Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Gefährliche Probleme
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aus: Deutscher Hausschatz, Illustrierte Familienzeitschrift, 37. Jahrgang Oktober 1910 – Oktober 1911, S. 501–503
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Erscheinungsdatum: 1911
Verlag: Friedrich Pustet
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Erscheinungsort: Regensburg, Rom, New York, Cincinnati
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Quelle: Commons
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[501]
Gefährliche Probleme.
Von W. Kabel.

Daß Leute durch das stete Nachgrübeln über eine ihnen vorschwebende Erfindung, die sie trotz jahrelanger Versuche doch nicht in brauchbarer Weise auszugestalten vermögen, schließlich den Verstand verlieren, ist eine in der Geschichte der Technik sich stetig wiederholende Tatsache. Es gibt nun gewisse Probleme, die dadurch eine traurige Berühmtheit erlangt haben, daß nicht nur einzelne Personen, sondern oft eine beträchtliche Anzahl von Leuten durch sie geistig oder körperlich zugrunde gerichtet worden sind. Zu diesen gefährlichen Problemen gehört in erster Linie das der selbsttätigen Kuppelung der Eisenbahnwagen, d. h. einer Vorrichtung zur Verbindung der Waggons, bei der der Eisenbahnbeamte nicht nötig hat, sich zwischen die verderbenbringenden Puffer zu stellen, um die Kuppelung bezw. Entkuppelung vorzunehmen, sondern dies durch einen einfachen Handgriff an der Längsseite des Wagens vornehmen kann. In den Jahren 1860 bis 1895 veröffentlichten die größten amerikanischen Eisenbahngesellschaften immer aufs neue Preisausschreiben zur Erlangung einer solchen, wirklich allen Ansprüchen genügenden selbsttätigen Kuppelung. Diese Preisausschreiben – in einem derselben wurde dem glücklichen, der dieses Problem lösen würde, nicht weniger als eine halbe Million Dollars zugesagt! – kosteten nicht weniger als sechzehn Menschen den Verstand. Darunter befanden sich auch zwei deutsche Ingenieure. Erst im Jahre 1896 erfand der Amerikaner Gould ein System, das sich bei größter Einfachheit der Konstruktion als völlig zuverlässig erwies. Gould wurde dann in wenigen Jahren mehrfacher Millionär, besonders da die selbsttätigen Kuppelungen 1898 in den Vereinigten Staaten durch Gesetz allgemein eingeführt wurden. Deutschland besitzt vorläufig noch kein brauchbares System dieser Art – ein Mangel, dem in jedem Jahr eine Anzahl von Rangierern zum Opfer fällt. Jedenfalls bietet sich genialen Köpfen hier die beste Gelegenheit, in kürzester Zeit reich zu werden, leider aber auch die Möglichkeit, ihren Verstand über dem gefährlichsten aller Probleme zu verlieren.

Auch die Idee, einen kugelsicheren Panzer erfinden zu wollen, hat bereits zahlreiche Menschen unglücklich gemacht. Der erste, der sich nach Vervollkommnung der Schußwaffen an diese Aufgabe wagte, war der englische Waffenschmied Wilson. Dieser bot im Jahre 1810 dem englischen Kriegsministerium einen von ihm erfundenen kugelsicheren Panzer an, der ein so leichtes Gewicht haben sollte, daß jeder Soldat ihn bequem unter der Uniform tragen könne. Gleichzeitig erklärte er sich bereit, seine Erfindung am eigenen Leibe ausprobieren zu lassen. – Das Kriegsministerium ging auf dieses Anerbieten wirklich ein. Auf dem Hofe einer Londoner Kaserne wurden dann auf den mit dem Panzer bekleideten Waffenschmied im ganzen fünf Schuß aus verschiedenen Entfernungen abgegeben. Die ersten vier Gewehrkugeln taten Wilson nicht den geringsten Schaden. Da wollte es das Unglück, daß das fünfte Bleigeschoß genau die Einschlagstelle eines der früheren Projektile[1] traf, den dort bereits halb zerstörten Panzer, der aus einer filzigen Masse bestand, durchbohrte und dem unglücklichen Erfinder in die Lunge ging – eine Verletzung, der Wilson wenige Tage später erlag. – Genau dasselbe Schicksal ereilte 1845 in Paris einen Franzosen namens Durieux. Auch er ward durch die sechste der auf ihn abgefeuerten Gewehrkugeln getötet.

Besonders zahlreich wurden die Erfinder angeblich kugelsicherer Panzer aber erst mit der Umgestaltung der Handfeuerwaffen zu Hinterladern und der damit verbundenen stärkeren Durchschlagsfähigkeit der Geschosse. Wieder war es ein Engländer, der eine Zeitlang viel von seiner Erfindung eines absolut kugelsicheren Schutzschildes reden machte. Dieser Schutzschild soll tatsächlich außerordentlich leicht und biegsam gewesen sein. Mehrere Versuche vor einer englischen Militärkommission fielen glänzend aus. Die Projektile blieben in der Masse, aus der der Panzer gefertigt war, in plattgedrücktem Zustande stecken. Aber noch immer zögerte die zuständige Behörde mit dem Ankauf des Patents. Schließlich sollte die Erfindung nochmals in Gegenwart der Königin Viktoria erprobt werden. Bei dieser Vorführung im Juni 1882 ließ Walker, so hieß der Konstrukteur, auf noch kürzere Distanz, als dies früher geschehen war, auf seine Brust einen Schuß abgeben. Zum Entsetzen der Anwesenden aber sank er gleich auf den ersten Schuß lautlos zu Boden. Sofort nahmen sich einige anwesende Ärzte seiner an. Aber jede Hilfe kam zu spät. Die Kugel hatte zwar den Panzer nicht durchbohrt, die Wucht ihres Anpralles, die gerade das Herz traf, war aber so groß gewesen, daß eine Zerreißung des Herzmuskels stattgefunden hatte. – Hiernach war die Walkersche Erfindung natürlich für alle Zeiten erledigt.

Um noch einige Leute, denen dieses Problem das Leben oder doch die Gesundheit kostete, zu nennen: Im Herbst 1889 wurde in Genua der italienische Leutnant Angerra, der einen kugelsicher gefütterten Uniformrock konstruiert hatte, von seinem Freunde bei Versuchen mit dieser Erfindung erschossen, nachdem schon ein halbes Jahr vorher ein Hauptmann der Bersaglieri bei ganz demselben Anlaß schwer verwundet worden war. In beiden Fällen stellte es sich heraus, daß das zu den Panzern verwendete Material an allen Stellen nicht ganz gleichmäßig ausgefallen war und diese schwächeren Stellen den Geschossen nicht den genügenden Widerstand entgegensetzten. – Weiter fand, wie seinerzeit in allen Zeitungen zu lesen war, 1891 der auf einer Pariser Varietébühne mit einem kugelsicheren Mantel auftretende frühere holländische Offizier Graf Elgerland den Tod, ebenfalls infolge schlechter Verarbeitung des kugelfesten Stoffes. Schließlich sei auch noch der deutsche Schneidermeister Dowe erwähnt, der mit seiner Erfindung, für die er seine ganzen Ersparnisse geopfert hatte, auch keine Reichtümer erwerben sollte, vielmehr durch die [502] überstandenen Entbehrungen und Aufregungen schwindsüchtig wurde und in bitterster Armut starb. – Gewiß, völlig kugelsichere Panzer zum Schutz des einzelnen Mannes gegen die Projektile der Handfeuerwaffen sind mehrfach konstruiert worden. Aber sie sind leider sämtlich unverwendbar, da sie wegen ihrer Schwere und ihres harten Materials den Soldaten an der freien Bewegung der Gliedmassen zu sehr hindern.

Eines der modernsten, aber auch lebensgefährlichsten Probleme ist das der Eroberung der Luft durch von Motoren angetriebene Flugmaschinen. Es erübrigt sich, hierauf näher einzugehen. Die Zahl der Opfer, die die Aviatik seit etwa zwanzig Jahren, soweit datieren die ersten ernst zu nehmenden Versuche auf diesem Gebiet zurück, beträgt nach der neuesten Aufstellung 31, und damit dürfte diese auch eine mehr als deutliche Sprache redende Totenliste noch lange nicht abgeschlossen sein.

Endlich sei hier noch auf ein Problem näher eingegangen, das, solange es noch Spielbanken oder Klubräume mit Roulette- oder Trente-et-Quarante-Tischen gibt, auf viele eine geradezu unheimliche Anziehungskraft ausüben wird. Nachgewiesenermaßen ist es nämlich äußerst schwierig, mit Hilfe der sogenannten ehrlichen Arbeit die nötige klingende Münze zusammenzuscharen, um, was die Sehnsucht der meisten Menschen sein dürfte, ohne die bewußte Arbeit, die ja nur in seltenen Fällen das Dasein wirklich versüßt, in aller Behaglichkeit die vielfachen Freuden und Schönheiten unserer Mutter Erde auskosten zu können. Da zeigt sich denn dem Durchschnittsmenschen nur ein einziger Weg, schnell und mühelos ein Krösus zu werden: das Spiel. – Weniger Bemittelte huldigen dem Lotteriespiel, trotzdem man, wie statistisch berechnet ist, siebenmal eher vom Blitz erschlagen wird, als daß man das große Los in einer noch so günstigen Staatslotterie gewinnt. Mit Glücksgütern etwas reichlicher Versehenen steht außerdem aber noch die Bank von Monte Carlo zur Aufbesserung ihrer Finanzen zur Verfügung. Und die Aufbesserung würden sie auch sicher erreichen, wenn sie … ein System besäßen, nach dem sie ihre Einsätze machen könnten. Ein solches System aber gibt es nicht und kann es auch nie geben, da der Lauf der Roulettekugel lediglich vom Zufall gelenkt wird. Trotzdem haben sich seit Menschengedenken höchst intelligente Köpfe aller Nationen mit dem Problem beschäftigt, wie man den Zufall der Roulettekugel mit Hilfe komplizierter Berechnungen, eben durch ein System, besiegen könne. Dieser Kampf hat vielen Leuten das Leben oder den Verstand gekostet. Denn es handelt sich hierbei um ein völlig aussichtsloses Mühen. Hat doch der Pächter der Bank von Monte Carlo selbst einmal zu einem Bekannten geäußert: „Wenn mir jemand den Nachweis erbringt, daß er mit absoluter Sicherheit täglich auch nur ein einziges Fünffrankstück gewinnen kann, lasse ich die Spielsäle sofort schließen.“

Aber auch diese offen ausgesprochen Überzeugung eines Mannes, der mit den Launen der elfenbeinernen Kugel wohl am besten vertraut sein dürfte, hat nicht ausgereicht, um die Spielsystem-Erfinder endlich ganz abzuschrecken. So tauchte im Jahre 1901 in Monte Carlo eine junge reiche Amerikanerin, eine Waise, in Begleitung einer Gesellschaftsdame auf, die dann drei Monate hindurch Tag für Tag mehrere Stunden am Roulettetisch zubrachte. Auch bei ihr hatte sich schon nach kurzer Zeit die fixe Idee festgesetzt, daß es ein System geben müsse, mit dessen Hilfe man die Bank sprengen könne. Sie spielte stets sehr vorsichtig nur mit den niedrigsten Einsätzen, notierte den Verlauf jedes Spiels ganz genau, erreichte damit aber nur, daß sie nach Verlauf eines Vierteljahres vom Roulettetisch weg direkt in eine Heilanstalt überführt werden mußte, da sie in einem plötzlichen Tobsuchtsanfall dem Croupier an die Kehle gesprungen war. In der Heilanstalt, wo die Kranke nach einer Notiz eines New Yorker Blattes sich noch heute befindet, konnte sie nur dadurch beruhigt werden, daß man ihr ein Roulette beschaffte, mit dem sie sich fortan vom Morgen bis zum Abend beschäftigte. Und diese Amerikanerin ist nur eine von den vielen, die in ähnlicher Weise ihr Nervensystem völlig zerrüttet oder aber nach Verlust ihres diesem unheilvollen Problem geopferten Vermögens Selbstmord begangen haben.

Zum Schluß noch eine andere, allerdings mehr tragikomische Geschichte, bei der auch das berüchtigte „System“ eine Rolle spielte. Im Januar 1895 sprengte ein japanischer Arzt, der sich zu Studienzwecken in Europa aufhielt und einen Abstecher nach Monte Carlo gemacht hatte, dort an vier Abenden hintereinander die Bank. Er gewann mit einer derart verblüffenden Sicherheit, daß er bald zum allgemeinen Tagesgespräch und hie und da sogar geäußert wurde, er müsse fraglos im Besitz eines „Systems“ sein, da niemand andauernd ein derartiges Glück haben könne. Der Japaner selbst verhielt sich allen Fragen gegenüber sehr schweigsam und verstärkte dadurch nur noch mehr die Vermutung, daß er tatsächlich nach einem System operiere. Plötzlich verbreitete sich dann mit jener Blitzesschnelle, mit der in Monte Carlo alle mit dem Spiel irgendwie zusammenhängenden Nachrichten weitergegeben werden, das Gerücht, der Japaner sei unter Zurücklassung seines Gepäckes aus seinem Hotel spurlos verschwunden. Die Polizei nahm, da die Möglichkeit eines Raubmordes nicht ganz von der Hand zu weisen war, sofort die eingehendsten Recherchen auf, ohne damit einen Erfolg zu erzielen. Der Japaner blieb verschwunden. Endlich nach vier Tagen erschien er jedoch mitten in der Nacht wieder in seinem Hotel und wußte folgende abenteuerliche, durch eine sorgfältige Nachprüfung aber in allen Punkten bestätigte Erklärung für seine viertägige Abwesenheit zu geben. Bei einem Spaziergang auf der Straße nach Nizza zu war er von einem Automobil überholt worden, in dem drei maskierte Männer saßen. Diese zwangen ihn mit vorgehaltenen Revolvern, in das Auto zu steigen und eine völlig undurchsichtige, ihn auch unkenntlich machende Automobilistenbrille anzulegen, die ihn daran hinderte festzustellen, wohin er in rasender mehrstündiger Fahrt verschleppt wurde. Erst in einem einfach möblierten Zimmer mit dicht verhängten Fenstern, das, wie später herauskam, zu den Parterreräumen eines einsam liegenden, von einem der Automobilisten für diesen Zweck besonders gemieteten Landhauses in der Nähe von Nizza gehörte, nahmen ihm seine Entführer die Brille ab und bedeuteten ihm, er müsse ihnen sein Spielsystem, mit dessen Hilfe er in so kurzer Zeit gegen eine halbe Million gewonnen hätte, verraten oder aber darauf gefaßt sein, das Haus lebend nicht mehr zu verlassen. Der Japaner beteuerte immer aufs neue, er wisse nichts von einem System und sein seltenes Glück sei nichts als bloßer Zufall gewesen. Man glaubte ihm nicht, drang vielmehr mit allen Überredungskünsten in ihn, um ihn zur Preisgabe des wertvollen Geheimnisses zu veranlassen. Dieses Spiel dauerte vier lange Tage. Während dieser Zeit wurde er auch nicht eine Minute unbewacht gelassen. Stets blieb einer der maskierten Leute bei ihm. Dann endlich schienen diese die Überzeugung erlangt zu haben, daß aus ihrem Gefangenen einfach aus dem Grunde nichts herauszupressen war, weil er tatsächlich von einem unfehlbaren System ebensowenig eine Ahnung hatte wie sie selbst. [503] Man schaffte ihn also nachts wieder mit verbundenen Augen in einem Auto an dieselbe Stelle zurück, wo man ihn vorher aufgegriffen hatte, ohne seine recht beträchtliche Barschaft auch nur anzurühren. – Vier Wochen später waren durch Pariser Geheimpolizisten jene den ersten Kreisen angehörenden drei Herren in Nizza ermittelt worden, die auch ohne langes Leugnen eingestanden, den Anschlag auf den Japaner nur deswegen vorbereitet und unternommen zu haben, weil sie dessen fabelhaftes Glück am Roulettetisch nur auf die Anwendung eines bestimmten Systems zurückführen zu können glaubten. Übrigens hatte die Sache für die drei kein gerichtliches Nachspiel, da der Japaner es auf ihre Bitten hin ablehnte, den in diesem Falle notwendigen Strafantrag zu stellen.


Errata (Wikisource)

  1. Vorlage: Pojektile