« IV Flucht in die Finsternis VI »
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V

Mit einem aufgetakelten Segelboot sowie einem Schlachtschiff, die er beide soeben in einem Spielwarengeschäft in dankbarer Erinnerung an seinen Aufenthalt am Meer erstanden, trat er am nächsten Tag in das Zimmer seiner Neffen, eines neunjährigen und eines sechsjährigen Knaben, die dem Oheim und den Geschenken einen freudigen Empfang bereiteten. Eben war er daran, den Kindern, ohne besondere Fachkenntnisse, aber höchst gemeinverständlich, die Bauart der kleinen Modelle zu erläutern, als die Mutter mit vielen kleinen Paketen heimkehrte und Robert aufs herzlichste willkommen hieß. Mit ihrem gewohnten spöttisch-vergnügten Lächeln bat sie ihn, sich in seinen technischen Erörterungen nicht stören zu lassen. Gleich nach ihr, wie in einer Vorahnung von Roberts Besuch, zu früherer Stunde als gewöhnlich, trat Otto ein, noch im Überrock und mit der schwarzledernen Instrumententasche. Sein Haar und sein Bart erschienen Robert recht ergraut. „Nun also, da wäre man ja wieder“, sagte er etwas trocken. Er legte die Tasche hin, ergriff des Bruders Hände, schüttelte sie, und nach einem [42] leichten Zögern umarmte er ihn, worauf sie beide etwas verlegen waren. Marianne nickte wie befriedigt. „Du kommst heute wohl schon aus dem Ministerium?“ fragte Otto. – „Du überschätzt meinen Eifer“, sagte Robert. „Mein Urlaub ist noch nicht abgelaufen, und es wäre nicht undenkbar, daß ich noch auf ein paar Tage ins Gebirge gehe. Edmund, den ich gestern abend zufällig im Café getroffen habe, rät mir dazu.“ Er hatte absichtlich Leinbachs Vornamen genannt, um ihn gewissermaßen als den alten Freund und nicht etwa in seinem für Otto immer etwas anzweifelbaren ärztlichen Charakter ins Gespräch einzuführen. Otto konnte trotzdem ein ironisches Lächeln nicht unterdrücken. Um so mehr ließ es sich Robert später, als man bei Tische saß, angelegen sein, Leinbachs menschliche Vorzüge, insbesondere seine Liebenswürdigkeit und Gutherzigkeit zu loben, wobei er die Absicht verfolgte, sich von dieser Seite eines Schutzes gegenüber feindseligen Mächten zu versichern. Er sprach lebhaft, mit bewußter Aufgeräumtheit, berichtete dann ebenso von seiner Reise, verweilte mit besonderer Wärme bei der Schilderung der schönen Sommertage am Vierwaldstätter See, ohne Albertens zu erwähnen, und es war ihm dabei, als wenn er irgendeinen über ihm schwebenden Verdacht abwehren müßte.

Nach Tisch, da der Bruder Ordination abhalten [43] mußte, blieb Robert mit der Schwägerin allein. Schweigend rauchte er seine Zigarre, als Marianne sich mit der Frage an ihn wandte: „Was macht denn dein Klavierspiel?“ – „Mein Klavierspiel“, wiederholte er etwas melancholisch, „das weiß ich eigentlich selber nicht. Auf Reisen kommt man begreiflicherweise wenig dazu. Manchmal hat es mir wohl gefehlt.“ – „Uns auch“, meinte Marianne lächelnd. Es war Roberts Gewohnheit gewesen, sich nach den Mahlzeiten, die Zigarre zwischen den Lippen, an den Flügel zu setzen und sich, wie Marianne es nannte, musikalischen Kaffee- und Havannaphantasien hinzugeben. So erhob er sich auch jetzt, begab sich ins Nebenzimmer ans Klavier und spielte allerlei Ernstes und Heiteres, Klassisches und Banales, nach- und durcheinander, ähnlich wie es gestern der Pianist in der Bar getan.

Plötzlich ließ er die Hände auf den Tasten ruhen, wandte sich nach Marianne um, die in der Diwanecke, mit einer Stickerei beschäftigt, seinem Spiele gefolgt war, und sagte: „Nun ist’s genug. Es geht ohnehin nicht recht.“ Und da sie eine Einwendung erhob, fuhr er fort: „Auch ist es höchste Zeit, daß ich mich wieder auf die Wanderschaft mache. Ich bin nämlich auf Wohnungssuche.“

„Ob du nicht lieber noch eine Weile warten solltest?“ sagte Marianne. „Da du schon einmal im Hotel [44] abgestiegen bist … Es könnte sich ja doch fügen, daß du bald eine geräumigere Wohnung benötigst.“ Robert, solcher Anspielungen von Mariannens Seite nicht ungewohnt, schüttelte den Kopf: „Dazu ist es nun doch allmählich zu spät geworden.“ – „Warum?“ erwiderte sie lebhaft. „Es kommt ja doch noch. Eines schönen Tages wirst du uns mit deiner Heiratsanzeige überraschen.“

Denkt sie an eine bestimmte Person, fragte er sich. An Fräulein Rolf am Ende? – Ich habe doch kaum dreimal mit ihr gesprochen. Sollte man trotzdem hier schon unterrichtet sein? Dann fiel ihm ein, daß an verschiedenen Orten der Schweiz Bekannte ihn mit Alberta gesehen hatten, zu der seine Beziehungen auch für Bruder und Schwägerin kein Geheimnis gewesen waren. Marianne hatte sich sogar manchmal, wenn sie ihn mit seiner Geliebten im Theater oder sonst irgendwo gesehen hatte, anerkennend und mit kaum verhehlter Bewunderung über deren guten und diskreten Geschmack geäußert. Da man es längst aufgegeben hatte, Robert mit bürgerlichem Maße zu messen, und er seit Beginn des Verhältnisses mit Alberta seiner Umgebung ruhiger, ja glücklicher erschienen sein mochte als in den Jahren vorher, so zweifelte er nicht, daß die Familie eine eheliche Verbindung mit Alberta nicht ungern gesehen hätte. Daß er die Torheit begangen, das anmutige [45] Geschöpf kampflos einem anderen zu überlassen, das konnte niemand, auch Marianne konnte es nicht ahnen, und er selbst begriff es in diesem Augenblick weniger denn je.

Er versuchte, sich das letzte Gespräch mit Alberta ins Gedächtnis zurückzurufen. Er erinnerte sich seiner anfangs scherzhaften Bemerkungen über den Amerikaner, ihres sonderbaren Schweigens, ihres Lächelns und endlich ihrer plötzlichen, ganz unerwarteten Mitteilung, daß der Fremde ihr seine Hand angetragen habe. Er wußte auch noch ganz genau, daß es ihn vorübergehend angewandelt, als wenn er ohnmächtig zu Boden stürzen oder Alberta einen Schlag vor die Stirn versetzen müßte. Aber er hatte weiter den Heiteren, den Überlegenen gespielt und freundschaftlich-väterlich Alberta zur Annahme jenes Antrages geraten, da er ihrer Zukunft nicht hinderlich im Wege stehen wolle. So hatten sie sich am Ende dahin geeinigt, daß sie noch heute abend dem Amerikaner ihr Jawort erteilen und daß Robert am nächsten Morgen, ohne sie noch einmal zu sehen, allein abreisen solle. Robert erinnerte sich auch sehr deutlich, wie er um sechs Uhr früh seine Rechnung bezahlt und in einem nicht eben unangenehmen Gefühl von Befreitheit mit einem letzten kaum wehmütigen Blick nach dem Fenster, hinter dessen geschlossenen Vorhängen Alberta noch schlafen [46] mochte, die Bergstraße an den See hinuntergefahren war.

Woran er sich aber durchaus nicht zu erinnern vermochte, das war der Augenblick, da er von Alberta endgültig Abschied genommen hatte. Noch sah er sich mit ihr auf einem schmalen Pfad, der, von dem breiteren Spazierweg abzweigend, ins Dunkel des Waldes führte; er entsann sich auch, daß er später, schon in der Finsternis, allein, von schwerer Müdigkeit befangen, auf einem Baumstumpf gesessen war; aber wie er den Weg ins Hotel zurückgefunden, was er in seinem Zimmer getan, wie er zu Bett gegangen und wie er des Morgens wieder aufgestanden war, davon wußte er nicht das geringste mehr. Erst beim Bezahlen der Rechnung in der Hotelhalle, wo eben der Boden gefegt wurde, setzte sein Gedächtnis wieder ein. Und plötzlich, mit einer bohrenden Angst, fragte er sich, ob das Gespräch mit Alberta nach jenem ihm in Erinnerung gebliebenen äußerlich scheinbar ruhigen Abschluß nicht etwa noch eine Fortsetzung ganz anderer Art gefunden hatte, die ihm aus dem Gedächtnis entschwunden; ob er nicht wirklich, von wühlender Eifersucht übermannt, zu einem Schlage gegen sie ausgeholt – ob er sie nicht gar erwürgt und nachher unter verwittertem Laub versteckt und eingescharrt hatte? Nur dies war sicher: Er war mit ihr in den Wald gegangen und ohne sie zurückgekehrt; [47] ob sie später allein zurückgekommen war, das hatte er ja niemals erfahren. War sie nicht heimgekehrt, so mußte es freilich im Hotel aufgefallen sein, aber konnte er denn ahnen, was er zur Erklärung ihres Ausbleibens für geschickte Lügen erfunden und vorgebracht haben mochte? Wenn er, wie er es nun mit einem Male für möglich hielt, in einem Dämmerzustand einen Mord begangen, so lag alles andere gleichfalls im Bereiche der Möglichkeit; vor allem List und Tücke jeder Art, um das Verbrechen zu verschleiern.

Es war ihm bewußt, daß all diese Einfälle und Erwägungen im Verlauf von wenigen Sekunden durch sein Hirn gejagt waren. Nun aber, da er Mariannens Augen mit einem unverkennbaren Ausdruck der Besorgnis auf sich gerichtet sah, fühlte er, daß er tödlich erblaßt war; und er sagte sich, daß es vor allem darauf ankam, sich nicht zu verraten. Mit einer gewaltigen Willensanstrengung vermochte er seinem Antlitz einen harmlosen Ausdruck zu verleihen, und er bat Marianne, ihn bei seinem Bruder zu entschuldigen, da er jetzt eilen müsse, um eine Wohnung auf der Wieden, die nur bis zu einer gewissen Stunde zur Besichtigung freistände, nochmals in Augenschein zu nehmen. „Für morgen aber lade ich mich wieder zu Tisch bei euch ein, wenn ich nicht doch vielleicht“, setzte er eilig hinzu, „für ein paar Tage auf [48] den Semmering fahre.“ – „Unruhiger Geist“, rief Marianne ihm zum Abschied nach.

Als er aus dem Tore trat, stand gegenüber, vor einem großen Spiegelfenster, eine Zigarre rauchend, ein Herr von fragwürdig-verdächtiger Eleganz, der mit auffallender Raschheit den Blick wandte, als Robert ihn ins Auge faßte. Sind wir so weit? dachte er flüchtig. Dann aber lachte er. Es wäre das Neueste, sagte er vor sich hin, wegen einer Wahnidee verhaftet und zur Rechenschaft gezogen zu werden. Denn daß es nur eine törichte Einbildung gewesen war, die ihn früher überfallen, dessen war er jetzt wieder ganz gewiß. Ob man aber nicht doch, dachte er weiter, vorsichtshalber an die Schweizer Hoteldirektion schreiben sollte? Und wäre es auch nur, um etwaigen Verdächtigungen gegenüber eine Bestätigung in der Hand zu haben, daß Alberta an jenem Abend gleichfalls heimgekommen und daß sie am nächsten Tag in Gesellschaft eines anderen Mannes abgereist sei. Er warf einen Blick nach der Seite. Die bedenkliche Erscheinung des eleganten Herrn war verschwunden.

Robert setzte seinen Weg fort und zwang sich, an etwas Gleichgültiges zu denken. Er versuchte, sich den Inhalt seiner letzten Arbeit – zur Statistik des niederösterreichischen Volksschulwesens – ins Gedächtnis zu rufen, und es beruhigte ihn, daß manche [49] Einzelheiten daraus, an die er monatelang nicht mehr gedacht und die ihn im Grunde niemals sonderlich interessiert hatten, sich seinem ausgeruhten Geiste heute mit größter Klarheit darboten. Zugleich bedauerte er, und nicht zum ersten Male, daß auf einem anderen Gebiete, wo er weit besser zu Hause war, auf dem der musikalischen Unterrichtsfragen, seine Mitarbeiterschaft bisher nicht in Betracht gezogen worden war, und zweifellos nur darum, weil Hofrat Palm mit Eifersucht darüber wachte, daß man ihm nicht jemand an die Seite setzte, der von diesen Dingen mehr verstand als er selbst. Robert verspürte Heimweh nach seinem Kanzleiraum, nach dem großen Schreibtisch, dem bequemen, schwarzledernen Lehnsessel, den hohen Regalen mit den Aktenfaszikeln, den gelblichen Wänden mit den Landkarten und Tabellen, er sehnte sich nach einem Wirkungskreis, wo es ihm beschieden wäre, wahrhaft Nützliches zu leisten und die Anerkennung seiner Vorgesetzten, vielleicht gar ein Lob aus des Ministers eigenem Munde zu erringen, was ihm nicht nur zur Befriedigung seines Ehrgeizes, sondern auch aus einem anderen, ihm nicht gleich deutlich werdenden Anlaß von Wichtigkeit zu sein dünkte. Und nun entdeckte er zu seinem Verdruß, daß eine törichte Angst immer noch auf dem Grunde seiner Seele lauerte, etwa so, als könnte der düstere Wahn, der [50] ihn selbst verlassen, unabhängig von ihm, wie ein freigewordener böser Geist, in anderen Menschen sein gefährliches Wesen weitertreiben. Doch als er, um sich blickend, an einem nachmittägig belebten Teil der Ringstraße unter vielen Menschen sich völlig unangefochten, ein harmloser Spaziergänger unter andern, fand, zerfloß auch diese letzte Einbildung in nichts.

Unwillkürlich fiel sein Auge auf eine Frauengestalt, die in einem ziemlich armseligen, hellbraunen Mantel, mit einer schwarzen Rolle auf dem Schoße, auf einer Bank saß. Ihr Antlitz war blaß, nicht mehr jugendlich, fast vergrämt; jetzt, aufschauend, lächelte sie kaum merklich und sah gleich wieder vor sich hin. Robert setzte seinen Weg fort und blieb, von einem Landschaftsbild angezogen, vor der Auslage eines Kunsthändlers stehen, als im Spiegelfenster jene Frauengestalt wieder erschien, gesenkten Blickes, eilig vorüberschreitend. Robert wandte sich nach ihr um, sie ging weiter, ohne seiner zu achten, beide Hände in die Taschen ihres Mantels vergraben, aus deren einer die schwarze Rolle hervorragte. Ihr Gang war aufrecht und etwas schleichend; der anliegende, zu enge und zu lange Mantel verriet angenehme, nicht überschlanke Formen. Robert folgte ihr und überlegte, was sie eigentlich sein mochte. Beamtenfrau, dachte er, Buchhalterin? – [51] Da sie ihren Schritt allmählich verlangsamt hatte, zweifelte Robert nicht, daß sie die Verfolgung nicht übelnahm, und an einer Straßenecke, schon weiter draußen in der Vorstadt, richtete er unbefangen das erste Wort an sie.

„Würden Sie mir’s übelnehmen, Fräulein, wenn ich um die Erlaubnis bäte, mich Ihrem Spaziergang anzuschließen?“ – Sie darauf mit einer angenehmen Stimme, weder erstaunt noch beleidigt: „Es ist kein Spaziergang, ich gehe nach Hause.“ Sie sah ihn kaum an. – „Aber die Erlaubnis“, meinte er, „darf ich wohl als erteilt betrachten?“

Sie zuckte die Achseln, etwa, als wollte sie sagen: Mit mir muß man wirklich nicht so viel Geschichten machen; – dann erst sah sie ihn von der Seite an. Er sprach davon, daß sie ihm schon auf der Ringstraße aufgefallen sei; – wie sie auf der Bank gesessen war, die Hände in den Manteltaschen, die Rolle auf dem Schoß, den Blick vor sich hin gerichtet – das sei ein hübsches Bild gewesen. – „Sie sind doch kein Maler?“ fragte sie. – „Leider nicht“, erwiderte er. Und da er keinen Grund hatte, ihr seinen Namen zu verhehlen, so stellte er sich in aller Form vor. Sie nannte den ihren ganz beiläufig, und in dem leicht weiterfließenden Gespräch, ohne sich erst eindringlich fragen zu lassen, erzählte sie ihm allerlei von ihrem Leben. Sie gab Klavierlektionen; [52] ihr Mann, ein Magistratsbeamter, war vor drei Jahren gestorben; und nun, verwitwet und kinderlos, wohnte sie in einer nahen Seitengasse, bei einer besseren Handwerkerfamilie. Im vergangenen Sommer hatte sie sich zum erstenmal nach ihres Mannes Tod drei Wochen Urlaub gegönnt, die sie in einer kleinen, wohlfeilen Sommerfrische nahe von Wien verbrachte. „Dort habe ich mich auch wieder verlobt“, setzte sie hinzu. „Es ist aber nichts draus geworden. Besser so“, schloß sie achselzuckend, als sei sie kein besseres Schicksal gewohnt und nie eines besseren wert gewesen als des ihr beschiedenen. –

Ein offener Einspänner trottete vorbei, der Kutscher schwang grüßend die Peitsche. Robert lud seine Begleiterin zu einer kleinen Spazierfahrt ein, sie stiegen ein, fuhren durch die Vorstadt weiter und dann unter dem Bahnviadukt hinaus auf die Laxenburger Straße, mit dem Blick auf die im Abend verdämmernde Hügelkette. Allmählich rückten sie näher aneinander. Als auf dem nahen Geleise ein Eisenbahnzug an ihnen vorbeisauste, nahm Robert Anlaß, von seiner eben verflossenen Reise zu erzählen, später brachte er das Gespräch auf die Musik, worauf sie ohne tieferes Interesse einging, da sie in ihrer Eigenschaft als Klavierlehrerin eben nur von den zufälligen Kenntnissen Gebrauch machte, die sie sich [53] früher einmal, in besseren Lebensumständen als heute, zu erwerben Gelegenheit gehabt hatte.

Die Sonne war gesunken, und es wurde empfindlich kühl. Robert ließ den Wagen der Stadt zuwenden. Sie redeten beide nicht mehr, und als er ihre Hand faßte, gab sie ihm den Druck mit unerwarteter Wärme zurück. In ihre müden Züge trat ein Schimmer von Freude, fast von Glück.

In einem kleinen Gasthof, der Robert von ähnlichen Gelegenheiten her bekannt war, stieg er mit ihr ab, nahm ein Zimmer und bestellte ein Abendessen. Während sie es erwarteten, saß sie mit im Schoß gefalteten Händen auf dem blauen Plüschdiwan, und er, eine Zigarette rauchend, ging in dem bescheidenen, aber nett gehaltenen Raum auf und nieder. Über den Betten hingen zwei schlechte Öldrucke, italienische Landschaften mit Staffage vorstellend; rechts der Vesuv, über den Golf von Neapel Rauch und Feuerschein verbreitend, links eine Osteria in der römischen Campagna mit Fuhrleuten, rot und blau gekleideten, breit lachenden Mädchen, im Hintergrund ein Aquädukt mit zerbrochenen Säulen. Nie wird sie mehr von Italien wissen, dachte Robert, als was sie auf solchen Bildern zu sehen bekommt. Und mitleidsvoll-schuldbewußt streifte sein Blick ihren Scheitel. Sie saß noch immer ganz still da in ihrer hochgeschlossenen, etwas zerdrückten, blaugetupften [54] Leinenbluse. Ihre Haare waren dunkelblond und dicht, die Augen hell und groß, die Gesichtszüge aber sahen nun im gelblichen Licht des zweiarmigen Deckenlüsters noch verblühter aus als im Dämmerschein der Straße. Plötzlich blickte sie zu ihm auf, und einfach, beinahe trocken, sagte sie: „Sie sollen nicht schlecht von mir denken, aber ich bin wirklich so allein.“ Ergriffen trat er näher zu ihr hin, legte die Hände um ihre Wangen und küßte sie auf den Mund.

Bald nach Mitternacht, zum Fortgehen bereit, warf sie einen Blick nach dem gedeckten Tisch zurück, wo noch Reste des Abendessens standen, und sagte: „Darum ist es eigentlich schade.“ – „Es wird morgen schon für andere aufgewärmt werden“, meinte er scherzend. Sie darauf: „Das könnte man wohl selbst besorgen, da doch alles bezahlt ist.“ Und auf seinen befremdeten Blick hin: „Hast du etwas dagegen?“ Er in einiger Verlegenheit: „Das wäre doch wirklich nicht nötig, mein Kind.“ Und er fügte hinzu: „Verzeih, daß ich davon spreche, aber wenn ich dir – zur Verfügung stehen darf …“ Sie unterbrach ihn mit einer entschiedenen Handbewegung, doch ohne die Beleidigte zu spielen. „Danke“, sagte sie, und mit einem müden Lächeln: „Das sollst du doch nicht von mir glauben.“ Sie öffnete ihre Notenrolle, die außer einigen ziemlich zerrissenen Notenheften [55] ein paar Bogen Kanzleipapier enthielt, wickelte in einen davon das kalte Fleisch und steckte das Päckchen in die Tasche ihres Regenmantels. Dann gingen sie die Treppe hinab; Robert leuchtete mit einem Wachskerzchen voran. Auf der Straße hing er sich in ihren Arm. „Oh, du mußt mich nicht nach Hause begleiten!“ sagte sie. – „Freilich muß ich nicht. Aber wenn es mir Vergnügen macht.“ – An der nächsten Ecke stand ein Wagen. „Wir werden fahren“, sagte er. Sie schüttelte den Kopf. „Verschwender“, erwiderte sie in dem gleichen müden Ton, wie ein paar Stunden vorher, als er eine Flasche besseren Weins bestellt hatte. Aber der Kutscher stand schon bereit, die junge Frau stieg ein; und nun fühlte Robert plötzlich gar keine Lust mehr, sie zu begleiten. Er blieb zögernd neben dem Trittbrett stehen, ihre Hand in der seinen, und fragte: „Wann sieht man sich wieder, mein Kind?“ – „Ich hab’ dir ja gesagt, wo ich wohne“, erwiderte sie, „und wenn du vielleicht wieder einmal mit mir zusammensein willst, so schreib mir nur ein Wort. Ich bin immer frei.“ – „Um so besser“, sagte er. Und langsam setzte er hinzu: „Ich danke dir recht sehr.“ Dabei küßte er ihre Hand. Sie trug keine Handschuhe, ihre Finger waren kühl. Und als er aufblickte, las er in ihren Augen: Wir werden uns gewiß nie wiedersehen. Ich hab’ dir ja kaum gefallen, das weiß ich; [56] mein gestricktes Leibchen war nicht nach deinem Geschmack und mancherlei anderes, was ich eben nicht besser habe und das du anders gewohnt bist. Du wirst mir nicht schreiben, ich weiß es. Er las das alles so deutlich in ihrem Blick, daß er sich beinahe gedrängt fühlte, ihr zu widersprechen. Aber der Wagen fuhr schon davon. Noch einmal sah sie nach dem Geliebten der verflossenen Stunde zurück und nickte ein paarmal. Robert sah dem rollenden Wagen eine ganze Weile nach. Die habe ich doch ganz bestimmt nicht umgebracht, sagte er dann zu sich, und unwillkürlich sah er ringsum, ob irgendwer in der Nähe wäre, ein Zeuge für alle Fälle, der sie in den Wagen hatte steigen und davonfahren sehen. Dann lachte er und schüttelte die töricht-zudringlichen Gedanken von sich ab. Vielleicht schreibe ich ihr doch einmal, dachte er; und durch die nächtlichen Straßen nahm er langsam den Weg zurück nach seinem Gasthof.

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