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Titel: Frei vom Türkenjoch!
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aus: Die Gartenlaube, Heft 23, S. 365–367
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Frei vom Türkenjoch!

Ein Zukunftsstaat an der unteren Donau.

Die fünfhundertjährige türkische Herrschaft im Südosten Europas bezeichnet einen fünfhundertjährigen Stillstand auf dem Gebiete der Cultur. Alle die großartigen Processe, Erfindungen


Der Vogt Ilija Antonievitsch als Richter.


und Fortschritte, welche unserem Erdtheile seine heutige Physiognomie aufgedrückt haben, sind an diesen vom Abendlande durch Grenz- und Pestcordon hermetisch abgeschlossenen Ländern spurlos vorübergegangen. Mit der Aufpflanzung des türkischen Blutbanners versanken die einst blühenden Länder in eine Art Zauberschlaf und erst seit wenigen Jahrzehnten ist für das junge Serbien der Morgen des Erwachens angebrochen.

Wer Serbiens höchsten Berg, den bis zu sechstausend Fuß anragenden Kopaonik besteigt, von dem man nach Aussage der dort weidenden Hirten „die ganze Welt erblickt“, und dann sein Auge über die Landesgrenze hinaus nach Süden schweifen läßt, der sieht von den Fluthen der Sitnitza durchrauscht eine Hochebene vor sich auftauchen, welche die Erinnerung an große, verhängnißvoll gewordene Momente erregt, die für Jahrhunderte den europäischen Südosten dem traurigen Loose der türkischen Barbarei überantworteten. Welcher Geschichtskundige könnte bei dem Anblick der Ebene von Kossowo gleichgültig bleiben, des „Amselfeldes“, auf dem die christlichen Ungarn, Polen, Bosnier und Serben die blutigen Schlachtwürfel über ihre Zukunft zwei Mal (1389 und 1448) entscheiden ließen, auf dem Sultan Amurad und der letzte, heiliggesprochene Serbenfürst Lazar am einem Tage ihre Seelen aushauchten? Dann kam der Schlaf. –

Aber unser Jahrhundert, das so viele Barbarei niedergeworfen, es sah auch den Fall der Türkenherrschaft in Serbien. In den tiefen Waldschluchten, wo aus dichtem Grün die Kuppeln der byzantinischen Klöster und Kirchen hervorragen, in den niedrigen Hütten des Landmannes, der hier nach alter Vätersitte in großen Familien zusammenwohnt, die Haus und Hof, Vieh und Feld alle gemeinsam besitzen und vom Aeltesten regiert werden, da gährt es und kocht es. An der Spitze seines Volkes steht Kara Gjorje, der schwarze Georg, um die Türken zu verjagen, und neu entbrennt jener serbische Freiheitskrieg, den unser großer Historiker Ranke so meisterhaft geschildert hat. Seltene Vaterlandsliebe und bewundernswerthe Selbstverleugnung bildeten die einzigen Hilfsquellen des Volkes. Nicht, wie später den Griechen, kam eine von der ganzen gebildeten Welt gekannte herrliche Vergangenheit den Serben zu statten. Die geringe Habe jedes Einzelnen bildete das Arsenal, die Cassen, aus welchen der serbische Freiheitskrieg seine Kräfte sog. Selbst Belgrad fiel vor den muthigen Stürmern, aber der Friede von Bukarest (1812), den die Türken auf ihre Weise auslegten, brachte letztere wieder in den Besitz der Festungen.

[366] Abermals entbrannte der Kampf und zwar in demselben Jahre 1813, welches der Mehrzahl der Völker Europas die Befreiung vom Fremdenjoch brachte. Nicht so den Serben. – In dem kleinen Kirchlein zu Topola, im Süden Belgrads, wo nur mühsam das Tageslicht durch die engen Fenster fallt, erhellt der matte Strahl der ewigen Lampe eine einfache Marmorplatte. Sie deckt die Gebeine und den abgetrennten Schädel des Helden der Waldgebirge, des Führers der ersten verunglückten serbischen Erhebung, des vielgenannten Kara Gjorje. Von Mörderhand getödtet prangte sein Kopf als Siegestrophäe an der Serailpforte zu Stambul – aber heute ruht er im freien Vaterlande.

Als im Jahre 1813 der schwarze Georg in der Flucht nach Oesterreich sein Heil suchte, da war es noch Ein Mann, der den Glauben an die Unabhängigkeit seines Vaterlandes nicht verlor und entschlossen war, den Tod der Knechtschaft vorzuziehen. Er zog sich in die düstern Eichenforste der Schumadia zurück und bereitete dort jene Erhebung vor, welche seinem Lande nach neuen, glücklicherweise kurzen Leiden endlich die dauernde Unabhängigkeit sichern sollte. Dieser Mann war Milosch Obrenowisch. Am Palmsonntag 1815 rief er bei Takovo sein Volk zur Abwerfung des Türkenjoches auf. Der Archimandrit Melentie, selbst angethan mit Schwert und Kreuz, segnete die Waffen der begeisterten Freiheitskämpfer, die zu siegen wußten, die Schmach des Amselfeldes rächten und das Vaterland frei machten.

Wohl regierte Fürst Milosch, dem 1831 von der Pforte die erbliche Fürstenwürde zuerkannt wurde, oft gewaltthätig und unumschränkt. Aber er bändigte jene kleinen Adeligen, die gern einen Feudaladel gebildet hätten, und wenn heute jeder einzelne Serbe voll Bewußtsein ausrufen darf: Jeder Serbe ist adelig, jeder ein Edelmann! wem verdankt er dieses, als eben diesem Fürsten Milosch, welcher mit der ihm eigenen Energie die ersten Ansätze einer Herrenkaste vernichtete?

An die Pforte zahlt jetzt Serbien nur einen jährlichen Tribut von zweiundvierzigtausend Ducaten: Das ist Alles, was an die ehemalige Abhängigkeit vom Sultan erinnert, denn auch die Festungen, selbst Belgrad, die bis vor Kurzem von den Türken besetzt waren, sind nun ganz an die Serben übergeben worden und kein Muselman tritt den freien Boden Serbiens, das ungehindert seiner Blüthe entgegengeht. Jene Festungen waren zum Theil noch vor der Erfindung des Schießpulvers erbaut, verwahrlost, großentheils von Anhöhen auf Flintenschußweite beherrscht, und doch hielt die Pforte fest an den alten romantischen Nestern, die, wie Uschitza und Sokol, gleich Adlerhorsten auf den steilen Fels geklebt erscheinen. Ueber holperige Saumpfade – echte Zeugen türkischer Wirthschaft – und hohe Berge hin nähert man sich dem letzteren Schlosse, das auf vereinzelter Kuppe, umgeben von mächtigen Gebirgen, mit seinen Thürmen über dem gleichnamigen Städtchen daliegt, Droben, in der Luft, umkreisen Falken und Geier den Wartthurm der Burg, deren serbischer Name selbst „Falke“ bedeutet. Gefährlich, wie diese Raubvögel, waren noch vor nicht langer Zeit die Sokoler Türken der christlichen Bevölkerung in der Nachbarschaft. Seit 1862 aber ist Sokol geschleift und am 6. Mai 1867 verließen die Truppen des Sultans auch Belgrad, ihren letzten Stützpunkt auf serbischem Boden.

Wie steht Serbien heute da? Hat es die Tage seiner Freiheit redlich benutzt, ist es eingelenkt in die Reform des Fortschritts, zeigt es sich würdig der Unabhängigkeit und wird es die große Mission erfüllen, ein reformirender Erbe der verwahrlosten türkischen Nachlassenschaft zu sein, das Letzte und Größte vollbringen: die asiatische Barbarei gänzlich vom europäischen Boden verdrängen, und eine glänzende Zukunft in den reich gesegneten Ländern am Balkan anbahnen? Wir hoffen und wünschen: Ja! Wer den Serben da aufsucht, wo er noch unberührt von fremden Einflüssen blieb, in jenem von der Morava, der Drina und der Save umflossenen Gebiete, in jenen engen Bergschluchten und dichten Forsten, welche den serbischen Freiheitskampf gebaren, der wird ihn lieb gewinnen. Dort tritt er uns entgegen in seiner malerischen Tracht, stets bewaffnet – seine Waffen legt er nicht ab – denn Alles, was mit dem Kriegerhandwerk zusammenhängt, hat bei ihm die größte Bedeutung.

Neben manchen schlimmen hat sich der Serbe auch die guten Seiten seines Nationalcharakters zu bewahren gewußt. Jahrhunderte hindurch abgesperrt von aller Welt, hat er an deren civilisatorischen Fortschritten keinen Antheil genommen. Der Sinn für die Familie, die Liebe zum Vaterlande, für dessen Größe und Freiheit und der persönliche, jeder Knechtschaft abholde Mannesmuth sind nicht nur in den besseren Classen, sondern in dem einfachsten Landmann gleich lebendig. Mit starrer Zähigkeit hält er an seinen alten Sitten und Gebräuchen fest. Die Tugend artet selbst in Eigensinn aus, wo veränderte Verhältnisse oft das Aufgeben des traditionell Ererbten anrathen würden. Noch immer schaut der Serbe – ein arger Fehler! – mit Verachtung auf das Handwerk herab, und ob sich bei ihm ein Bürgerstand, der Träger unserer heutigen Cultur, entwickeln wird, steht erst noch abzuwarten.

Indessen ist die Regierung redlich bestrebt, das Land zu heben und die Versumpfung auszutilgen, welche die Türkenherrschaft hinterließ. In Anbetracht der kurzen Zeit, seit welcher Serbien seine Freiheit genießt, ist hier auch bereits Anerkennenswerthes geleistet worden. Serbien ist das einzige Land des ehemals türkischen Reiches, wo bereits Personen- und Warenverkehr die ersten Segnungen eines im europäischen Stile angelegten Verkehrswesens empfinden. Wenigstens die Hauptstraßen sind ausgebaut, es giebt Posten und Telegraphen, wenn auch noch keine Eisenbahnen. Mit der Zeit dürfte sich auch die Landwirthschaft, die auf der allerniedrigsten Stufe steht, heben, denn der christliche Landbauer war von den Türken mit unerschwinglichen Abgaben belastet, er arbeitete für den Fremden und Haus und Hof verfielen; nur die Borstenviehzucht blieb in Blüthe und noch heute liefert sie den wichtigsten Exportartikel des Landes, das, reich an Silber, Eisen, Kohlen, Holz, dereinst ganz anders im Handel auftreten und wobei ihm die prachtvolle natürliche Wasserader der Donau, an die es grenzt, von unendlichem Nutzen sein wird.

Auch der Unterricht in Serbien, das sogar zu Belgrad eine Universität besitzt, hat sich mächtig gehoben. Als die Türken vor fünfzig Jahren das Land verließen, gab es dort keine einzige Schule und heute entfällt bereits auf einundsechszig Köpfe ein Schüler. Wenn auch die griechisch-orthodoxe Kirche die herrschende ist, so sind doch alle Religionen frei und ihre Bekenner ungehindert in der Ausübung des Gottesdienstes, was bekanntlich in manchen abendländischen Reichen noch immer nicht der Fall ist. Was die Justiz betrifft, so galt in der ersten Zeit der Regierung des Fürsten Milosch noch das Herkommen und das Gewohnheitsrecht. Heute sucht man sich Europa auch in dieser Beziehung mehr anzubequemen, wenn auch der Stock und die Prügelmaschine noch immer als unentbehrlich gelten. Eine serbische Gerichtsscene der primitivsten Art zeigt unser Bild. Unter freiem Himmel sitzt gestrengen Blickes Ilija Antonievitsch, einer jener Vögte, die in der Gunst des alten Milosch hochstanden, in ihrem Bezirke aber durch Uebermuth, Ungerechtigkeit und Willkür sich verhaßt machten. Vor ihm stehen zitternd zwei Bauern, die seit langem über das Eigenthumsrecht auf einem Weidegrund mit einander streiten, und im Hintergründe lauert die sinnreich construirte Prügelmaschine. Wir sehen sogar zwei solcher Strafwerkzeuge, das eine, eine Stehprügelmaschine für weibliche Sträflinge bestimmt, welchen Kopf und Hände zwischen Halbkreisausschnitten zweier Bretter gesteckt werden, und eine andere für Männer, zur Züchtigung im Liegen, wobei dem Sträfling die Hände an’s Brett befestigt sind. „Vertragt Euch – oder –!“ so lautete in der Regel der Spruch des Gestrengen für die Parteien. Und sie vertrugen sich. Immer seltener werden diese Scenen und wir wollen wünschen, daß unser Jahrhundert noch nicht ausgeläutet hat, bis zum letzten Male jene Instrumente zur Anwendung kamen, die schon in der äußern Erscheinung an die Folterkammern des Mittelalters erinnern.

Und wo wäre heute in Europa ein Staat, der nicht seine bewaffnete Macht hätte, bei dem es nicht widertönte von Hinterladern und gezogenen Kanonen, wo das Militärbudget nicht bis zum Aeußersten emporgeschraubt wäre? Auch Serbien erfreut sich aller dieser schönen Dinge, es besitzt ein europäisch eingeübtes und uniformirtes Heer, hinter dem eine starke Nationalmiliz steht. Es giebt eine Militärakademie, Militärzeitung, Arsenale, Kanonengießereien – Alles wie bei uns. Serbien wird sein Heer gebrauchen, denn nicht durch diplomatische Noten, sondern mit Pulver und Blei wird man die „orientalische Frage“ lösen, und Serbien spielt dann die erste Rolle im Kampfe gegen die Türken.

Hoffen wir, daß dann die ersten Blüthen, die dort in Wissenschaft und Kunst zu sprießen beginnen, nicht im Pulverdampf ersticken [367] mögen, daß sie vielmehr kräftig weiter gedeihen, damit einst Serbien ebenbürtig eintrete in die Reihe der weiter vorgeschrittenen abendländischen Staaten. Noch steht dort Alles in den Anfängen, noch ist dort viel zu thun, aber an Vorbildern fehlt es nicht. Serbien möge auch seinem eigenen Genius vertrauen und nicht im panslavistischen Nivelliren seine Zukunft suchen. Ein Anschluß an das halbasiatische Rußland bedeutet keineswegs den Fortschritt.

Anlaß zu obigen Zeilen bot uns ein soeben erschienenes Werk, das der deutschen Literatur zur Zierde gereicht und in so umfassender Weise, wie es bisher noch niemals geschehen, uns mit dem südslavischen Zukunftsstaate bekannt macht. Wir meinen: Serbien. Historisch ethnographische Reisestudien aus den Jahren 1859-1868 von F. Kanitz. (Leipzig, Verlag von H. Fries.) Zehn Jahre lang hat der Verfasser das Land durchwandert, kein wichtiger Punkt blieb von ihm unbesucht, er beschrieb die römischen Alterthümer, lauschte den Sagen und Gesängen des Volks und studirte dessen gesellschaftliche und politische Zustände. Die Frucht seiner Studien, ein umfangreiches, prächtig ausgestattetes Werk, liegt nun vor uns – es ist gleich anziehend für den Gelehrten wie den Laien und dient dazu, unsere bezüglich Serbiens wesentlich befangene und unvollkommene Kenntniß gründlich zu reformiren. Auch die charakteristischen Zeichnungen, von denen wir zwei mitzutheilen im Stande sind, rühren vom Verfasser her, bei dem Kunst und Wissenschaft sich die Hand reichten, um das schöne Werk zu schaffen.