Frauenleben im Weltkriege/Es geht ihm gut
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Weltmüde versank der Tag, nur sein Herzblut, die letzten Strahlen der Abendsonne, färbten noch den Himmel und funkelten wieder aus den Fenstern des Tannenhofes, eines Bauerngutes, das hier fern von der Heerstraße, fern vom Gewoge der Welt und von der Völker Kampf um Sein oder Nichtsein sich an den verschwiegenen Tannenwald schmiegte, von dem das Gut den Namen hatte.
Über einen schmalen Feldweg ging auf das Gut hin eine alte gebückte Frau und empfand den stillen Frieden der Natur um so tiefer, da ihre alten Glieder von der schweren, ungewohnten Feldarbeit herzlich müde waren. Einst wäre ihr diese Arbeit eine Lust gewesen, als sie noch eine der fleißigsten Mägde des Hofes war, aber wieviele Jahre lagen dazwischen. Sie war ja noch rüstig und konnte, außer über ihre Augenschwäche, nicht über Altersgebrechen klagen, aber die harte Arbeit war ihr fremd geworden, seitdem sie bei ihrem Sohn, dem Lehrer im Dorfe, wohnte, der reichlich an ihr vergalt, was sie nach dem frühen Tode ihres Mannes für den wackeren Burschen gearbeitet und gelitten hatte. Der kämpfte nun draußen in Frankreich auf dem blutgetränkten Feld der Ehre und sie mußte hier auf dem Ackerfeld helfen, weil auch die Söhne und Knechte des Bauern, die ganze Jungmannschaft des Hofes, unter den Waffen stand; zwei davon lagen sogar schon in der kühlen Erde.
In diesem Jahr hatte die Frühjahrsbestellung eine ganz besondere Bedeutung, galt es doch, durch die Urkraft des deutschen Bodens Englands tückischen Plan zu vereiteln, [125] eiteln, das „germanische Ungeheuer“, ein Volk von siebzig Millionen, durch Abschneiden der Nahrungszufuhr zum Verhungern zu bringen. Der Ackerbau, dessen Ruhm durch seinen jüngeren Bruder, den stählernen Siegfried Industrie, seit einem halben Jahrhundert etwas verdunkelt worden war, mußte in diesem Jahr entscheidend eingreifen in den Kampf des deutschen Volkes um Siegen oder Sterben.
Da die Männer fehlten, hatte man für die Frühjahrsbestellung die Weiber mobil gemacht und in erster Linie die Witwe Hartmann, die alte, treue Lisbeth, die ja stets zur Stelle war, wenn ihr alter Tannenhof ihre Dienste ausnahmsweise wieder verlangte. –
Während der Klang der Abendglocken der alten Frau über den Tannenwald entgegenwehte, so traulich, als wollte er sie in ihr friedliches Stübchen im Schulhaus des Dorfes locken, hatte Frau Hartmann eine dunkle Empfindung, daß auch sie eine Kämpferin sei für des geliebten Deutschen Reiches Recht und Ehre. Ein Flämmchen des Stolzes flackerte bei dem Gedanken auf in ihrer Seele, doch es verschwand fast in dem großen, glänzenden Licht, das dahinter in ihrer Seele aufquoll, in ihrer Hoffnung auf Frieden, den holden, menschenbeglückenden Frieden. Einmal war doch selbst die Sintflut verlaufen, und die Taube Noäh mit dem grünen Ölzweig erschienen, so mußte einmal doch auch der Krieg sein Ende haben, und ihr Franz zu ihr zurückkehren.
Sie wurde von der Landstraße drunten angerufen: „Lisbeth, ein Feldpostbrief für dich ist angekommen, ich habe ihn dem Bauer gegeben." Es war der Postbote, auch ein Veteran, ein Verwandter von ihr, der in Friedenszeiten Schuhe flickte, aber, da es ihm an Leder und der Post an Männern fehlte, in den Dienst des völkerverbindenden Verkehrs getreten war.
Bei seinen Worten reckte die alte Lisbeth ihre Glieder, Sehnsucht durchprickelte ihr Herz, und schneller schritten ihre Füße dem Dorfe zu. Der Brief konnte ja nur von [126] Franz sein. Sicher würde er Gutes melden. Das letztemal hatte er geschrieben, daß er jetzt aus der vorderen Gefechtslinie heraus und außer Gefahr sei. Oh, wie hatte diese Mitteilung Frieden in ihr Herz getragen! Wenn er in der Front allen tückischen Kugeln entgangen war, dann brauchte sie jetzt sicher nichts mehr zu befürchten. Feierabendstill lag der Hof, nur die Gänse schnatterten ihr entgegen, und Katharina, die Magd, die auf der Schwelle des Nebeneingangs hockte und ein Huhn rupfte, frug sie etwas, aber Lisbeth eilte an ihr vorüber nach dem Haupteingang und hier schnurstracks in die Stube des Bauern. Dieser überreichte ihr den Feldpostbrief, aber sie bat: „Lesen Sie ihn mir vor! Sie wissen, meine alten Augen...“ Der Bauer öffnete den Brief und las:
„Liebstes Mütterchen! Wir hatten just vor unserer Ablösung noch ein heißes Ringen in der Champagne zu bestehen und trugen einen glänzenden Sieg davon. Die Rothosen wehrten sich wie verzweifelt, aber mit blutigen Köpfen haben wir sie zurückgeworfen. Leider ist mir dabei ein kleines Unglück zugestoßen, ich habe einen Schuß in die linke Brust erhalten, so kommt es, daß ich Dir aus dem Lazarett schreibe. Wir liegen hier zu etwa 250 Verwundeten in einer Schule und werden aufs beste verpflegt. Gott verläßt keinen Deutschen, also mache Dir keine Sorge! Mir geht es jetzt ganz gut. – Mit herzlichem Gruß und Kuß
„Hm, hm“, machte der Bauer, „mir ist, als wäre das gar nicht seine Handschrift.“ Frau Hartmann starrte ahnungsbang den Bauer an, dann den Brief, griff erregt in die Tasche ihres Kleides und nestelte mühsam die Brille heraus, es kostete viel Anstrengung, bis sie sie auf der Nase hatte, und bleich wie Wachs war sie darüber geworden. Dann starrte sie nochmal den Brief an; die Buchstaben schwammen wie schwarze Flecken vor ihren kranken Augen, aber dennoch erkannte sie und beklommen gurgelte [127] sie hervor: „Nein, das ist nicht seine Schrift!“ „Na, Lisbeth“, tröstete der Bauer, „machen Sie sich keine Sorgen! Er schreibt doch: es geht ihm gut.“ Dann nahm Lisbeth den Brief, packte ihre Brille wieder ein und ging.
Langsam, mit gebeugtem Rücken schritt sie durch den Tannenwald. Es war schon fast finster hier, aber sie kannte blind den Weg. Sie kannte auch die verschwiegene Stelle, wo zwischen düsterem Tannicht das weiße Kruzifix stand. „Es geht ihm gut“, murmelte sie öfter vor sich hin, als müsse sie sich an den vier Worten stärken. An dem Kruzifix machte sie halt, kniete nieder, und während ihr inneres Auge inbrünstig an dem Bild des Gekreuzigten hing, das ihre leiblichen Augen nur verschwommen sahen, zuckte es plötzlich durch den Nebel der ungewissen Sorge, der ihr Herz umhüllte, wurde es ihr plötzlich zur Gewißheit: Ihr Sohn, ihr Franz war tot, und deshalb ging es ihm gut. Sie sah seinen blassen Kopf vor sich, wie sie ihn so oft gesehen, seinen Mund umschwebte ein starres Lächeln, der Scheidegruß für sein Mütterchen, und schweigend küßte sie hier in weiter Ferne den Sohn, den sie mit dem Auge des Herzens schaute. „Es geht ihm gut“, flüsterte sie nochmal mit ruhigem, einförmigem Ton, dann raffte sie sich auf, und mit einem langen Blick auf das Bild des Heilands, als ob sie von diesem Abschied für ihr ganzes Leben nehmen müßte, ging sie, eine wunderbare helle Ruhe im Herzen, weiter durch den dunklen Tann. Zu Hause saß sie noch einige Zeit bei ihrer Kerze mit gefalteten Händen, dann legte sie sich müde zu Bett und hatte einen wunderbaren Traum: Nach heißem, ermüdendem Weg kam sie in einen lauschigen, traulichen Wald. Auf keiner Seite nahm dieser ein Ende, nirgendwo öffnete sich ein Blick auf sonnige Felder. Plötzlich stand sie vor einem schimmernden Haus, anscheinend einer Herberge, denn über der Tür las sie die Worte: „Zum ewigen Frieden.“ Darüber war ein Taubenschlag, wo Tauben vor ihrem Türchen aneinandergedrückt auf der Stange saßen und leise gurrten. Nun trat der Wirt aus der Tür, aber dieser wandelte sich aus einem [128] irdischen Wirt in einen leuchtenden Cherubim. Einen roten Fleck hatte er auf der linken Brust, und nun erkannte sie in ihm ihren Sohn Franz. Er nahm sie heiter bei der Hand, führte sie ein in die Herberge, und hieß sie die staubigen Kleider ablegen. Da kam ihre alte, längst gestorbene Mutter herbei, um ihr zu helfen, doch ihre Kleider fielen von selbst ab, und ebenso ohne ihr Zutun stand sie da in einem Gewand von Licht. Dann sagte ihr Mütterchen lachend: „Hier kennt man keinen Krieg“, und führte sie in ein trauliches Stübchen, wo Franz bei einem Buche saß. Sie setzte sich ihm gegenüber, wie sie so oft gesessen, und ruhte und fühlte alle Wonne der Ruhe, der Geborgenheit, des Friedens. –
Als sie am anderen Morgen erwachte, blickte sie auf den Traum wie auf eine Verheißung selig lächelnd zurück, dann ging sie an die Arbeit auf den Tannenhof, und als sie abends vom Felde dorthin zurückkehrte, war wieder ein Brief für sie angekommen. Es war die amtliche Meldung vom Tode ihres Sohnes mit Worten der Anerkennung und dem Hinweis auf Gottes Willen. Frau Hartmann zog dafür ihre Brille nicht mehr hervor, denn sie hatte es ja gewußt. Ihre Tage flossen dahin, wie sonst, nicht einmal Trauerkleidsr kaufte sie sich, nur ihr Haar, das bis da hin grau gewesen, ward schlohweiß. Und als sie immer weltfremder wurde, und die Leute im Dorf sie sogar als einfältig bezeichneten, blieb sie doch in hohem Ansehen wegen ihres Sohnes, des Lehrers, der den Heldentod fürs Vaterland gestorben, und wenn ihre Bekannten ihn rühmten, dann leuchtete wohl ein Schimmer auf in ihren matten Augen, doch sie sagte nichts weiter, als: „Es geht ihm gut.“