Fürst Bismarck gegen den Universitätsprofessor Dr. Theodor Mommsen

Textdaten
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Autor: Hugo Friedländer
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Titel: Fürst Bismarck gegen den Universitätsprofessor Dr. Theodor Mommsen
Untertitel:
aus: Interessante Kriminal-Prozesse von kulturhistorischer Bedeutung, Band 8, Seite 28–42
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1913
Verlag: Hermann Barsdorf
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Erscheinungsort: Berlin
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Quelle: Google-USA*, Commons
Kurzbeschreibung:
siehe auch Otto von Bismarck und Theodor Mommsen
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Fürst Bismarck gegen den Universitätsprofessor Dr. Theodor Mommsen.

Im Herbst 1881 fanden zum ersten Male die Reichstagswahlen unter dem Sozialistengesetz statt. 1879 hatte in Deutschland die Aera der Schutzzollpolitik eingesetzt. Die Wahlbewegung war infolgedessen im Jahre 1881 eine sehr erregte. Ganz besonders lebhaft war der Wahlkampf in Groß-Berlin, zumal die neuerstandene antisemitische Partei zum ersten Male in die Wahlbewegung eingriff. Auch die Männer der Wissenschaft, wie die Professoren DDr. Adolf Wagner und Theodor Mommsen waren vom Olymp in die Arena des Wahlkampfes herabgestiegen. Professor Dr. Theodor Mommsen hatte am 24. September 1881 in einer zu Tempelhof bei Berlin stattgefundenen liberalen Wählerversammlung zugunsten des dort aufgestellten liberalen Kandidaten, Fabrikbesitzers Wöllmer eine Rede gehalten und in dieser u. a. geäußert: „Es gilt jetzt, daß alle liberalen Parteien fest zusammenstehen gegen die Propheten der neuen Wirtschaftspolitik, die eine Politik der gemeinsten Interessen, warum soll ich es nicht sagen, eine Politik des Schwindels ist. Ja, meine Herren, es ist und bleibt dies eine Schwindelpolitik, gleichviel ob sie von einem hoch oder niedrig gestellten Manne in die Hand genommen wird.“ Durch diese Äußerung fühlte sich Fürst Bismarck beleidigt und stellte gegen Mommsen Strafantrag. Infolgedessen hatte sich der weltberühmte Historiker Professor Dr. Mommsen am 15. Juni 1882 vor der ersten Strafkammer des Landgerichts Berlin II zu verantworten. Den Gerichtshof bildeten Landgerichtsdirektor Neumann (Vorsitzender) und die Landgerichtsräte Herzog, Humbert, Meißner und Gerichtsassessor Dr. Lössar (Beisitzende). Die Anklage vertrat Staatsanwalt Dr. Menge, jetzt Reichsgerichtssenatspräsident in Leipzig. Die Verteidigung führte Justizrat Makower. Der damals 65jährige Angeklagte, Professor an der hiesigen Universität, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, Abgeordneter Dr. Theodor Mommsen antwortete auf die Frage des Vorsitzenden, ob er sich der Beleidigung des Fürsten Bismarck schuldig bekenne: Ich wiederhole hier, was ich schon im Vorverfahren gesagt, daß dieser Passus sich nicht auf den Fürsten Reichskanzler bezieht. Ich ersuche gleichzeitig den Herrn Präsidenten, da Fürst Bismarck mich, ich darf wohl sagen der Auszeichnung gewürdigt hat, wegen dieser Rede noch vor dem gerichtlichen Verfahren im Reichstage anzugreifen, auch meine Rede, die ich in Erwiderung jener Angriffe am 15. oder 16. Dezember im Reichstage gehalten habe, zu verlesen. – Der Staatsanwalt widersprach dem Antrage. – Verteidiger Justizrat Makower: Ich beantrage, nicht nur die Reichstagsrede des Herrn Angeklagten, sondern auch die Rede des Fürsten Bismarck, des Ministers v. Puttkammer und einen Artikel der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ zur Verlesung zu bringen. – Der Gerichtshof lehnte die Vorlesung der Rede des Fürsten Bismarck und des Artikels der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung“ ab, beschloß dagegen die Rede des Ministers v. Puttkamer und die Antwort des Angeklagten in der Reichstagssitzung vom 15. Dezember 1881 zu verlesen. Danach hatte Prof. Dr. Mommsen im Reichstage erklärt: Die Ansicht des Ministers v. Puttkammer, die Wirtschaftspolitik der neuen Propheten sei auf die Regierung, bzw. auf die Minister gemünzt, ist eine irrige. Mit den neuen Propheten habe ich in erster Reihe die Professoren und Akademiker in und außerhalb des Parlaments gemeint, die sich mit Nationalökonomie beschäftigen. Der Ausdruck: „die Politik des Schwindels“ bezieht sich auf die moderne nationalökonomische Volksbeglückung. – Es nahm alsdann das Wort Staatsanwalt Dr. Menge: Als bekannt wurde, daß die Staatsanwaltschaft beschlossen habe, gegen Professor Mommsen die Strafprozedur zu eröffnen, da ging ein Schrei der Entrüstung durch die Presse, daß man es wage, einen so berühmten und hochgelehrten Mann, die Zierde der Berliner Universität, auf die Anklagebank zu bringen. Sehr auffällig ist aber, daß dabei in der ganzen Presse kein Wort des Bedauerns darüber laut wurde, daß ein solcher Mann mit solchem europäischen Ruf, wie der Angeklagte, eine Rede halten konnte, die die Staatsanwaltschaft zwingen mußte, die gerichtliche Prozedur zu eröffnen. Diese Erscheinung deutet darauf hin, daß der Presse und ihren Vertretern in dem Parteihader und Parteigetriebe das Rechtsgefühl abhanden gekommen ist, daß sie auf der einen Seite ein übertriebenes nervöses Ehrgefühl behauptet und auf der anderen Seite kein Gefühl von der Rücksicht mehr hat, die man einem anderen Menschen schuldig ist. Wunderbar und bedauerlich muß es erscheinen, daß ein Mann wie Prof. Mommsen, der mehr als ein anderer über das ganze Handwerkszeug einer ruhigen und sachlichen Kritik gebietet, sich so weit vergessen konnte, eine solche Rede voll Maßlosigkeiten und einer großen Dürftigkeit des Inhalts zu halten. Wenn Professor Mommsen eine ganze ehrenwerte Partei mit dem Prädikat „eine Partei der Branntweinbrenner und Kornspekulanten“ belegt, so zeigt er damit sicher, daß auch er mehr, als es seinem Rufe förderlich ist, sich von dem Parteihader hat hinreißen lassen. – Was diese Rede im Speziellen betrifft, so ist gar kein Zweifel, daß sie im höchsten Maße beleidigend ist, es fragt sich nur, wer beleidigt ist. Minister v. Puttkamer hielt die Regierung für beleidigt, während der Angeklagte meint, es seien damit seine Kollegen, die die neue Wirtschaftspolitik vertreten, gemeint. Ich bin der Ansicht, daß Minister v. Puttkamer, wenn ihm der Wortlaut der Rede vorgelegen haben würde, ohne weiteres den Fürsten Reichskanzler als den Beleidigten bezeichnet hätte. Der Passus, daß diese Wirtschaftspolitik „eine Politik des Schwindels sei, wenn sie auch der höchste Mann in die Hand nehme“, geht ohne Zweifel auf den Fürsten Bismarck, wenn auch zuzugeben ist, daß es neben dem Reichskanzler noch andere bedeutende Männer und noch einen Höheren im Staate gibt. Der Eindruck, welchen diese Rede bei der Zuhörerschaft hat erregen müssen, kann gar nicht zweifelhaft sein. Es entspricht dieser Angriff auf den Fürsten Bismarck auch ganz den Neigungen des Angeklagten, denn das ceterum censeo in seinen verschiedensten Reden und Briefen geht immer dahin: Das Bürgertum müsse kämpfen gegen den Mann, der keinen anderen gegen sich dulde. Wenn man solche Extravaganzen gerichtlich verfolgt, so tut man dem politischen freien Gedankenaustausch keineswegs Zwang an, denn solche direkten beleidigenden Worte dürfen in der politischen Diskussion nicht gestattet werden. Der Abg. Wöllmer hat gerade in jener Versammlung bewiesen, wie gut es möglich ist, eine scharfe Kritik zu üben, ohne die parlamentarischen Grenzen zu überschreiten. Nach meiner Ansicht muß der Angeklagte wegen dieser Rede bestraft werden. Ich beantrage eine Geldstrafe von 500 Mark. – Verteidiger, Justizrat Makower: Zwei Fürsten vertreten entgegengesetzte Ansichten über das, was unserem Vaterlande frommt, ein Fürst der Diplomatie und ein Fürst der Wissenschaft, ein Mann, der Geschichte macht, und ein Mann, der Geschichte schreibt. Der Verteidigung ist bei solchem Meinungsstreit eine bescheidene Rolle zugewiesen; sie namentlich muß untersuchen, auf welcher Seite das Richtige liegt. Dieser große, für die Geschicke der Nation wichtige Gegensatz findet den würdigsten Boden der Erörterung im Reichstage der deutschen Nation. Hier haben wir es nur mit einem ganz kleinen Ausläufer jenes großen Meinungsgegensatzes zu tun. Niemandem wird es entgehen, daß damit die große Frage auf ein kleines Niveau herabgedrückt wird. Man würde sich wundern, daß solche große und gewaltige Frage auf einem Privatgebiet ausgefochten werden soll, wenn man nicht daran gewöhnt wäre, daß Klagen wegen Bismarckbeleidigungen, die selbst gegenüber Abgeordneten anhängig gemacht werden, an der Tagesordnung sind. Man dürfte fragen: wie ist es möglich, daß eine Nation, die ihrem ersten Staatsmanne so unendlichen Dank schuldig ist, so oft mit ihm in Konflikt gerät, daß in dieser Nation so viele Personen sich finden, welche anscheinend danach streben, den Fürsten Bismarck zu beleidigen und daß alle Verurteilungen zu Gefängnis- und Geldstrafen sich so machtlos erwiesen haben, daß sich die Bismarckbeleidigungsanklagen noch immer mehren. Die einzige Lösung dieser Frage ist nur darin zu finden, daß der Streit wirklich im öffentlichen Rechte waltet und nur fälschlich verlegt wird auf das Gebiet des Privatrechts. Entschließt man sich aber aus einem so hochwichtigen Streit einen kleinen Privatstreit auszusondern, so könnte man sich allenfalls dies gefallen lassen, wenn der Gegner dem Gegner von Angesicht zu Angesicht gegenübertritt. Wie steht es aber in dieser Beziehung mit dem Fürsten Bismarck? Fürst Bismarck begnügt sich einfach, einen gedruckten Strafantrag zu unterschreiben. Die Staatsanwaltschaft, unterstellt der Landesjustizverwaltung, ist gar nicht in der Lage, zu prüfen, ob wirklich eine Beleidigung vorliegt. Deshalb versagt das Ventil, welches gegen eine Anklageüberhäufung vorhanden ist, gerade in dem Augenblick, wenn es gegenüber dem höchsten Beamten gehandhabt werden soll. Andererseits, welcher Rechtsschutz steht demjenigen zu, der vom Fürsten Bismarck beleidigt wird. Als jemand es unternahm, den Fürsten Bismarck wegen Beleidigung in die gerichtliche Arena zu zitieren, da entpuppte er sich als Militär, der in dieser Arena Niemandem Rechenschaft schuldig ist. Ist der Kampf in Terrain und Waffen so grundverschieden, so wird man überhaupt mit gemischten Gefühlen diesen Anklagen wegen Bismarckbeleidigung nähertreten. Der Kampfrichter wird besonders vorsichtig sein müssen, wenn es sich um jemand handelt, der in jenem Kampfe der minder gut Situierte ist. Welches Interesse zu einer Beleidigung des Fürsten ist denn in dem Privatleben des Herrn Angeklagten zu finden? Gar keins. Oder hat ihn gar die Leidenschaft dazu getrieben, über die parlamentarische Grenze hinauszugehen? Ich denke, die Interpretation, die der Angeklagte seiner Rede gegeben, muß hier gelten, denn eine Unwahrheit wird man bei einem Manne, der in seinem ganzen Leben schon durch seinen Beruf genötigt war, Worte und Buchstaben zu wägen, nicht voraussetzen. Nachdem der Verteidiger sodann die einzelnen aus Anlaß jener Rede dem Prof. Mommsen gemachten Angriffe, den Artikel der „N. A. Z.“ und die Reden des Reichskanzlers und des Ministers v. Puttkamer kritisierend gewürdigt, suchte er nachzuweisen, daß es der Anklage an jedem Boden fehle, da der Ausdruck „Schwindel“ in einer nicht vor Akademikern, sondern vor einer Wählerschaft gehaltenen Rede vielleicht nicht urban, aber nicht strafbar sei. Der Ausdruck bezog sich im übrigen nicht auf den Fürsten v. Bismarck. Der Verteidiger suchte zum Schluß den Nachweis zu führen, daß dem Angeklagten der § 193 des Str.-G.-B. zur Seite stehe. – Angekl. Prof. Dr. Mommsen: Ich darf mir wohl gestatten, dem hohen Gerichtshofe vorzuführen, daß ich seit 40 Jahren und länger vor dem deutschen Publikum stehe, daß ich mir der Pflicht, in meiner öffentlichen Wirksamkeit alles Persönliche zu vermeiden, voll bewußt bin und daß ich auch sachlich mit aller Schärfe zu kämpfen weiß. Freilich ist die inkriminierte Rede scharf, aber ich bin des Wortes so weit mächtig, daß das deutsche Volk nicht zweifelhaft sein kann, wen und was ich meine und daß ich es meinerseits als schimpflich betrachten würde, mich hinter Zweideutigkeiten zu verstecken. Ich erkläre nochmals, daß es mir nicht eingefallen ist, den Herrn Reichskanzler als Person beleidigen zu wollen. Ich lege die rechtliche Beurteilung der Sache ganz vertrauensvoll in die Hand des hohen Gerichtshofs. Daß die Sache außerdem eine sittliche und moralische Bedeutung hat, wird niemand verkennen. Ich überlasse auch nach dieser Seite hin meine Beurteilung mit aller Gewissensruhe dem deutschen Publikum der Gegenwart und Zukunft. – Nach nur kurzer Beratung erkannte der Gerichtshof auf Freisprechung. Obwohl der Gerichtshof objektiv eine Beleidigung für vorliegend erachtet, so führte der Vorsitzende in der Urteilsbegründung aus, glaubt er der Versicherung des Angeklagten, daß er den Fürsten Bismarck nicht gemeint habe. Der Gerichtshof ist auch nicht der Meinung, der Angeklagte habe das Bewußtsein gehabt, die Zuhörer könnten seine Worte auf den Fürsten Bismarck beziehen. – Die Staatsanwaltschaft legte gegen das freisprechende Erkenntnis Revision ein. – Der zweite Strafsenat des Reichsgerichts (Vorsitzender: Senatspräsident Drenkmann) hob das Urteil auf und verwies die Angelegenheit zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das Landgericht I mit etwa folgender Begründung: Unter den Propheten der neuen Wirtschaftspolitik kann nur die Regierung gemeint sein.. Wenn auch infolgedessen Fürst Bismarck nicht direkt beleidigt ist, so ist er doch als Glied der Regierung beleidigt. – Professor Dr. Mommsen hatte sich deshalb am 9. Januar 1883 nochmals, und zwar diesmal vor der vierten Strafkammer des Landgerichts Berlin I zu verantworten. Den Gerichtshof bildeten: Landgerichtsdirektor Martius (Vorsitzender) und die Landgerichtsräte v. Salpius, Kolshorn, Altstedt und Landrichter Dr. Olshausen (Beisitzende). Die königliche Staatsanwaltschaft vertrat Staatsanwalt Dr. Heppner, die Verteidigung führte wiederum Justizrat Makower. – Nach Verlesung der inkriminierten Rede fragte der Staatsanwalt den Angeklagten, ob er sich darüber äußern wolle, wen er eigentlich in seiner Rede gemeint habe. – Professor Dr. Mommsen: Ich glaube wohl, daß mein Herr Verteidiger darüber nähere Ausführungen machen wird. Aber befragt, will ich folgendes antworten: Ich habe überhaupt nicht von Personen gesprochen, sondern von Anschauungen und Dingen. Ich denke, ich habe das Recht, jedes System, welches nach meinen Anschauungen dem Volkswohle entgegensteht, zu bekämpfen. Wer dieses System vertritt, mag sich vielleicht durch diese Anschauungen verletzt fühlen, ich kann aber erklären: ich habe Keinen angreifen wollen oder alle. Dies ist meine Antwort. – Staatsanwalt: Der Angeklagte sagt, er hat nur Prinzipien angreifen wollen, er hat aber gesagt, es sei gleich, ob die bekämpfte Politik von einem hohen oder geringen Manne vertreten wird. Vielleicht gibt der Herr Angeklagte darüber nähere Auskunft. – Professor Mommsen: Ich fühle mich nicht dazu veranlaßt. – Es nahm hierauf zur Begründung der Anklage das Wort Staatsanwalt Dr. Heppner: Es ist neuerdings Mode geworden, daß bei Strafprozessen gegen Männer von politischer oder wissenschaftlicher Bedeutung die Presse ihre Ansichten zum besten gibt. Auch wenn schon ein Erkenntnis ergangen ist, läßt sich die Presse von dem Lobe oder Tadel, je nach ihrem politischen Standpunkte, nicht zurückhalten. Es ist dies ein bedauerliches Vorkommnis, welches zwar nicht befürchten läßt, daß sich ein preußischer Gerichtshof hierdurch beeinflussen lassen wird. Eine andere Gefahr liegt aber vor, nämlich die, daß der Richter sich durch solche Stimmen scheut, die Konsequenzen und die Strenge zur Anwendung zu bringen, wie er sie gewöhnlich ohne einen solchen Druck anzuwenden gewohnt ist. Die Scheu, die Unparteilichkeit zu wahren, wird den Richter unwillkürlich und unbewußt dahin führen, sich nicht dem allgemeinen Unwillen auszusetzen, sondern seine Entscheidung zugunsten des Angeklagten zu treffen. Auch in dem vorliegenden Fall hat sich die Presse der Sache bemächtigt. Das Urteil erster Instanz wurde in den Himmel erhoben, das des Reichsgerichts einer abfälligen Kritik unterzogen. Ich werde mir nicht erlauben, diesem Gerichtshofe zu imputieren, daß er sich durch diese Kritiken beeinflussen läßt; aber eine Bitte spreche ich aus. Legen Sie auf die Personalien des Angeklagten nicht das Gewicht, wie dies der frühere Richter getan hat. Ich bitte Sie, bei aller Hochachtung, die ich vor dem Herrn Angeklagten habe, seine Angaben nicht anders zu behandeln, wie in anderen Fällen. Durch das Urteil des Reichsgerichts ist das frühere Erkenntnis vollständig aufgehoben, Sie haben daher bezüglich der Beurteilung der inkriminierten Rede vollständig freie Hand. Sie werden gut tun, sich den Ausführungen des Reichsgerichts anzuschließen, auch in den Stellen, in denen ein Zwang für Sie nicht vorliegt. Es fragt sich nur, ob der Angeklagte den Fürsten Bismarck subjektiv hat beleidigen wollen. Der Angeklagte bestreitet dies und behauptet, er habe an den Reichskanzler nicht gedacht. Bei aller Wahrheitsliebe, die dem Gelehrten zugestanden werden mag, glaube ich doch, daß diese Erklärung des Angeklagten abgegeben worden ist unter dem Drucke einer drohenden Anklage. Abgesehen davon aber kommt es auf eine absichtliche Kränkung nicht an, sondern nur auf das Bewußtsein der Beleidigung. Dies Bewußtsein muß der Angeklagte gehabt haben, denn daß Fürst Bismarck ausdrücklich aus der Reihe der zu treffenden Personen ausgeschlossen werden sollte, ist gar nicht anzunehmen. Ich glaube sogar so weit gehen zu dürfen, daß nur Fürst Bismarck getroffen werden sollte, und wenn der Angeklagte in der Wahlversammlung interpelliert worden wäre, wen er eigentlich meine, so würde er haben zugeben müssen, daß er doch nicht gegen ein System, sondern gegen Personen gekämpft hat. Es erübrigt nur noch ein Wort zur Strafzumessung. Ich denke, der Angeklagte sollte selbst das Muster des guten Tones sein, in welchem in Wahlversammlungen gesprochen werden sollte. Er hat aber das Maß des Erlaubten in seiner Rede bedeutend überschritten und vergessen, daß er gerade vor Personen sprach, die geneigt sind, ganz besonders in verba magistri zu schwören. Wenn ich nun auch, mit Rücksicht auf die ganze Persönlichkeit des Angeklagten, eine Gefängnisstrafe nicht in Vorschlag bringe, so beantrage ich doch eine strengere Strafe in Gestalt einer Geldstrafe von 450 Mark event. 30 Tagen Gefängnis. Gleichzeitig beantrage ich die Publikationsbefugnis für den Fürsten Bismarck, und zwar in Blättern der verschiedensten politischen Richtungen. – Vert. Justizrat Makower: Der Herr Staatsanwalt hat eine Beleidigung des Reichskanzlers in dem letzten Passus der Rede des Angeklagten gefunden. Der erste Richter hat sie verneint. Die Revision rügte, daß, wenn auch nicht eine direkte Beleidigung des Fürsten Bismarck gefunden wurde, so hätte geprüft werden müssen, ob Fürst Bismarck durch den Angriff auf den Kreis einer größeren Anzahl von Personen nicht mitbeleidigt worden sei. Das Reichsgericht hat das erste Urteil aufgehoben, weil diese Frage nicht geprüft worden sei. Deshalb wird sich die Feststellung darauf zu richten haben, ob der Reichskanzler unmittelbar und ob er in einem Kreise von Personen mitbeleidigt sei. Zunächst nehme ich für meinen Mandanten in Anspruch, daß er das, was er hat sagen wollen, auch genau ausgedrückt hat, daß sich also Ausdruck und Gedanke vollständig decken. Was hat nun der Angeklagte gesagt? Der Verteidiger verlas den inkriminierten Passus und fuhr alsdann fort: Der letzte Ausdruck „eine Politik des Schwindels“ scheint den meisten Anstoß erregt zu haben. Aber ohne Grund. Es scheint der Ausdruck „Schwindel“ mit dem der Schwindelei verwechselt zu sein. Schwindel nennt man ein Versprechen, welches nicht gehalten werden kann. Dieses Wort ist gleichbedeutend mit „leer, inhaltlos, dunkel, verworren“. Das Wort „Schwindel“ kommt in der Schriftsprache häufig vor und ist keineswegs gleichbedeutend mit „Schwindelei“. Dies beweist Fürst Bismarck selbst, der in seinen gedruckt erschienenen Briefen an seine Gemahlin das Wort „Schwindel“ sehr häufig benutzt und vom „Souveränitätsschwindel“ der Fürsten, vom „Gleichheitsschwindel der Regierungen“, vom „Wahlschwindel der Völker“ spricht, ohne damit doch die Fürsten, die Regierungen und die Millionen der Völker beleidigen zu wollen. Der Angeklagte hat die Wirtschaftspolitik angegriffen, dahinter stehen natürlich Personen, aber Angriffe auf eine Wirtschaftspolitik sind keineswegs Injurien gegen die Politiker. Deshalb ist die Anklage nicht zu halten, wenn selbst der Zusatz „ob hoch oder gering“ auf den Fürsten Bismarck bezogen werden sollte, denn nicht Diejenigen sind die Angegriffenen, welche die Wirtschaftspolitik in die Hand nahmen, sondern die Wirtschaftspolitik als solche ist angegriffen. Der erste Richter hat mit Recht in dem inkriminierten Passus keinen Bezug auf den Fürsten Bismarck finden können. Für ganz verfehlt halte ich die tatsächliche Interpretation, welche das Reichsgericht dem inkriminierten Passus gibt, indem es ihn in zwei Teile zerlegt und meint, er mache Unterschiede zwischen den wirtschaftlichen Theoretikern und den Praktikern. Ich bestreite, daß von einer solchen Unterscheidung irgendwie die Rede ist. Es handelt sich um eine Kritik einer Richtung, welche aus der Zusammenfassung der verschiedensten Bestrebungen besteht, und eine solche Kritik ist nach § 193 erlaubt, und zwar nicht nur für künstlerische und gewerbliche Leistungen. Hinter jeder künstlerischen und gewerblichen Leistung steht doch ganz sicher eine Person, ohne daß eine Kritik der „Leistung“ den „Leister“ treffen soll. Professor Reuleaux hat mit seiner bekannten Kritik „Billig und Schlecht“, welche er über unsere Industrie fällte, sicher nicht daran gedacht, die vielen Tausende von Industriellen zu beleidigen. Ganz ebenso ist in diesem Falle nur eine bestimmte Politik angegriffen, nicht aber eine bestimmte Persönlichkeit. Sodann erinnere ich daran, daß die Rede in einer Wahlbewegung gehalten worden ist, wie sie erhitzter wohl noch nie in Preußen vorgekommen sein mag, und in einer solchen Zeit hat der Angeklagte geglaubt, daß es auch seine Pflicht, wie die eines jeden guten Bürgers sei, offen Farbe zu bekennen. Ich komme nun zu der Erörterung der Frage: Ist Fürst Bismarck direkt beleidigt oder ist er inter ceteros beleidigt? Was die erste Frage betrifft, so haben mehrere Personen und mehrere Zeitungen in milder und in wilder Form dem Herrn Angeklagten geraten, doch das Martyrium auf sich zu nehmen und einzugestehen, daß er den Fürsten Bismarck gemeint habe. Nun, das Martyrium ist auch nach dem Antrage des Staatsanwalts nicht gar groß und ein bedeutender Mut würde dazu nicht gehört haben. Aber ich behaupte: Gerade die Liebe des Herrn Angeklagten zur Wahrheit hindert ihn daran, etwas einzugestehen, was er nicht gemeint hat. Wenn man willkürlich interpretieren will, dann könnte man bei der Anwendung des Ausdrucks „ein Hoher“ schließlich doch auch noch über den Fürsten Bismarck hinausgehen oder unter diesem bleiben. Tatsächlich hat sich ja noch ein Mann als Beleidigter gemeldet, der doch gewiß wenigstens in wissenschaftlicher Beziehung ein „Hoher“ ist, und ich hoffe, daß der Gerichtshof nicht lesen wird „ein Hoher“, sondern „ein Hoher“. Die zweite Frage ist, ob hier ein bestimmter, eng begrenzter Personenkreis bezeichnet ist, in welchem Fürst Bismarck notwendig auch zu finden ist. Dies kann doch nur der Fall sein, wenn die Grenzen dieses Kreises nicht ins Unverkennbare verschwimmen. Man kann wohl die Geistlichkeit, die Richter einer Stadt, unter Umständen auch wohl das deutsche Heer so beleidigen, daß der Einzelne den Strafantrag stellen kann, nimmermehr aber etwa „die Menschheit“, „die Europäer“, „die Liberalen, Ultramontanen oder Orthodoxen“. Der Angeklagte spricht von der Wirtschaftspolitik der „neuen Propheten“. Ja, wer sind denn die neuen Propheten und wer waren die alten Propheten? Darüber hat der Angeklagte nichts gesagt. Die Wirtschaftspolitik, die er meint, hat er aber näher definiert, indem er sagte: „Die Verheißung, daß jedem Menschen erforderlichenfalls für sein Alter eine angemessene Versorgung werden solle, ist Schwindel.“ Macht denn etwa ein Realpolitiker wie Fürst Bismarck eine solche phantastische, ganz unerfüllbare Verheißung? Eine solche Zumutung würde kränkend für die Bedeutung des Fürsten Bismarck sein. Es mag ja für manche unbefriedigend sein, da, wo ein Mommsen spricht, nicht zu wissen, wen er eigentlich gemeint hat. Das aber spricht gerade für die Behauptung des Angeklagten, daß er eben keine Person gemeint hat, sondern die Allgemeinheit, die als Konglomerat einer ganzen Reihe von Bestrebungen gewissermaßen auf seiner Netzhaut als Bild erscheint. Aus diesem Grunde beantrage ich die Freisprechung. Wenn der Gerichtshof diesem Antrage folgt, wird er dem Lande den peinlichen Eindruck ersparen, einen seiner besten Forscher wegen eines nicht salonfähigen Ausdrucks verurteilt zu sehen, und er wird andernteils dem Fürsten Bismarck zeigen, daß der unparteiische zweite Richter ebenso wie der Vorderrichter ihn gar nicht für beleidigt hält. Eventuell nehme ich für den Herrn Angeklagten den Schutz des § 199 des Strafgesetzbuches in Anspruch, welcher eine Beleidigung straflos läßt, sobald sie sofort erwidert wird. Wer die gegen Herrn Mommsen gerichtete Rede des Fürsten Bismarck liest, dem kann es nicht zweifelhaft sein, daß sie Beleidigungen enthält und daß sie nicht etwa im Affekt über eine angetane Beleidigung gehalten worden ist. – Staatsanwalt Dr. Heppner: Gegen die Auffassung des Verteidigers bezüglich der Kompensation muß ich doch entschieden Verwahrung einlegen. Die Äußerungen des Herrn Reichskanzlers sind erst viele Monate später getan, können also nicht als auf der Stelle erwidert betrachtet werden. Auch hat das Reichsgericht eine Kompensation von im Reichstage getanen Äußerungen mit anderen für ausgeschlossen bezeichnet. Im übrigen überlasse ich es dem hohen Gerichtshof, ob er dem Ausdruck „Schwindel“ die harmlose Bedeutung beilegen will, wie der Herr Verteidiger, wobei ich aber hervorhebe, daß der Angeklagte selbst einen Einwand nach dieser Richtung hin gar nicht erhoben hat. Ich bin mit dem Herrn Verteidiger einverstanden, daß bei Mommsen sich der Ausdruck mit dem deckt, was er sagen will; ich ziehe aber aus den Worten des Angeklagten einen andern Schluß und habe die Überzeugung, daß er die Beleidigung gewollt, ja beabsichtigt hat. – Justizrat Makower: Der Herr Staatsanwalt befindet sich in einem rechtlichen Irrtum. In der angezogenen Reichsgerichtsentscheidung handelte es sich um die Rede eines Abgeordneten im Reichstage, während die zu kompensierende Beleidigung vom Reichskanzler herrührt. Auch meine Ausführung betreffs der Anwendung des Kompensationsparagraphen ist nicht so kühn, als der Herr Staatsanwalt zu meinen scheint. Die inkriminierte Rede Mommsens ist in einer Volksversammlung gehalten und später gedruckt worden. Wann sie dem Herrn Reichskanzler zur Kenntnis gekommen, steht nicht fest. Zweifellos hat Fürst Bismarck die erste Gelegenheit benutzt, die Rede Mommsens in der öffentlichen Reichstagssitzung zu erwidern. Er hat sich sein Recht also selbst genommen. Die Intention des Gesetzgebers geht sicherlich dahin, daß in solchem Falle nicht noch Schutz vom Richter verlangt werden könne. Vom Fürsten Bismarck ist aber dem Prof. Mommsen eine ungewöhnliche Feindschaft gegen die Wahrheit vorgeworfen worden. Dies ist eine Beleidigung der herbsten Art. – Angeklagter Professor Dr. Mommsen: Auf die direkte Provokation des Staatsanwalts, der mich fragte, ob ich in dem Worte „Schwindel“ eine Beleidigung erblicke, will ich nur antworten: in dem Sinne, wie es in dem vorliegenden Falle angewendet ist – Nein! Ich habe häufig naturphilosophische Anschauungen für Schwindel erklärt, nie aber die Absicht gehabt, die Vertreter dieses Systems als Schwindler zu bezeichnen. Es handelt sich hier um eine Beleidigung, die, falls sie den Fürsten Bismarck träfe, auch gegen Tausende von Personen gerichtet sein würde, die genau mit demselben Recht oder demselben Unrecht die Anklage gegen mich erheben könnten. Ebenso wie Fürst Bismarck, könnten sich auch Bebel, Kommerzienrat Baare, Prof. Wagner u. a. beleidigt fühlen. Ich bitte, daß der Gerichtshof auch auf den Namen des Anklägers ebensowenig Rücksicht nimmt als auf meinen Namen, sondern bei seinem Urteil rein sachliche Gründe walten läßt. – Nach fast einstündiger Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Martius folgendes Urteil: Im Namen des Königs hat der Gerichtshof für Recht erkannt, daß der Angeklagte freizusprechen und die Kosten des gesamten Verfahrens der Staatskasse aufzuerlegen seien. Der Gerichtshof ist der Ansicht, daß der erste Passus sich zweifellos nicht auf den Fürsten Bismarck bezieht. Bezüglich des zweiten Passus nimmt der Gerichtshof an, daß in den gebrauchten Ausdrücken und in den Äußerungen an und für sich eine Beleidigung gefunden werden kann, wenn sie gegen Personen gerichtet wären. Der Gerichtshof faßt den Ausdruck „Schwindel“ als gleichbedeutend mit „Schwindelei“ auf. Er ist aber zur Überzeugung gekommen, daß von Personen überhaupt nicht die Rede war, sondern daß der ganze Angriff nur einem System galt, wie dies der Herr Angeklagte auch versichert hat. Daher hat dem Herrn Angeklagten auch das Bewußtsein gefehlt, daß die gebrauchten Ausdrücke auf Personen, und speziell auf den Reichskanzler, bezogen werden könnten. Bezüglich des Schlußpassus, daß Schwindel Schwindel bleibe, ob er mit einem größeren oder geringeren Mäntelchen behangen wird, so hat in diesem der Gerichtshof eine Beleidigung überhaupt nicht zu finden vermocht, wiewohl er annimmt, daß er auf Personen bezogen werden kann. Es liegt nichts Ehrenkränkendes in der Behauptung, daß Schwindel eben Schwindel bleibt, wenn er auch von Personen in die Hand genommen wird. Es mußte daher, wie geschehen, erkannt werden. – Soweit mir erinnerlich, hatte die Staatsanwaltschaft gegen dies freisprechende Urteil keine Revision eingelegt.