Friedrich von Sallet, ein Sänger der Freiheit

Textdaten
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Autor: Dr. Kalthoff
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Titel: Friedrich von Sallet, ein Sänger der Freiheit
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 6, S. 97–100
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Friedrich von Sallet, ein Sänger der Freiheit.

Zeitgemäße Betrachtung von Dr. Kalthoff

Neben der großen Schaar stolzer Namen, welche die erste Hälfte unseres Jahrhunderts geziert und die geistige Richtung desselben bestimmt haben, hat der Name Friedrich von Sallet’s den Ehrenplatz, der ihm gebührt, in weiteren Kreisen noch nicht gefunden. Die Menschen pflegen die Thaten und den Erfolg schneller zu würdigen, als das Sein und die Gesinnung. Es ist das tragische Verhängniß des lautersten Strebens, daß es von der großen Menge nur schwer verstanden, im lauten Lärm des Lebens nur schwer gewürdigt wird. Dafür aber sichert ihm die ewige Gerechtigkeit eine um so nachhaltigere Wirksamkeit in den verborgenen Tiefen liebender Jüngerseelen, welche weniger geräuschvoll bewundernd als thätig nacheifernd sich dem gleichen Streben weihen.

Friedrich von Sallet.
Originalzeichnung von Adolf Neumann.

Sallet’s Leben, das nur die kurze Spanne Zeit vom 12. April 1812 bis zum 21. Februar 1843 umfaßt, hat an äußeren Erfolgen nichts Glänzendes aufzuweisen. In seinem Lebensberufe als preußischer Officier hat er keine Gelegenheit gehabt, seine Tüchtigkeit zu erproben. Und wäre ihm diese Gelegenheit geboten worden, er wäre wohl mehr ein muthiger Krieger, als ein namhafter Stratege geworden

Sallet war Dichter. Aber seine Verse sind oft nichts weniger als correct, geschweige denn classisch. Der Dichter war Philosoph. Aber seine Philosophie bestand fast lediglich in der Aneignung einzelner Gedanken des Hegel’schen Systems, und selbst in der Kenntniß dieses Systems blieb er, nach dem Maßstabe strenger Wissenschaft gemessen, immerhin Dilettant. Der Philosoph war endlich auch Theologe. Aber mit seiner Theologie würde er vor einer Glaubensbehörde seiner Kirche schlecht bestanden haben. So liegt Sallet’s Bedeutung nicht in dem, was er gethan, sondern in dem, was er gewollt hat.

Der größte Theil seines Lebens fällt in eine Zeit, in der es im preußischen und im gesammten deutschen Vaterlande trübe genug aussah. Das nationale Selbstbewußtsein, das in den Freiheitskriegen so mächtig aufgelodert war, fing bald an, den politischen Gewalthabern unheimlich zu werden. Es galt, den neu [98] erwachten Volksgeist rechtzeitig wieder in die alten bureaukratischen Ketten zu schlagen, damit er nicht die Cirkel der privilegirten Kasten zerstöre. Dem Volke, das mit seinem Herzblute das Vaterland aus der tiefsten Schmach gerettet, wurde der Dank, daß seine idealen Hoffnungen als kindische Thorheiten, seine aufwallenden Wünsche als Verbrechen behandelt wurden.

Sallet, der die Zeit von seinem zwölften bis zu seinem siebenzehnten Jahre im Cadetten-Corps zu Potsdam und Berlin zubrachte, gerieth in den Lebensjahren, in denen das eigene Urtheil noch unentwickelt ist und die äußere Umgebung am leichtesten den Charakter beeinflußt, mitten hinein in die drückende Atmosphäre der politischen Reaction. Aber seinem gesunden Geiste konnte diese Atmosphäre nichts anhaben. Im Gegentheil, als Sallet 1829 als Seconde-Lieutenant in das 36. Infanterie-Regiment eintrat, brachte er, der kaum Achtzehnjährige, einen ausgesprochenen Widerwillen gegen alles Hohle und Unwahre, das er in seiner Umgebung reichlich zu beobachten Gelegenheit gehabt haben mochte, in seine neue Lebensstellung mit hinüber. Nicht als ob er mit seinem Berufe an sich unzufrieden gewesen wäre. Er spricht vielmehr auch später noch mit großer Hochachtung von demselben. Er verachtete nur das eitle, gehaltlose Treiben seiner Berufsgenossen, den militärischen Kastengeist mit allen seinen Vorurtheilen, der zu Sallet’s Zeit noch in ungebrochener Kraft herrschte.

Im Jahre 1831 wurde er wegen einer Satire, in der er die Schwächen des Officierstandes einer launigen, aber durchaus unschuldigen Kritik unterzogen hatte, zur Cassation und zehn Jahren Festungsarrest verurtheilt. Als Sallet diesen drakonischen Urtheilsspruch erfuhr, schrieb er, wie sein Freund Theodor Paur erzählt, folgende charakteristische Stelle in sein Tagebuch:

„Mich durchfuhr ein kleiner Schreck, ich mußte aber doch lachen. Wenn mir mein Leben mehr solcher Erfahrungen bietet, werd’ ich noch Satiriker von Profession, und zwar ein recht bitterer werden. Mein Schicksal ist mir übrigens ziemlich gleichgültig. Würde ich cassirt, so könnte ich mich auf der Festung genugsam mit Kenntnissen bereichern, um einen andern Unterhalt zu finden, wobei ich mich vielleicht glücklicher fühlen würde, als jetzt. Kränkend könnte dann mein Schicksal nur im Punkte der Ehre sein, aber was achte ich die Ehre, die von der Meinung einer Welt abhängt, in der es so niederträchtig und nichtswürdig zugeht, daß die Unbesonnenheit eines jungen, gutdenkenden Menschen als ein Verbrechen, ja als eine Ehrlosigkeit angesehen wird. Ich kann mich nicht enthalten, die Herren, in deren Köpfen und Herzen es so öde und kalt aussieht, recht herzlich zu verachten.“

Das Urtheil kam nicht zur Vollstreckung, weil der König die Cassation verwarf, Sallet nach Trier versetzte und den Arrest auf zwei Monate ermäßigte.

Ueber die Einförmigkeit des Festungsarrestes half dem Dichter die Poesie der Liebe hinweg, die ihm in jenen Tagen zum ersten Male aufging. Freilich sollte diese Liebe, die von Seiten Sallet’s mit der ganzen Innigkeit seines Wesens empfunden wurde, ihm eine Enttäuschung bringen. Er schreibt hierüber zehn Jahre nach jenem Vorfall an seinen Freund Paur:

„Ich war schon zu Gnaden aufgenommen und wurde dann, weil die Sache langweilig aussah, entlassen. Damals gedachte ich ein Hagestolz zu werden. Heut aber habe ich ein Weib, und Du hast selbst beobachten können, wie ich zu ihr stehe. Ich kann Dir betheuern, daß jenes frühere Ereigniß meines Lebens den heiteren Himmel meines jetzigen Glückes auch nicht als kleinstes Wölkchen trübt, daß in meiner Seele kein Tropfen Bitterkeit zurückgeblieben ist, daß Geist und Gemüth nicht das Mindeste an ihrer Spannkraft verloren haben.“

Diese Worte versetzen uns schon in die letzten Lebensjahre Sallet’s. Er war 1835 nach Berlin auf die Kriegsschule gegangen und hatte dort drei schöne Jahre verlebt, die er seiner wissenschaftlichen Ausbildung, hauptsächlich dem Studium der Geschichte und der Hegel’schen Philosophie, widmen konnte. Als er dann in den activen Dienst zurücktrat, war ihm das damalige „Lieutenantamentalische Knechtschaftsverhältniß“ doppelt unerträglich geworden. Er nahm seinen Abschied, um auf eine Professur hinzuarbeiten. Im Jahre 1840 verlobte er sich mit seiner Cousine Karoline von Burgdorf. Wohl meinte er, es habe zu allen Zeiten für den tüchtigen, geistig gereiften Mann Wichtigeres und Größeres zu thun gegeben, als ein Weib zu nehmen. Aber er wußte auch, daß im Familienleben jegliche Gesinnung und Gesittung wurzele.

Es waren nur zwei kurze, glückliche Jahre, die ihm an der Seite seines Weibes zu verleben vergönnt waren. Eine Erbschaft hatte ihn ökonomisch unabhängig gemacht. Auf seinem Herde hatte er nach seinem eigenen Zeugniß zwar kein Feuerwerk, dafür aber die einfache Flamme häuslichen Glückes. Ein Sohn wurde ihm geboren, aber bald nachdem ihm dieser Lieblingswunsch erfüllt war, erlag er der Krankheit, die schon seit Jahren heimtückisch an seinem Leben gezehrt hatte.

So war Sallet’s Leben kurz und äußerlich wenig bewegt. Aber welche Fülle des Größten und Schönsten, was jemals eines Menschen Brust bewegt hat, umfaßte dieses Leben! Sallet’s Gedichte sind keine Dichtungen – sie sind Wahrheit. In ihnen spiegelt sich das ganze geistige Sein des Dichters ungeschminkt und treu wieder; sie geben uns deshalb auch den besten Schlüssel zum Verständnisse des inneren Fortschritts in der Entwickelung Sallet’s. Zuerst haben wir eine Gruppe von Gedichten, der er die Ueberschrift „Naturleben und junge Liebe“ gegeben hat. Der Dichter lebt, noch unentzweit mit der ihn umgebenden Welt, in kindlicher Unschuld und Seligkeit. Er kann noch volle Stunden lang den Blumen in’s Antlitz schauen, auf des Baches Klang und der Käfer Summen lauschen; er kann im Grase liegen und müßig in’s Blaue blicken, kann wonnig schwärmen und träumen und verlangt Leser, die das Gleiche vermögen:

„Bist du nicht ein närrischer Wicht,
So lies auch meine Gedichte nicht!“

so schließt die Widmung an die Leser. Was die Gedichte dieser Gruppe charakterisirt, ist deshalb das überall durchbrechende Bewußtsein einer ursprünglichen Einheit zwischen dem Menschen und der Natur.

Doch je mehr der Geist sich seiner selbst bewußt wird, desto mehr tritt ihm, dem Ich, die Natur als Nichtich gegenüber. Prometheus hat’s gewagt, an dem beseligenden Strahl der Sterne seine Fackel anzuzünden – dafür liegt er gebannt auf dunklem Felsen, und der nimmersatte Geier frißt ihm täglich an dem ewig frischen Herzen. Noch schaut der blaue, heitere Himmel so mild wie sonst auf den Dichter hernieder, aber sein Auge strahlt nicht mehr die Milde wieder; denn sein Blick ist, wie seine Seele, trübe. Aus der Weltseligkeit ist Weltschmerz geworden. Zerrissen ist das Band, das Geist und Natur zu unbewußter Einheit ursprünglich verbunden hatte.

Aber diese Zerrissenheit ist nur der nothwendige Durchgangspunkt zu wirklicher Versöhnung. Wohl hat der Mensch in titanenhaftem Drange die Harmonie der Welten eigenwillig zerstört. Aber wo er zu zerstören wähnte, hat er, einer höheren Weltordnung folgend, nur neue Lebenskraft geweckt. Der Geist hat im Zwiespalte mit der Welt sich selbst als das Wahre, Göttliche erkannt und findet nun in der Natur sein eigenes göttliches Leben wieder. Das Gähren und Wogen im Schooße der Erde, der Kampf der tausend Kräfte, die an’s Licht dringen wollen, ist nichts als die Offenbarung des ewigen Wesens Gottes. So feiert denn der Dichter seinen Frühlingsgottesdienst:

„An’s Grün lehnt eure Wange! Ihr lehnt an seiner Brust.
In’s Blau schaut sonder Bange; Ihn grüßt ihr, tiefbewußt.

Ihr seid in seinem Herzen, wenn ihr nur in der Welt;
Sie ist ein Saal voll Kerzen, von seinem Sein erhellt.

O, flieht aus dumpfen Schranken in’s off’ne Gottesmeer!
Aufathmen die Gedanken; denn sie sind Er, nur Er!

Der Vorhang ist zerrissen, o seliges Geschick!
Des Weisen tiefstes Wissen ist nur ein Kindesblick,

Ein Blick in den Uralten der noch urjugendlich.
Ihn hab’ ich im Allwalten, und auch im Punkt, im Ich.

Im eigensten Gemüthe ruh ich ihm unverwandt,
Wie eine stille Blüthe in eines Kindes Hand.“


Wo der Mensch so den Geist als das Bleibende in allem Wechsel, als das Ewige in jeder Erscheinung gefunden hat, da sind die schneidendsten Gegensätze des Lebens versöhnt.

Wenn der Dichter diese Weltanschauung selbst als Pantheismus bezeichnet, so kann man das Zutreffende dieser Bezeichnung bestreiten. Eine Weltanschauung, bei der so entschieden, wie es bei Sallet geschieht, die Absolutheit des Geistes betont wird, ist keine pantheistische im wissenschaftlichen Sinne des Wortes. Doch mag uns diese Frage wenig kümmern.

Der Kernpunkt dieser Weltanschauung – das ist klar – ist der [99] entschiedene Protest gegen einen außerweltlichen Gott, gegen einen Gott, von dem Goethe sagt, „daß er nur von außen stieße, im Kreis das All am Finger laufen ließe“. Gott ist die die Welt in ihrer Unendlichkeit durchdringende, allwirkende und allgegenwärtige Kraft, die in ihren Gesetzen erkennbar und deshalb Geist ist. Gott ist nicht eine Persönlichkeit neben anderen Persönlichkeiten, überlegend und beschließend, was er in jedem Augenblicke thun soll. „Er ist der Becher aller Fülle, und seine That ist, daß er schäumt.“

Wie aber der Geist der allgegenwärtige Grund der Welt ist, so ist er auch das Ziel aller Weltentwickelung. Die wahre Aufgabe der Menschheit besteht darin, den Geist zum bewußten Lebensprincip aller Verhältnisse zu machen. Die Geschichte der Menschheit ist die ewige Menschwerdung Gottes. Erst als Gottmensch hat der Mensch seine Bestimmung erfüllt.

Von der Höhe dieser Welt- und Lebensbetrachtung schaut nun Sallet in den „Ernsthaften Gedichten“ hernieder auf das Treiben der Menschen um ihn her. Aber was er da gewahrt, treibt ihm die Röthe der Scham und des Zornes in’s Gesicht. Vor dem grauen Riesendom und dem festen Königsschloß stehen die Menschen zerknirscht und anbetend, ohne zu bedenken, daß Dom und Palast vor der Zeiten Sturm wie Spreu zerstäuben werden, während die Menschheit einzig und allein das Unverwüstliche ist. So lassen sich die Menschen, sie, die freien Geisteswesen, zu willenlosen Werkzeugen herabwürdigen. Die Selbstsucht der Großen läßt die Menschheit nicht zur wirklichen Einheit und Freiheit kommen. Die geistesträge Masse steigt zum Vieh hernieder und nimmt willig die Schläge an, wenn ihr nur Futter geboten wird. Damit das Volk nicht zum Bewußtsein des frevlen Spieles, das mit ihm getrieben wird, komme, bietet man ihm allerlei Spielzeug – Sterne, bunte Kreuze und pomphafte Titel.

„Was aber soll dem Mann solch Zeug,
Das nur dem Kind zum Danke?“

Dazu kommen die zahmen Propheten, die über allem Hoffen und Harren zum Narren werden, servile und kriechende Zeitungslaffen, die das Krumme grade und das Grade krumm machen.

Mit furchtbaren Keulenschlägen wendet sich deshalb Sallet an das Gewissen seiner Zeit. Er bekämpft die Reaction, nicht weil sie neue Steuern bringt, sondern weil sie sich am Heiligsten, was der Mensch hat, an der Freiheit und dem Geiste, versündigt und den Menschen nicht zum Bewußtsein seiner göttlichen Würde kommen läßt. Daneben hält ihn sein Glaube aufrecht, daß, wenn auch die weite Erde in Verknechtung stöhnt, doch der Schlachtruf der Freiheit nicht vergeblich erschallen wird. In der „Fernsicht“ erblickt er eine Zukunft, wo nicht mehr Herren und Knechte, sondern nur freie Götter sich zum Feste gesellen.

Dieselben Grundgedanken wie die „Ernsthaften Gedichte“ vertritt das „Laienevangelium“. Hier zeigt Sallet, wie er bei allem Radicalismus der Principien sich den klaren besonnenen Blick für die Bedingungen eines gesunden geschichtlichen Fortschritts bewahrt hat. Dadurch unterscheidet er sich nach seinem eigenen Urtheil von Feuerbach, dessen Begabung und sittlichem Muth er selbstverständlich alle Achtung zollt.

Feuerbach, so schreibt er an seinen Bruder, habe den geschichtlichen Faden ganz und gar abgebrochen und den Menschen blos als Menschen plötzlich auf eigene Füße stellen wollen. Der reine Mensch existire aber nicht, sondern alles wurzele in früheren Bildungen. Eine weltgeschichtliche Thatsache, wie das Christenthum und die christliche Bildung, lasse sich nun einmal nicht ausstreichen aus der Geschichte der Menschheit. – Sallet weiß auch diesem Theile der religiösen Ueberlieferung sein Recht zu wahren.

„Die fromme Sage gleicht dem gold’nen Ei,
Das blickt geheimnißvoll aus weichem Neste.“

In dem Ei gähren lebendige Kräfte, die als goldener Wundervogel aus demselben hervorgehen, wenn der Gedanke die Schale gesprengt hat.

„Nur wenn man sie uns aufzwingt als Geschichte,
Dann macht man sie zum Märchen, zwecklos, toll,
Und den lebend’gen Geist in ihr zu nichte.“

So betrachtet Sallet die ganze evangelische Geschichte als ein großes Gleichniß, dessen Sinn die gedankenlose Buchstabentheologie nicht gefaßt, sondern kläglich entstellt hat.

Der „Christus“, der „Gottmensch“, den die Orthodoxie irrthümlich als eine einzelne historische Persönlichkeit aufgefaßt, wodurch sie sich in tausend Widersprüche verwickelt hat, ist in Wahrheit die ideale Menschheit, wie sie geistverklärt und geistdurchdrungen Eins ist mit Gott, und die Bedeutung des Stifters der christlichen Religion besteht darin, daß er „mit kühnem Blicke des Vaters Wesen in sich selbst erkannt hat“.

Zweifellos ist in diesem „Laienevangelium“ mehr Verständniß für das innerste Wesen des Christenthums, als in tausenden von den gelehrten dogmatischen Compendien und Katechismen, die von gläubiger Professorenweisheit strotzen. Daneben läßt es sich Sallet nicht nehmen, seinen „christlichen“ Zeitgenossen gelegentlich ihr Bild im Spiegel der von ihnen so oft im Munde geführten neutestamentlichen Ueberlieferung zu zeigen. Dann aber trifft er auch jedes Mal die Krebsschäden seiner Zeit mit erschütterndem Ernste. Seine sittlichen Ansprüche sind unerbittlich, wenn sie auch die denkbar höchsten sind. Er verfolgt die Selbstsucht, die Gemeinheit bis in ihre verborgensten Schlupfwinkel; er reißt der Heuchelei die Maske vom Gesicht, wo er nur immer sie findet. Eines der großartigsten Gedichte ist in dieser Hinsicht die „Politik der Pharisäer“. Wie zermalmend trifft Sallet mit prophetischer Gewalt die Grundsätze, oder besser gesagt die Grundsatzlosigkeit der Reactionsmänner!

„Paßt nicht genau auf euch das Fratzenbild
Der saubern Obersten und Pharisäer?

Steht Rede! Sperrt ihr euch nicht sorgsam ein
Rath haltend und Gericht, vom Volke ferne?
Schleicht ihr nicht durch die Nacht in’s Haus hinein,
Um den zu haschen, den ihr hättet gerne?

Macht ihr zu Staates Wohl und Sicherheit
Gemeine Sache nicht mit Schächern, Schächer?
War eure Hand und Casse nie bereit
Zu dingen für Verbrecher den Verbrecher?“

Wenn dann der Spitzbubendialect der Diplomaten sich entschuldigen will, daß das allgemeine Wohl ein schlechtes Werkzeug auch zu guten Zwecken erfordere, so erwidert Sallet, was schlecht sei, bleibe ewig schlecht:

„Wer allen Guten sich zur That vereint,
Braucht nicht zu schleichen durch der Nacht Verstummen.
Wer es mit allen Guten ehrlich meint,
Braucht nicht im Lügenpelz sich zu vermummen.

Der Staat wird keusch und frei, wird sittlich sein,
Wo alle ehrlich an der Menschheit hängen.
Sorgt man dort oben nur für sich allein –
Dann ist’s ein Fuchsbau mit geheimen Gängen.“

Wir schlagen ein anders Gedicht auf: „Wisset ihr nicht, weß Geistes Kinder ihr seid?“

Diesen Spruch legt der Dichter als Maßstab an die Thaten der Kirche, an die Vertilgung der Albigenser, an die Mißhandlung Galilei’s, der es nicht fassen konnte, daß Fortbewegung Sünde sei, an die zahllosen Scheiterhaufen und die Mordscenen der Bartholomäusnacht. Da haben die Päpste gezeigt, weß Geistes Kinder sie seien.

„Und du vernahmst die Mähr auf Petri Stuhle
Und ließest lächelnd deinen Bannstrahl ruhn,
Und ging die Welt noch heut in deine Schule,
Du würdest heute noch ein Gleiches thun.“

Dann erinnert sich der Dichter, daß auch seine Ahnen einst als flüchtige Hugenotten dem Ketzerhaß haben weichen müssen. Er dankt dem Geschick, das ihn dadurch zum Kind des deutschen Geistes gemacht hat, und ruft:

„Ihr meine Brüder, alle, deutsche Männer,
Weß Geistes Kinder ihr, vergeßt es nicht!
Noch schleicht die Brut der Tilger und Verbrenner
Um euch mit Schmeichelrede, die besticht.

O blicket hinter lächelnd fromme Züge!
Da nistet, tief versteckt, Verrath und Tod,
Erkennt das Riesenscheusal ew’ger Lüge,
Das noch die Geister zu verschlingen droht!

Da, wo des Menschen Wort fand Anerkennung,
Wo der Gedank’ auf große Zukunft weist,
Auf Siege sinnend wohl, nicht auf Verbrennung –
Da wacht und waltet eures Meisters Geist.

Bewußt und muthig schreitet mit den Besten
Fort zu der Menschheit höchstem Liebesziel!
Laßt mit der Barbarei verschollnen Resten
Den Blödsinn treiben fort sein Kinderspiel!“

[100] Man sollte denken, eine solche Sprache sei deutlich. Und doch fand Sallet, daß es noch einer bündigeren Auseinandersetzung mit seiner Zeit bedürfe. „Wenn die Leute Verse lesen, meinen sie immer, es sei blos Spaß, wenn sie aber Prosa sehen, da merken sie, daß sie es mit vollem trockenem Ernste zu thun haben.“ So entstand das letzte größere Vermächtniß Sallet’s, „Die Atheisten“, eine Abhandlung, in der die Gedanken der „Ernsthaften Gedichte“ und des „Laienevangeliums“ in zusammenhängender Prosa erörtert werden. Es handelt sich darum nachzuweisen, wie verschieden sich die hauptsächlichsten sittlichen Erscheinungen, die Ehe, die Familie, der Staat und die Geschichte, gestalten, je nachdem Gott als außerhalb der Welt oder als der Welt innewohnend gedacht wird. Die erstere Denkweise führt zur eigentlichen praktischen Gottlosigkeit. Sie läßt Gott nicht zur Bethätigung seines Geistes im echten sittlichen Wollen kommen. Despotische Staaten, Ehen und Familien ohne volle, ganze Liebe sind deshalb recht eigentliche Erzeugnisse des Atheismus.

Wenn Sallet heute lebte, wie viel von dieser Art „Atheismus“ würde sich seinem Auge wieder darbieten, gerade von Seiten derer, welche aus der Gottseligkeit nur ein Gewerbe gemacht haben und so leicht bereit sind, das Streben nach wahrhaft geisterfülltem, freiem Dasein als gottlos zu brandmarken! Unsere Zeit hat ja eine erschreckende Aehnlichkeit mit derjenigen Sallet’s. Es ist ein Geschlecht herangewachsen, welches sich wieder „für das Schlechte in Begeisterung zu setzen versteht“, das, in eklem Krämersinn der Ideale spottend, die Parole ausgiebt: „Wer euch bezahlen kann, sei euer Meister! Brod haben ist die heiligste der Pflichten!“ Und doch zeigt die Erscheinung Sallet’s, daß die dunkelsten und verworrensten Zeiten die reinsten und größten Charaktere hervorzubringen vermögen. Möchte Sallet’s Geist auch in unserem Geschlechte lebendig werden!