] selten, schaut sie auch nicht an, sondern starrt auf Roby, auf den Spielwagen, über das Meer und ins Gewölke. Sie weiß die strengen Falten seiner Miene gar nicht zu deuten und fragt gelegentlich: „Pielmann, trinken Sie eigentlich noch immer?“

„Ja, Lethe.“

„Das kenne ich nicht; ist das Schnaps?“

Er sagt nichts darauf.

„Haben Sie die arme kleine Tilly einmal wiedergesehen? Wie gefällt Ihnen, vor allem, meine Heimat, der Strand, diese roten Kiefern im Abendglühen, das Meer und alles, was ich Ihnen so oft schilderte; nicht wahr, das ist doch unvergleichlich?“

Keine Antwort erfolgt.

„Pielmann? – Pielmann, Sie müssen überhaupt du zu mir sagen.“

Da wendet er ihr schnell sein Gesicht zu: „Sie ha–ha–haben also nicht vergessen, daß wir mitunter in armseligen Dachstuben recht lustige Kameraden gewesen sind, daß wir manchmal Rettiche als Mittag geteilt haben?“

„Wie könnte ich das vergessen! Nein, nein, die Staffeleien, die Gitarren, die Lieder – nein, ich behalte das alles, und die Feste, und die Heimgänge am Morgen nach so gleichgültig verbummelten Nächten – – ach, es war doch wunderschön!“

Nun entsteht eine Pause in dem Zwiegespräch. Bunte Leute promenieren am weich, melodisch bespülten Ufer. Von da, wo die Sonne verschwunden [55] ist, wandeln feurig rote Wolken und Wölkchen in die matte Bläue des Himmels hinaus. –

„Hugo?“ beginnt die Baronin von neuem und ganz leise. „Bemerkst du den goldenen Streifen am Horizonte, ganz unten, ganz fern? Ich denke immer, dahinter müßte noch etwas unausdenkbar Glückseliges sein – etwas, so – verstehst du mich nicht?“

Er schweigt. Unterhalb, nicht weit von ihnen, knirscht eine Equipage. Auf einmal springt Sascha auf. „Da hält ja die Fürstin; die muß ich begrüßen. Entschuld’ge mich einen Moment.“ Sascha klopft eilig den Sand vom Kleid und ordnet dasselbe. „Sieh dir mal den dicken Kutscher mit den Pfauenfedern an – echt russisch! Im Winter ist er noch dicker; da polstert man ihn mit Kissen aus. Das gilt hier für vornehm; so einen haben wir auch, na, verzeihe einen Augenblick, ich bin – –.“ Sascha läuft den Abhang hinunter. Sie ist eine hübsche Frau.

Auch Pielmann erhebt sich. „So, Roby, jetzt wollen wir die Vögel füttern,“ krächzt er besonders scharf, aber mehr zu sich selbst als zu dem Jungen, und als dieser unbeirrt weiterschaufelt, nimmt der Alte das Butterbrot vom Spielwagen und schlendert, wie gelangweilt, etwas abseits hinter eine Fischerbude.

Und dort, ohne nach Vögeln auszuschauen, reißt er mit zwei Fingern ein Bröckchen Brot ab und wirft es auf den Boden. Dann reißt er einen großen Bissen ab und stopft ihn in den Mund [56] und kaut sehr schnell und würgt und lauscht dabei und späht aufgeregt umher und wirft wieder ein Kleines von Brot zur Erde und stopft wieder ein Großes von Brot in den Mund. – – –

Es dauert geraume Zeit, bis die Baronin von der Fürstin an ihren Lagerplatz zurückkehrt. Pielmann ist nicht mehr dort. Sie entdeckt nahebei eine langgestreckte Inschrift mit großen Buchstaben, die er in eine glatte Sandfläche gefurcht hat. Da steht: „Vergessen Sie nicht den goldenen Streifen. Dort wird es keine gepolsterten Kutscher geben, auch keine Rettiche.“ –

Roby spielt mit einem Bauernschnitzwerk und behauptet, die Vögel hätten es ihm beschert.