Ferienstudien am Seestrande/Weiber und Männlein

Textdaten
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Autor: Carl Vogt
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Titel: Ferienstudien am Seestrande - Weiber und Männlein
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 5, 6, S. 79–80, 82, 94–96
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Ferienstudien am Seestrande.

Von Carl Vogt.
Weiber und Männlein.

Wir sind durch den Anblick unserer eigenen Gattung sowie der uns näher stehenden Säugethiere und Vögel, besonders unserer Hausthiere, so sehr daran gewöhnt, das männliche Geschlecht als das stärkere, größere, ja selbst in bestimmter Richtung weiter ausgebildete anzusehen, daß, wir uns nur schwer mit Thatsachen befreunden können, welche uns ein umgekehrtes Verhältniß vor Augen führen.

Das Weibchen der grünen Bonellie in halber Größe.

Der neugeborene Knabe wiegt etwas schwerer, ist etwas länger, als das neugeborene Mädchen (es kann hier natürlich nur von Mittelzahlen, aus Tausenden von Wägungen und Messungen entnommen, die Rede sein), und dieses Verhältniß erhält sich das ganze Leben hindurch. Unsere Hausthiere weichen von dieser für den Menschen geltenden Regel nicht ab, ich brauche nur an Stier und Kuh, Hengst und Stute, Bock und Ziege, Hund und Hündin, Kater und Katze, Hahn und Henne zu erinnern. Werfen wir den Blick auf die Thiere des Waldes und Feldes, findet auch hier das Gesetz, das wir uns aus der nächsten Umgebung abgeleitet haben, in den meisten Fällen seine Anwendung, bei Hirsch, Reh, Hase und Wildschwein, wie bei Fasanen, Auerwild und Enten. Doch fällt uns hier schon eine Ausnahme auf: die männliche Raubvögel sind stets kleiner, schwächer, wenn auch meist intensiver gefärbt, als die Weibchen. Die meisten Lehrbücher der Naturgeschichte fassen in der That dies Verhältniß als eine Ausnahme auf, und der Leser denkt gutmüthig: Ja, ja! Ausnahmen bestätigen die Regel.

Wir können noch weiter gehen. Es ist unleugbar, daß in allen angeführten Fällen das weibliche Geschlecht eine größere Aehnlichkeit mit den Jugendformen hat, als das männliche. Am leichtesten läßt sich dies in der Befiederung, der Farbe und Zeichnung der meisten Vögel nachweisen, aber auch genauere Untersuchung des inneren Baues führt zu demselben Resultate. Die weibliche Schädelbildung ähnelt der kindlichen; die meisten Organe zeigen bei dem weiblichen Geschlechte, wenn es dem männlichen gegenüber gestellt wird, ein mehr oder minder auffälliges Stehenbleiben auf der Stufe des Jugendalters. Ich will gern zugeben, daß die Weiterentwickelung des männlichen Geschlechtes eine einseitige ist, daß sie namentlich in den Charakteren hervortritt, welche mit der größeren Ausbildung der Muskelkraft, der Bewaffnung zu Schutz und Trutz in Verbindung stehen; aber trotz der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter, deren Anhänger ich bis zu einem gewissen Grade bin, ist diese weitere Entwickelung des männlichen Geschlechtes thatsächlich vorhanden.

Wie aber, wenn das Verhältniß sich umkehrte, wenn die Ausnahme, welche die Raubvögel bieten, nicht nur Regel würde, sondern sogar sich ins Ungeheuerliche aufbauschte in solcher Weise, daß das Weib eine Riesin würde gegenüber dem zwerghaften Manne, und daß letzterer nachweisbar auf einer niedrigen Stufe der Entwickelung stehen bliebe, während das Weib von der Larvenform, die dem Männlein zeitlebens erhalten bleibt, weiter fortschritte zu höheren Stufen der Ausbildung?

Das Männchen der grünen Bonellie, etwa fünfzigfach vergrößert.

Solche Vorkommnisse sind nicht selten.

„Was für Streiche machen Sie uns!“ sagte mir lachend Herr Faye, der berühmte Astronom in Paris, als ich ihn in der Sitzung der Akademie der Wissenschaften begrüßte. „Sie unterminiren die Suprematie des männlichen Geschlechts, auf der alle unsere socialen Einrichtungen beruhen!“

„Ich wüßte nicht! Woraus schließen Sie das?“ fragte ich zurück.

„Freilich,“ antwortete er. „Ich komme eben von Cette, wohin mich mein Amt als Generalinspektor der höheren Schulen rief. Man hat mir dort in der zoologischen Station Zeichen und Wunder von einem Wurme erzählt, den Sie entdeckt hätten und dessen mehrere Fuß langes Weibchen seine mikroskopisch kleinen Männchen in einer Tasche mit sich herumtrüge. Was wird da aus unserer Ueberlegenheit? Wie nennen Sie die Bestie? Warum haben Sie der Akademie noch keine Mittheilung von einer so unerhörten Beobachtung gemacht?“

„Ganz einfach, lieber Freund, weil ich nichts entdeckt habe; weil die Sache längst bekannt ist, weil Ihr Kollege Lacaze Duthiers schon vor Jahren eine mustergültige Anatomie des Weibchens veröffentlicht hat, und weil ich weiter nichts gethan habe, als den Wurm aus den Händen des Fischers, der ihn freilich nicht kannte und zum ersten Male gefunden hatte, in Empfang zu nehmen und den gerade anwesenden Studenten zu demonstriren.“

„Sie sprechen nur vom Weibchen. Hat Lacaze auch das Männchen untersucht?“

„Nein! Gesehen hat er es wohl, aber für ein schmarotzendes Eingeweidewürmchen gehalten. Seine wahre Natur hat er nicht erkannt.“

„Merkwürdig!“

[80] „Aber doch leicht erklärlich,“ fiel ich ein. „Als Lacaze seine Monographie ausarbeitete, konnte ihm der Gedanke gar nicht aufkommen, daß er ein verkümmertes, in seinem äußeren und inneren Bau von dem Weibchen gänzlich verschiedenes Männchen vor sich habe. Um so weniger, als er diese Würmchen in dem Schlunde der Weibchen fand. Man kannte damals und noch lange nachher nur einige wenige Beispiele von Zwergmännchen bei an Fischen schmarotzenden Krustenthierchen und war durchaus in der Anschauung befangen, daß sie nur bei diesen vorkommen könnten. Dies ging soweit, daß man glaubte, die Räderthierchen, bei welchen ebenfalls solche verkümmerte Männchen vorkommen, mit aus diesem Grunde für Krustenthierchen halten zu müssen. Ich habe manchen scharfen Widerspruch von gewiegten Forschern erfahren müssen, als ich dieser Meinung entgegentrat. Jetzt rechnet Jedermann mit mir die Räderthierchen zu den Würmern.“

„Was Sie nicht sagen!“

„Wir stehen, trotz allen Strebens nach Selbständigkeit, doch immer mitten in den Anschauungen unserer Zeit und folgen oft unbewußt den Strömungen, die sie erzeugt.“

„Sehr wahr! Aber, um auf unseren Wurm zurückzukommen, wie nennen Sie ihn?“

„Die grüne Bonellie (Bonellia viridis). Mit diesem Namen hat ihn ein italienischer Naturforscher, Rolando, schon im Jahre 1822 zu Ehren eines anderen Forschers, Bonelli, getauft.“

„Kommen Sie,“ sagte Faye, „Sie müssen mir das Thier näher erklären und zeichnen, denn ich kann mir keine rechte Vorstellung davon machen!“

Ich entwarf aus dem Gedächtniß einige freilich sehr unvollkommene Skizzen mit der Feder auf ein Blatt Papier und erläuterte sie, so gut ich konnte.

Die weibliche Bonellie ist ein stattlicher Wurm von sehr sonderbarer Gestalt und tief saftgrüner Farbe. An dem sackartigen dicken Körper, der seine Form durch unaufhörliche Zusammenziehungen und Ausdehnungen beständig ändert, aber in der Ruhe etwa einer unreifen Citrone ähnlich sieht, sitzt ein Rüssel, der sich an seinem Ende in zwei blattartige Lappen gabelt. Mit dem dicken Körper gräbt sich der Wurm in festeren Schlamm, in Sand, ja selbst in die Höhlungen weicher Kalksteine oder in die Lücken zwischen den so häufigen Kalk-Algen ein und mit dem Rüssel tastet er auf dem Meeresgrunde umher.

Der Rüssel windet sich dabei wie eine Schlange hin und her und zieht oft den Körper, der durch seine Kontraktionen nachhilft, langsam hinter sich her. Die Ausdehnbarkeit des Rüssels streift an das Unglaubliche. Große Bonellien, deren Körper 5 bis 6 Centimeter in der Länge mißt, können den Rüssel fast bis zu einem Meter ausdehnen und dann wieder so zusammenziehen, daß die beiden Flügelblätter des Endes fast stiellos an dem Körper anzusitzen scheinen. In Neapel habe ich mich oft an dem Spiele dieses Organes ergötzt, während ich die Würmer in meinen Aquarien lebend erhielt. Die Thiere tasteten damit offenbar den ganzen Bodenraum des geräumigen Beckens aus, das mit strömendem Seewasser gespeist war und worin sie sich lange am Leben erhielten. Wie es scheint, findet sich die Bonellie nur an sehr vereinzelten Punkten in geringer Tiefe über die Küsten des Mittelmeeres zerstreut. Lacaze fand sie im Hafen von Mahon auf den balearischen Inseln; dem alten Fischer der zoologischen Station in Cette, der seit Jahren den Grund des Etang de Thau nach Clovisses, den in der Provence beliebten eßbaren Muscheln, durchkratzt, war der Wurm ganz unbekannt geblieben, bis er ihn zufällig auffand. Da er sich aber die Stelle gemerkt hatte, fand er dort später noch einige Exemplare. In dem Busen von Neapel war seit langer Zeit nur ein einziges Exemplar vorgefunden und erst nach angestrengtem, mehrere Jahre hindurch fortgesetztem Suchen wurden einige Stellen auf den sogenannten Secca’s (erhabene Felsrücken) entdeckt, wo man fast sicher mit dem Schleppnetze einige, freilich meist ihres Rüssels beraubte Bonellien heraufbringt. Aehnlich verhält sich das Vorkommen in der Nähe von Marseille und Triest. So mögen im Mittelmeere noch manche beschränkte Fundstellen existiren, die der Zufall entdecken lassen wird.

Sehen wir uns nun das Thier etwas näher an. Die beiden Lappen des Rüssels sind platte Ausbreitungen, an ihrem inneren Rande wellenförmig eingekerbt; der Rüsselstiel ist ebenfalls abgeplattet, wie ein in der Mittellinie dickeres Bändchen; seine Ränder aber schlagen sich nach innen ein, um so eine Rinne zu bilden, die mit in steter Bewegung befindlichen Flimmerhaaren ausgekleidet ist und an dem Körper in der engen, trichterförmigen Mundöffnung endet. Die Wimperhaare erzeugen einen beständigen Strom, der kleine Körperchen, Zellen von Algen, Infusionsthierchen etc. zu dem Munde hinführt. Der Darm dreht sich von diesem Munde aus in doppelter Spiralwindung durch die geräumige Leibeshöhle, um endlich an dem Hinterende des Thieres in den After auszumünden, an welchem innen sonderbare Büschel von Organen sitzen, die mit bewimperten Trichtern in die Leibeshöhle sich öffnen und dieser wohl Seewasser zuführen mögen. Der saftgrüne Farbstoff des mit Wärzchen dicht besetzten Körpers sitzt großentheils in der Oberhaut und löst sich leicht ab. Die Haut selbst ist dicht und fest.

Das Nervensystem besteht aus einer auf der Mittellinie der inneren Bauchfläche gelegenen Ganglienkette, die eine weite Schlinge in den Rüssel sendet. Von Sinnesorganen, außer mikroskopischen Tastorganen, keine Spur; weder Augen, noch Ohrbläschen. Ebenso wenig finden sich Athemorgane, wenn man nicht die an dem Mastdarme sitzenden Wimperbüschel dafür halten will. Blutgefäße sind vorhanden; sie treiben das farblose Blut durch wellenförmige Zusammenziehungen um. Der eigenthümlich gebildete Eierstock liegt neben dem Nervenstrang und dem Hauptblutgefäße in den Windungen des Darmes verborgen. Die reifen Eier lösen sich los, fallen in die Leibeshöhle, werden dort einige Zeit hindurch umgetrieben und dann von einem mit einer weiten Trichtermündung versehenen Eibehälter aufgenommen, der sich unter dem Munde nach außen durch einen kleinen Schlitz öffnet. In diesem Eibehälter nun leben die reifen Männchen als wahre Schmarotzerthiere. Sie befruchten die Eier, welche dann nach außen entleert werden. Die Jungen, welche sich in diesen Eiern bilden, durchlaufen, frei im Meere schwimmend, eine Reihe von Metamorphosen, bevor sie ihre definitive Gestalt erhalten, in welcher sie zum Schwimmen unfähig sind und nur in der beschriebenen Weise auf dem Grunde langsam umherkriechen können. Der Rüssel mit den Endlappen bildet sich bei den weiblichen Larven erst ganz zuletzt aus; anfänglich haben dieselben einen eiförmigen, etwas in die Länge gezogenen Körper, der von zwei Wimperreifen umgeben ist und an dem abgerundeten Kopfende zwei Augen trägt.

Das ist in Kurzem der Bau und die Geschichte des Weibchens, wie sie Spengel uns kennen gelehrt hat. In den meisten Punkten schließt sich die Bonellie eng an eine kleine Gruppe von Würmern an, welche man die Sternwürmer oder Gephyreen genannt hat.

Aber das Männchen?

Ich hätte gerne, um das Verhältniß in Beziehung auf die Größe recht deutlich hervortreten zu lassen, neben die in halber natürlicher Größe ausgeführte Zeichnung des Weibchens ein in gleichem Maßstabe gezeichnetes Bild des Männchens gestellt. Es war nicht möglich, denn ein solches Bild wäre nicht einmal so lang geworden, wie ein Komma des Druckes der „Gartenlaube“, und mit Kommas hat man überhaupt in den jetzigen Cholerazeiten nicht gerne zu thun. Das Männchen erreicht in der That höchstens die Länge von einem Millimeter; es ist sechshundertmal bis eintausendmal kleiner als das Weibchen! Meist findet sich ein halbes Dutzend etwa dieser kleinen, wie ein gelbliches Würmchen aussehenden Männchen vor, die mittelst eines allgemeinen Flimmerüberzuges, wie ihn viele Infusorien und die Strudelwürmer besitzen, munter in der Flüssigkeit umherschwimmen, welche den Schlund erfüllt oder die in dem Eibehälter angehäuften Eier umspült. Es gehört gewiß nicht zu den geringsten Verdiensten Kowalewski’s, des ausgezeichneten russischen Forschers, daß er, wenn ich nicht irre, im Jahre 1873 in diesen schmarotzenden Strudelwürmchen ähnlichen Wesen die Männchen des sie beherbergenden Kolosses erkannte, die später von Vejdowski, Marion, Selenka und Spengel noch näher untersucht wurden. Man hat bis zu vierzig dieser Thierchen in dem Eibehälter gesehen – ich muß gestehen, daß ich nie mehr als acht darin gefunden habe.

Man kennt jetzt die Anatomie und Entwickelungsgeschichte dieser Zwerge ziemlich vollständig. Sie haben etwa die Gestalt einer Rübe mit abgerundetem Vorder-Ende und zugespitztem Schwanze. Durch den Besitz eines allgemeinen Wimperüberzuges ähneln sie freilich den Strudelwürmern; im Uebrigen aber zeigt ihr Bau die Grundzüge der Organisation des Weibchens, wenn auch mit bedeutenden Verschiedenheiten in der Ausführung. Die [82] Haut, die Muskeln, das Nervensystem, die Fortpflanzungsorgane verhalten sich in entsprechender Weise, der Darm dagegen zeigt sich wesentlich verschieden; es ist ein gerades, mit öliger Flüssigkeit gefülltes, oben und unten geschlossenes Rohr ohne Mund und After. Das Würmchen nährt sich nur durch Austausch und Aufsaugung der Flüssigkeit, in welcher es schwimmt, ähnlich wie der Bandwurm, bei welchem sogar jede Spur eines Darmkanals verschwunden ist. Man kann sagen, daß die meisten Eigenthümlichkeiten, durch welche der Bau des winzigen Männchens von demjenigen des riesigen Weibchens sich unterscheidet, einerseits auf Erhaltung von Charakteren des Jugendzustandes, der Larve beruhen, wie z. B. das Fehlen des Rüssels, andrerseits und großentheils aber Wirkungen des Schmarotzerthums sind, in welchem das Männchen die größte Zeit seines wahrscheinlich kurzen Lebens verbringt. Es schwimmt nur kurze Zeit als Larve umher; dann heftet es sich an die Außenseite des Rüssels der älteren, reifen Weibchen an dessen Wurzel an und gleitet von dort aus in den Eibehälter, nachdem es längere Zeit in dem Munde und Schlunde des Weibchens sich aufgehalten und dort seine letzten Metamorphosen überstanden hat. Successive und fortschreitende Rückbildung der meisten Organe, einseitige Ausbildung der Fortpflanzungsapparate sind die gewöhnlichen Folgen des Schmarotzerthums, und wir sehen diese auch bei dem Männchen der grünen Bonellie deutlich ausgeprägt.

[94] Bei keinem Thiere ist, soviel ich weiß, das Mißverhältniß zwischen beiden Geschlechtern so weit ausgebildet, wie bei der Bonellie, bei keinem zeigen sich so durchgreifende Unterschiede im äußeren und inneren Bau. Man findet zwar, wie schon erwähnt, bei an Fischen und anderen Wasserbewohnern schmarotzenden Krustenthieren häufig solche Zwergmännchen, aber das Mißverhältniß in der Größe ist nicht so bedeutend, und diese immer auf der Außenfläche des Weibchens angehefteten Männchen lassen stets im Bau ihrer Füße und Glieder ihre Natur als Krustenthiere auf den ersten Blick erkennen. Mehr nähert sich das Verhältniß der winzigen Männchen der Räderthiere zu ihren Weibchen dem der Bonellien, auch diesen fehlt meist der Darmkanal oder ist nur in seinen Rudimenten zu erkennen, aber diese Räderthiermännchen haben doch das charakteristische Räderorgan, das Nervensystem, sowie eigenthümliche innere Organe in Uebereinstimmung mit ihren Weibchen, und jeder Beobachter, dem sie aufstoßen, muß sie auf den ersten Blick in das Mikroskop als Räderthierchen erkennen, während es bei den Bonellienmännchen eines eingehenden Studiums bedurfte, wie Spengel es durchgeführt hat, um die Uebereinstimmung im Bauplane festzustellen. Noch auffallender aber ist der Umstand, daß die Bonellien in dieser Hinsicht durchaus isolirt dastehen in der Gruppe der Sternwürmer. Bei allen übrigen Gephyreen, soweit sie bis jetzt bekannt sind, unterscheiden sich die Männchen in keiner Hinsicht von den Weibchen; erst durch die mikroskopische Untersuchung der inneren Organe kann man die Geschlechter unterscheiden. Nirgends findet sich bei den übrigen Gattungen der Gruppe auch nur eine leise Andeutung, die zu dem bei den Bonellien obwaltenden Mißverhältnisse hinleiten könnte.

Wir müssen auch offen bekennen, daß wir in den Existenzbedingungen, welchen sich diese Thiere angepaßt haben, keine [95] Erklärung dieser auffallenden Thatsache finden können. Die meisten Sternwürmer leben in ähnlicher, wenn auch etwas verschiedener Weise wie die Bonellien am Grunde des Meeres in Sand oder Schlamm, in welchem sie sich mühsam umher bewegen und den die meisten verschlingen, um die darin enthaltenen kleinen Organismen zu verdauen; in ähnlicher Weise leben Tausende von Wurmarten, bei welchen kein grelles Mißverhältniß zwischen den beiden Geschlechtern obwaltet. Wir stehen hier vor einem noch ungelösten Räthsel, in welches auch die allgemeinen Betrachtungen, die wir aus den Beziehungen der beiden Geschlechter zu einander ableiten können, kein Licht zu werfen vermögen.

Suchen wir nach einer allgemeinen Ursache des Mißverhältnisses der beiden Geschlechter, so tritt uns wohl in erster Linie ein rein mechanisches Moment entgegen.

Betrachten wir zunächst das Weibchen. Fast alle Eier enthalten, außer dem ersten Bildungsmateriale des Embryos noch eine mehr oder minder bedeutende Beigabe von Nahrungsmaterial, das nach und nach zu dem Aufbau und Ausbau des Körpers des Jungen benutzt wird. Diese Beigabe, die in dem Hühnerei z. B. den gelben Dotter bildet, kann sehr bedeutend sein, je nachdem das Junge in mehr oder minder ausgebildetem Zustande das Ei verläßt. Sind die Eier ursprünglich fast verschwindend klein, wie z. B. bei den Säugethieren, so wachsen sie in dem mütterlichen Organismus während der Entwickelung des Jungen zu beträchtlicher Größe an. Die Eier, welches auch ihre weitere Entwickelung sein möge, fallen demnach unter allen Umständen in das Gewicht; der weibliche Organismus muß, während einer bestimmten Zeit, eine schwerere Bürde mit sich herumschleppen, als der männliche. Dazu kommt noch, daß in vielen Fällen die Zahl der Eier sich fast in das Unendliche vermehrt. Diese Vermehrung findet nachgewiesener Maßen in umgekehrtem Verhältniß zu der Wahrscheinlichkeit statt, welche die Fortdauer der Art bietet. Ein Thier, dessen Brut vielfachen Zufälligkeiten ausgesetzt ist, in welchen dieselbe zu Grunde gehen kann, wird und muß mehr Eier und Junge produciren, als ein anderes, dessen Nachkommen vor solchen Zufälligkeiten geschützt sind. Mäuse und Kaninchen pflanzen sich fast das ganze Jahr hindurch fort und jeder Wurf bringt eine bedeutende Zahl von Jungen, während der Elefant nur in längeren Zwischenräumen ein Junges erzeugt. Bei manchen Thieren geht das in das Ungeheuerliche – ein Bandwurmkopf muß Tausende von Gliedern, die Millionen Eier enthalten, erzeugen, damit nur einige derselben die Wanderungen, welche sie von dem Körper des Schweines zu dem Darmkanale des Menschen bestehen müssen, ungehindert überstehen. Aber alles dieses fällt als Masse in das Gewicht, und dieses Gewicht muß getragen werden.

Ist es nun zu verwundern, wenn wir zu dem Schlusse kommen, daß der weibliche Organismus, wenn nicht andere Bedingungen einwirken, größer und kräftiger sein müsse, als der männliche? Offenbar ist das Mißverhältniß zu Ungunsten des Männchens das ursprüngliche, gesetzmäßige Verhältniß, und in der That sehen wir es auch bei den meisten niederen Thieren obwaltend.

Durch welche Ursachen kann nun dieses ursprüngliche Verhältniß ausgeglichen und sogar umgekehrt werden?

Gehen wir, um uns davon Rechenschaft ablegen zu können, von den soeben angedeuteten mechanischen Momenten aus.

Der weibliche Organismns producirt mehr Stoff zur Fortpflanzung, als der männliche, und dieser Stoff fällt mehr in das Gewicht. Bei sonst gleichen Existenzbedingungen wird also der weibliche Organismus um so weniger Stoff zur Ausbildung seiner übrigen Organe zur Verfügung haben; er wird, bei vergrößertem Gewichte seines Körpers, mehr Kraft zur Bewegung desselben aufwenden müssen, als der männliche. Er wird träger, unbeholfener sein und als natürliche Folge die Tendenz zur Ruhe, zum Festsitzen bis zu fast vollständiger Unbeweglichkeit ausbilden.

So sehen wir denn auch wohl allgemein in der Thierwelt das männliche Element als das beweglichere, suchende. Es ist ursprünglich leichter, bildet seine Bewegungsorgane, seine Sinnesorgane, die ihm zum Aufsuchen der träge in Ruhe sitzenden oder selbst am Boden haftenden Weibchen dienen, besser aus. Wir haben Tausende von Beispielen, welche dies belegen; ich will nur an die träge stillsitzenden oder selbst der Flügel beraubten Weibchen vieler Schmetterlinge erinnern, deren Männchen lustig umherschwärmen und durch ihre besser ausgebildeten Sinnesorgane die sich bergenden Weibchen zu finden wissen.

Aus der weiteren Entwickelung dieser Tendenz mag sich denn auch die Thatsache erklären, daß viele Männchen nur eine sehr kurze Lebensdauer den Weibchen gegenüber besitzen – sie gehen zu Grunde, sobald sie den Zweck ihrer Existenz, die Befruchtung der Eier, erfüllt haben. Auf diese Weise mag sich die Zwergennatur so vieler Männchen erklären, die immerhin beweglicher, als die Weibchen, in der Nähe derselben umherschwärmen, auf den festsitzenden umherkriechen und schließlich bei den ihnen zugetheilten Kolossen Schutz und selbst Nahrung suchen. Das verhältnißmäßig riesige Weibchen sitzt dann fest an einem anderen Thiere als Schmarotzer oder an dem Boden, das Männchen sucht in seinem Mantel Schutz und klammert sich schließlich an dasselbe an, schlüpft sogar in seine inneren Organe, um dort endgültig zu verweilen. Dadurch wird denn auch wieder seine Beweglichkeit verringert; die Schwimmfüße wandeln sich zu Klammern, Haken etc. um.

Die größere Beweglichkeit des Männchens kann aber, bei weiterer Ausbildung in abweichender Richtung, besonders dann zu dem entgegengesetzten Resultate führen, wenn sie mit einem anderen Momente, nämlich mit der Brutpflege im weitesten Sinne in Verbindung tritt.

In den meisten Fällen ist das Weibchen mit der direkten Brutpflege betraut. Es besitzt besondere Organbehälter, Säcke, Glieder, in oder an welchen die Eier, die es mit sich trägt, sich weiter entwickeln. Ich will nur, um bekannte Beispiele anzuführen, an die Eier unter dem Schwanze der Krebse erinnern, welche an eigenthümlich modificirten Beinen befestigt sind, oder an die Eisäcke, welche viele Spinnen mit sich umherschleppen.

Wir kennen nur wenige Fälle, wo die Männchen mit solcher direkten Brutpflege sich befassen. Die Männchen der niedlichen Seepferdchen (Hippocampus), die man in jedem Aquarium sehen kann, füllen einen Beutel, den sie am Körper haben, mit den befruchteten Eiern an und tragen dieselben schwimmend herum, bis die Jungen ausschlüpfen. Dem mechanischen Gesetze entsprechend, sind diese Männchen größer als die Weibchen. Im See Tiberias in Galiläa hat Professor Cortet von Lyon einen Fisch, eine Chromis-Art, entdeckt, die er den „Familienvater“ (Chromis pater familias) genannt hat und deren Männchen eine weit ausgedehnte Rachen- und Kiemenhöhle besitzt. Das Männchen schluckt die befruchteten Eier ein und trägt sie im Maule, ohne Nahrung zu nehmen, so lange herum, bis die Jungen ausschlüpfen. Wenn das Männchen der Geburtshelferkröte (Alytes obstetricans) kleiner ist, als das Weibchen, so liegt der Grund offenbar darin, daß bei dessen Brutpflege das mechanische Element nicht in Betracht kommt. Das Männchen umwickelt sich die Schenkel mit der vom Weibchen erzeugten Eierschnur und vergräbt sich mit dieser Bürde tief in den Lehm, worin es bewegungslos und ohne Nahrung zu nehmen, verharrt, bis die Jungen ausschlüpfen. Ich habe Männchen besessen, welche sich die Eier so fest um die Beine gewickelt hatten, daß diese brandig wurden und abstarben.

Wenn aber die direkte Brutpflege durch die Männchen in der Thierwelt selten vorkommt, so findet man die indirekte um so häufiger und namentlich bei Wirbelthieren. In Folge seiner größeren Beweglichkeit und Sinnesschärfe wird das Männchen der Schützer und Vertheidiger der Brut, der Hüter und Beschirmer der Familie.

Schon bei Fischen finden wir zahlreiche Erscheinungen, die in diese Kategorie gehören. Wer kennt nicht aus vielen populären Schilderungen das Gebahren des Stichlings, der aus Wasserpflanzen ein Nest baut, in welches das Weibchen seine Eier legt, die das Männchen nachher bewacht und mit mannhaftem Muthe gegen Feinde aller Art vertheidigt? Mit gesträubten Stacheln und offenem Rachen fährt es nicht nur gegen andere Stichlinge, sondern auch gegen viel größere Fische los, die sich dem Neste nähern, und hütet sogar noch längere Zeit die ausgeschlüpfte Brut, wie ein Schäferhund seine ihm anvertraute Heerde. Schmiedlein erzählt nach Beobachtungen, die er in dem so reichen und sehenswerthen Aquarium der zoologischen Station in Neapel gemacht, Aehnliches von gewissen Meergrundeln (Gobius). Das Männchen vertheidigte siegreich während mehrerer Tage die von dem Weibchen an einen Felsen geklebten Eier gegen gefräßige Junker-Fische (Julis), die wenigstens doppelt so groß waren, als es selber; die listigen Angreifer theilten sich in zwei Haufen und während das Männchen grimmig gegen die nächsten losstürmte und sie in die Flucht schlug, fiel der andere Haufen über die Eier her und verschlang sie.

[96] Streit und Kampf! Hier mit den Rivalen um den Besitz der Weibchen, dort mit den Feinden für den Schutz der Familie und der Nachkommenschaft!

Wer aber dies sagt, deutet zugleich auf die nothwendige Folge, auf die stete Ausbildung der Angriffs- und Vertheidigungswaffen, auf die Erhöhung der Muskelkraft und der Energie des ganzen Organismus hin. Und so sehen wir mit der Ausbildung des Brut- und Familienschutzes das Männchen kräftiger, größer, gewaltiger werden; wir sehen, wie sich die Sporen der Hähne, die Geweihe der Hirsche, die Hörner der Stiere, die Eckzähne der Affen und Raubthiere, die Hauer der Schweine stärker entwickeln beim Männchen als beim Weibchen und wie in Uebereinstimmung mit dieser Ausbildung der Waffen der ganze Organismus kräftiger und stärker wird, sodaß schließlich das ursprüngliche Verhältniß zwischen beiden Geschlechtern sich umkehrt und sich in der Weise gestaltet, wie wir es bei der Menschengattung und den uns besser bekannten Säugethieren und Vögeln hergestellt sehen.

Ich konnte hier nur Andeutungen geben, die vielleicht manchen Leser zu weiterem Nachdenken veranlassen werden. Ein weites Feld für fernere Beobachtungen steht hier noch offen. Unsere heutige Naturforschung verlangt nicht nur Thatsachen, sondern auch die Verknüpfung derselben zur Erfassung der Gesetze, aus welchen die Thatsachen hervorgehen.