Frauen als Armenpflegerinnen
Frauen als Armenpflegerinnen.
Weibliche Wohlthätigkeit ist in unseren Tagen die Zielscheibe zahlreicher Witze, und ein Schauspieldichter, der sich gern auf Zeitstoffe wirft, L’Arronge, hat aus den „wohlthätigen Frauen“ ein ganzes Lustspiel gemacht. Soweit dies auf scheue und zartfühlende Weiblichkeit abschreckend wirkt, ist es sicher schade; denn die mannigfaltigen Aufgaben der Armenpflege leiden immer noch unter einem gewissen Mangel sich ihnen widmender freiwilliger Kräfte, geeignete Frauen sind dafür leichter zu haben als Männer, denen schon so viel aufgepackt ist, und für manche Pflege-Aufgaben eignet sich unzweifelhaft obendrein die Frau besser als der Mann. Nur in so fern der Spott auch berichtigend zu wirken vermag, ist er nützlich, und viel von dem üblichen Wohlthun der Frauen kann solche Berichtigung noch vertragen. Aber wer verbessern will, muß selber Einsicht haben, die sich auf Erfahrung und Nachdenken stützt. Daran fehlt es Manchem, der mit dem Ueberlegenheitsbewußtsein des Mannes in allen Stücken, die das öffentliche Leben betreffen, auf „das schwächere Geschlecht“ hinabsehen zu dürfen meint. Spötter dieser leichten Art pflegen keine Ahnung von den Fortschritten zu haben, welche die Frauen bereits in der Reinigung ihres Wohlthuns von den so oft getadelten Auswüchsen und in der Eroberung eines würdigen Antheils an der öffentlichen Armenpflege gemacht haben. Ihnen muß man dies also als Schild für das „zarte, leicht verletzliche Geschlecht“, wie die Prinzessin Leonore im „Tasso“ sagt, entgegenhalten – zugleich aber und hauptsächlich jenen vielen, unendlich vielen Frauen es zeigen, die im Herzen brennen, unglücklichen Menschen in ihrer Nähe eine rettende, helfende, tröstende Hand zu reichen, und nur nicht recht wissen, wie das wahrhaft wirksam anzufangen sei. Ja, dies ist um so nöthiger, als auch die Lieblingsrathgeber der Frauen, die Geistlichen, bei Weitem nicht alle gehörig Bescheid wissen in der Lehre und Kunst der Armenpflege, von der sie auf ihrem Bildungsgange ja leider nicht einmal die Grundbegriffe erfahren.
Eine Frau ist, bis sie durch Leitung oder eigene, allmählich ansteigende und umsichgreifende Erkenntniß den rechten Weg des [723] Wohlthuns entdeckt, immer in Versuchung, theils zu viel, theils zu wenig zu thun.
Sie mag noch so oft gehört haben, daß unter den Bettlern sehr geschickte Dürftigkeitsheuchler sind: wenn ein zerlumpter Mensch seine Jammermiene vorsteckt und die Hand hohl macht, greift sie doch in die Tasche, des ersten Eindrucks nachgiebige bequeme Beute. Oder sie erfährt, daß eine frühere Dienstmagd ihrer Eltern in Noth gerathen ist, sucht sie auf und findet, daß die Aermste ihren Kaffee ohne Zucker trinken muß: flugs sammelt sie unter ihren Freundinnen, bis dieser schreiende Mangel für die Dauer gedeckt ist. Auf Reisen hilft sie durch ihre gutmüthig hingeworfenen Kupfer und Nickelmünzen den zudringlichen Bettel am Leben erhalten, über den als eine Plage, die Einem den Genuß der schönsten Landschaften störe, doch Niemand wortreicher klagt, als sie selbst. In ihrem Heimathsorte arbeitet sie oft genug allen Anschlägen kundiger Männer entgegen, des Bettels an den Haus- und Stockwerksthüren Herr zu werden. Sie ist die Hilfsquelle aller heimlich herumkriechenden Mitleidsschmarotzer in der Stadt. Ihre reichlichen und freigebig gespendeten Mittel tragen häufig dazu bei, das Loch des Elends weiter zu reißen, das sie stopfen wollen, denn sie schwächen in Bedrängten den unschätzbaren Trieb, sich selbst aus der Klemme zu ziehen, den keine fremde Hilfe ersetzen kann. Es ist damit ganz so wie in jener sagenhaften Erzählung vom Fürsten Bismarck, nach der dieser einem Jagdgenossen, der in den Sumpf gerathen war, kaltblütig angekündigt haben soll, er werde ihn erschießen, um seine Leiden abzukürzen und dem qualvollsten Erstickungstode zuvorzukommen. Hätte er statt dessen, wie der eingesunkene Freund erwartete und flehte, ihm unvorsichtig gleich die Hand gereicht, so wären sie Beide vielleicht im ekelhaftesten Moraste untergegangen. Jene scheinbar herzlose Drohung aber bewirkte, daß der Andere alle Kraft aufbot, sich selbst aufs Trockene zu bringen, und so auch glücklich wieder herauskam.
Ein Mensch, der immer mit seinen Almosen bei der Hand ist, wirft sein Geld weg, ohne wahrhaft zu nützen und zu helfen. Die Frauen aber sind dazu im Allgemeinen mehr aufgelegt als die Männer, nicht etwa nur weil ihr Herz weicher, sondern auch weil ihr Einblick in den Zusammenhang der Dinge und die weiteren, nachwirkenden Folgen übereilter Unterstützung Fremder naturgemäß minder ausgebildet ist. Deßwegen thun sie auf diesem Punkte gern und leicht zu viel.
Viele thun dann aber eben deßhalb auch zu wenig. Sie wollen nicht erst untersuchen, wo sie mit ihren Gaben eingreifen; wollen die Gaben nicht ersehen durch Hilfe anderer und viel werthvollerer, freilich auch mühevollerer Art.
In der Armenpflege ist Rath oft unendlich viel besser als die rasche, bequeme, unbedachte That. Viele noch erwerbsfähige Arme können es so wenig vertragen, daß Andere ohne weitere Umstände für alle ihre Bedürfnisse sorgen, wie ein Kind die Erfüllung aller seiner Wünsche oder ein Kranker das Einstimmen in seine wehleidigen Klagen. Man muß ihnen vielmehr Muth machen und auf die Sprünge helfen, daß sie sich nach neuem lohnenden Erwerb unermüdlich umsehen. Man muß ihre Wirthschaft, ihren Haushalt, ihre häusliche und persönliche Gesundheitspflege, ihre Kindererziehung, ihr gegenseitiges Verhalten zu einander zu verbessern suchen, statt mit Geld und anderen todten Sachen, die nichts beleben, nur ertödten können, um sich zu werfen.
Das ist, woran die wohlthätigen Frauen es häufig fehlen lassen, so lange sie ihren momentanen Einfällen überlassen sind. Es ist aber keine Schwäche des weiblichen Geschlechts, sondern eine allgemeine Schwäche der Neulinge. Angehende männliche Pfleger der Armuth sind derselben gerade so ausgesetzt. Sie sind ebenfalls immer zu früh bei der Hand mit Gaben, legen an den Bedarf der Armen einen zu hohen Maßstab, weil sie sich nicht die Mühe genommen haben, ihr wirkliches Leben näher kennen zu lernen, und strapazieren den städtischen Beutel oder den ihres Wohlthätigkeitsvereins, während sie ihre Pfleglinge durch schlechtüberlegte Verwöhnung noch ein paar Stufen tiefer herunterdrücken. Mit der Neulingschaft verliert diese für die Gesellschaft kostspielige, für die Armen verhängnißvolle Neigung sich bei Frauen ebenso gut wie bei Männern.
Nun stellt sich aber dem tieferen Eindringen in die Verhältnisse der Armuth ein anderes Hinderniß lähmend in den Weg: die Scheu vor der Wahrnehmung fremden Elends, die schon nicht selten zu unüberlegten Almosen an Bettler führt, daß man ihre Lumpen und Schwäre nur nicht länger sehen, ihr Gejammer nicht mehr hören müsse. Der glückliche Mensch wünscht, thunlichst wenig mit Leuten und Zuständen in Berührung zu kommen, die ihn aus seinem Wohlgefühl herausschrecken könnten. Er fürchtet sich gewissermaßen vor seinem eigenen Mitleid.
Hat er nicht Recht? Der erste Anblick ungelinderter menschlicher Leiden wird ihn in der Regel niederdrücken, schwermüthig machen und vermöge jener Neigung unserer Phantasie, die Erlebnisse Anderer in Gedanken auf uns selbst zu übertragen, in quälende Zweifel an der Dauer des eigenen Glückes stürzen. Nein, er hat doch Unrecht: denn dies ist nur die augenblickliche erste Wirkung. Der Anfangseindruck des Gewahrens von Noth und Pein bei Anderen ist ebenso unangenehm, aber ebenso wenig bleibend, wie wenn man zum Baden in kaltes Wasser springt, eine Operation übersteht, ein Examen macht, oder in eine Gesellschaft tritt, die man ihrer Bedeutung oder ihres Reizes halber sucht und ihrer Neuheit wegen doch ein wenig fürchtet. Dieser fatale Anfangseindruck würde nur dann nachhaltig sein, wenn nichts geschähe, Pein und Noth zu lindern – nichts entweder durch Dritte, oder was noch bei weitem wirksamer, durch uns selbst. Nur sich selbst überlassenes, hilfloses und unbekämpftes Elend beugt uns dauernd nieder.
Man geht in ein Krankenhaus, um einen Freund zu besuchen, der sich einem berühmten Chirurgen ans Messer liefern muß. Es ist das erste Mal, daß man so viel Schmerzen und Leiden zuhauf sieht. Die Vorstellung hat sicher nichts Erfreuliches. Leicht erregbare Nerven zittern mit, wenn sie einen Mitmenschen auf den Operationstisch tragen sehen, oder hören, wie ein Trichinenkranker in der Qual der rastlos durchwühlten Muskeln stöhnt, oder dem irren wilden Blicke eines Wahnsinnigen begegnen. Aber dann folgt als unausbleiblicher zweiter Gedanke derjenige an die Hilfe und Pflege, welche die Leidenden hier finden. Alle haben sie es hier besser als daheim, denn weßhalb wären sie sonst hergekommen? Für die Meisten ist der Abstand zwischen der Wartung, die ihnen in der eigenen überfüllten Wohnung zu Theil werden konnte, und der Behandlung durch lauter erfahrene Hände, der Verfügung über die Hilfsmittel einer wohlversehenen öffentlichen Anstalt so weit wie der Abstand zwischen Armuth und Reichthum. Jede uns begegnende Pflegeschwester, sei sie vom Rothen Kreuz, Diakonissin oder Barmherzige, erneuert den Eindruck dieser außerordentlichen Wohlthat; und da fast jede von ihnen, deren ganzer Beruf doch in dem Verkehr mit Leidenden aufgeht, gleichwohl ruhig, wo nicht geradezu seelenfreudig und vergnügt erscheint, so beginnt uns die Ahnung aufzudämmern, daß die Wahrnehmung fremder Leiden auf die Länge nicht so niederbeugend wirkt, wie wir nach dem ersten Eindruck zu urtheilen geneigt waren.
In den Hütten der Armuth machen die Töchter des Wohlstandes alle Tage die gleiche Erfahrung. Zuerst wollen sie lieber gar nicht hinein, denn ihr ausgebildeter ästhetischer und wahrscheinlich sogar etwas verzärtelter Sinn macht sich nicht mit Unrecht auf schwere Kränkungen gefaßt. Die Nase empfängt schon bei der Deffnung der Hausthür den Vorgeschmack dessen, was die Augen zu sehen bekommen werden und was sich in roher Sprache Luft machen wird. Aber die Noth in unserer Umgebung verschwindet ja nicht dadurch, daß wir uns weigern, von ihr Notiz zu nehmen. Im Gegentheil: je weniger Notiz die Hilfefähigen von der sie umringenden Hilfsbedürftigkeit nehmen, desto üppiger wird diese weiterwuchern und am Ende uns aufsuchen, dann aber fordernd und gefährlich drohend, wofern wir ihr nicht zuvorkommen. Schlummert also Gefahr in der Nichtbeachtung der Massennoth und weicht sie doch nur mit der Zeit den Hilfs- und Heilmitteln, welche Bessergestellte anzuwenden im Stande sind, so muß die Scheu vor Schmutz und Mißgeruch und den Ausbrüchen schwergequälter Seelen überwunden werden; und wer sie in sich unterdrückt, der wird bald mit Wonne empfinden, daß er auf diesem Wege sein eigenes unversehrtes Glück nicht beeinträchtigt, sondern mehrt und stärkt. So lange wir uns um die Bedrängten nicht kümmern, entsenden sie von Zeit zu Zeit ein sehr unbehagliches Gefühl nicht verdienten Vorzugs und nicht gemilderten fremden Elends in die hartherzig verschlossenen Seelen. Aber wir brauchen uns ihrer nur ernstlich anzunehmen, sei es mit Opfern vom eigenen Ueberfluß oder besser noch mit frischer [724] hilfsbereiter Thätigkeit, so löst sich der Druck, und unser Glück wurzelt sich fester in dem Bewußtsein wohlbethätigter Nächstenliebe.
Immer mehr Frauen empfinden dies und handeln danach. Sie begnügen sich nicht mit den zufälligen Gelegenheiten zum Wohlthun, welche ihr eigener Lebenskreis ihnen eröffnet, sondern suchen in allerhand Vereinen die stets bereite öffentliche Gelegenheit auf. Solcher Frauenvereine giebt es in manchen unserer älteren, reicheren und durch bürgerlichen Gemeinsinn hervorragenden Städte schon seit den Befreiungskriegen, und die Einheitskriege von 1864, 1866, 1870 und 1871 haben neue hinzugefügt in den Vaterländischen Frauenvereinen und ihres Gleichen. Sie erziehen ihre Mitglieder zu einer vernünftigeren, edleren und wirksameren Wohlthätigkeit, als blindlings ausgestreute Geld- und Werthgaben sind. Aber in ihrer Vereinzelung und unumschränkten Selbständigkeit sind auch diese Vereine noch der Gefahr einer zweckwidrigen Vergeudung ihrer Wohlthaten ausgesetzt, weil sie da nicht durchgehends zuverlässig übersehen können, ob ihre Pfleglinge nicht schon anderweitig unterstützt, also auch nicht wahrhaft bedürftig und in so fern würdig der Hilfe sind.
Dies hat städtische Armenbehörden schon oft über die wohlthätigen Frauenvereine seufzen lassen. Sie sehen sich durch das Gesetz gezwungen, alle Hilfsbedürftigen des Ortes zu unterstützen; wenn nun aber ihre Pfleglinge obendrein noch von diesem oder jenem Verein weniger wohlbedachte und wohlbemessene Gaben empfingen, oder wenn durch Vereinswohlthaten Leute ohne Noth verwöhnt und zu dauernder Hilfsbedürftigkeit hinabgedrückt wurden, so wuchs vor ihren sorgenden Augen die Last der Stadt ins Unerschwingliche. Ohne weder den Damen der Vereine ihre Freude am Helfen noch den Vereinspfleglingen schlechthin jede Unterstützung über das strenge städtische Maß hinaus zu mißgönnen, erschien ihnen dieses Wohlthun doch häufig als eine künstliche Beförderung der Noth, welcher es abhelfen wollte, als eine schwere Störung des Erziehungswerks, das sie an den noch erwerbsfähigen Armen des Orts zu vollbringen hatten, und als eine Pflege schmarotzerhaft wuchernden Unkrauts.
Wachsame, entschlossene Armenbehörden haben deßhalb die Frauenvereinsthätigkeit in feste Verbindung mit sich selbst zu setzen getrachtet. Vaterländische Frauenvereine oder einzelne hochgesinnte Frauen sind ihnen ihrerseits dazu entgegengegangen. Verschiedene Formen solchen geregelten und glücklichen Zusammenwirkens kamen in der Wanderversammlung deutscher Armenpfleger zur Sprache, als sie dieses Jahr am 16. und 17. September in Bremen tagte.
Es traf sich vor fünf oder sechs Jahren in Stettin, daß der zweite Bürgermeister die Armenverwaltung unter sich hatte und dessen Gemahlin an der Spitze des Vaterländischen Frauenvereins stand. Da vermochte diese die Wohlthätigkeitsvereine der Stadt, sich unter einander und mit der städtischen Armenbehörde in fortlaufenden Verkehr zu setzen, damit jede unterstützende Stelle von allen anderen erfahre, wem sie beistehen und womit, zur Verhütung doppelter und noch mehrfältiger Hilfe.
Aehnlich hat die Armenbehörde der Stadt Bremen die dortigen Wohlthätigkeitsvereine aufgefordert, ihr im Vertrauen mitzutheilen, was sie thun und wem, um sie nöthigenfalls vor dem Mißbrauch ihrer Mittel warnen zu können.
Am weitesten ist man bis jetzt in Kassel gegangen. Dort entstand bei einer allgemeinen Verjüngung der Gemeinde-Armenpflege der Wunsch, weibliche Kräfte heranziehen zu können; und kaum aufgetaucht, wurde er auch erfüllt, indem der Vaterländische Frauenverein eine seiner Abtheilungen zu förmlichem Eintritt in die Reihen der Pflegekräfte anbot. Seitdem wirken Pflegerinnen gleichberechtigt mit den Pflegern, und ihre Oberin hat Sitz und Stimme in der Behörde, die die ganze städtische Armenpflege leitet. Wie vortrefflich das gehe und wirke, bezeugte in der Bremer Versammlung von der einen Seite der Bürgermeister, von der anderen der Schriftführer des Vaterländischen Frauenvereins. Ersterer rieth zugleich auf Grund der vierjährigen Erfahrung Kassels an, die Frauen nicht einzeln in den Bezirksberathungen unter männlichen Armenpflegern sitzen zu lassen und die Auswahl der ihnen anzuvertrauenden Geschäfte nicht allzu ängstlich einzuschränken.
Man sollte denken, daß jene große Reform städtischer Armenpflege, die von Elberfeld ihren weltbekannten, geschichtlichen Namen trägt, schon von selbst die Aufnahme möglichst vieler Frauen in den thätigen Kreis und ihre Befassung mit den meisten, wo nicht allen Pflegegeschäften nach sich ziehen müsse. Wo man von roher Gabenvertheilung (außerhalb der Anstalten) übergeht zu sorgfältiger Einzelbehandlung, wo man den Kindern und Schwachen Erziehung angedeihen läßt und den vom Erwerb abgekommenen vollkräftigen Erwachsenen freundschaftlich beisteht, da stellt sich plötzlich ein bisher unerhörtes Bedürfniß nach pflegenden vormundschaftlichen Kräften heraus. Durch Anstellung gegen Entgelt läßt es sich nur zum allerkleinsten Theile befriedigen. Es ist aber auch nicht etwa ein Streben nach nothdürftigem Ersatz, daß man freiwillige Pfleger vorruft: dieser Freiwilligen-Dienst hat vor der kahlen kalten Abmachung der Sache durch lauter bezahlte Angestellte deutlich empfundene Vorzüge. In den großen rheinischen Fabrikstädten, wo die Unsicherheit der Lage und steten Beschäftigung der Arbeiter zu ausreichendem Lohne ohne Unterlaß vor Augen steht und die Gemüther beherrscht, hat es seit einem Menschenalter nicht schwer gehalten, die nöthige Zahl von Pflegern unter den bemittelteren Männern zu finden, mögen diese dort verhältnißmäßig auch wenig zahlreich sein. In Städten mit nicht so dringender und auffälliger Noth der Massen, in kleinen Städten vollends und auf dem Lande hat es seine große Schwierigkeit. Diese Schwierigkeit aber nimmt allenthalben noch täglich zu mit den gewaltig wachsenden Ansprüchen des Staats an seine Bürger, der verschiedenen Kirchen an ihre Angehörigen, der Gemeinden, Körperschaften und Vereine an Alle, die über das nächste eigne Bedürfniß hinaus ein wenig Kraft, Mittel und Muße übrigbehalten. Da melden sich doch die Frauen zu den Geschäften und Sorgen der Armenpflege höchst willkommen!
Selbst in Elberfeld und Crefeld, den Musterstädten heutiger rechter Armenpflege, hat man nicht ganz auf ihre Hilfe verzichten wollen. Nur beschränkt man sie dort auf einen Theil des großen Geschäfts: in Crefeld bleibt die Untersuchung der Hilfsbedürftigkeit ihnen fern, in Elberfeld leiten sie die Krippen und die Ferienkolonien. Das erklärt sich vollkommen aus der langjährigen Schulung der dortigen männlichen Pfleger. Ohne Noth giebt man die schwierigeren Aufgaben eines Berufs nicht gern an Neulinge ab. Aber wo das Massenaufgebot von Freiwilligen wider die Massennoth – wie man das Elberfelder System kurz charakterisiren könnte – noch jung ist oder erst erfolgen soll, da steht nichts Vernünftiges im Wege, die Frauen von vornherein gleich den Männern in Reihe und Glied zu stellen.
„Leistungen werden bald,“ sagte der Korreferent auf dem Bremer Armenpflegertag, „die verantwortlichen Leiter überzeugen, daß den Frauen, die sich hier freiwillig anbieten, nach und nach fast alle Geschäfte der Armenpflege ziemlich ebenso gut wie Männern übertragen werden können. Ich glaube für meinen Theil nicht daran, daß sie sich für Registerführung und Kassengeschäfte nicht eignen sollten. Nur wo es sich um die genaue Gesetzeskunde des Juristen handelt, wird dem Manne diese specielle Schulung dauernd seinen Vorzug erhalten. Im Uebrigen braucht ja nichts gewagt und überstürzt zu werden. Man geht schrittweise vor und erzieht sich so die Helferinnen allmählich zu immer umfassenderer Verwendung, wie man sich auch die neu zutretenden Männer erziehen muß. In dem Maße wie das Zutrauen in ihre Leistungsfähigkeit wächst, werden mehr Männer frei für die vielen sonstigen Ansprüche des öffentlichen Lebens, die zur Ueberbürdung aller Willigen führen, und treten mehr Frauen aus der Nichtigkeit pflichtenlosen Daseins über in eine berufsartige Arbeit, welche ihnen selbst noch mehr Lebensfreuden in Aussicht stellt als der nach ihrer linden Hand verlangenden hilfsbedürftigen Armuth.“
Wenn dieser kulturgeschichtliche Vorgang sein einstweilen nicht zu bestimmendes natürliches Ziel erreicht hat und damit die Grenzen in einander fließen, welche heute noch das Wohlthun unaufhaltsamen weiblichen Mitleids an den Hausthüren und in den Frauenvereinen von der strenggeordneten durchdachten Armenpflege guter Behörden trennen, wird ein großer Zwiespalt und Widerspruch in unserer Behandlung der dauernden, immer aufs neue hervortretenden und Hilfe erheischenden wirthschaftlichen Nothstände verschwinden. Kopf und Herz, möchte man sagen, gehen dann auf diesem wichtigen socialen Gebiet eine neue Ehe ein, deren fruchtbringende Harmonie sich in allen Sphären der Gesellschaft ebenso stärkend wie versöhnend fühlbar machen wird.