Fünfte Abhandlung (Über das tugendhafte Leben)

Textdaten
Autor: Isaak von Ninive
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Titel: Fünfte Abhandlung
Untertitel:
aus: Über das tugendhafte Leben, Bibliothek der Kirchenväter, Band 38, S. 353–373.
Herausgeber: Gustav Bickell
Auflage: 1
Entstehungsdatum: 7. Jahrhundert
Erscheinungsdatum: 1874
Verlag: Jos. Koesel’sche Buchhandlung
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Erscheinungsort: Kempten
Übersetzer: Gustav Bickell
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Quelle: Faksimile auf den Commons
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[353]

Fünfte Abhandlung

Über die Entfernung von der Welt und Allem, was den Geist verwirrt.

Gott hat dem Menschen durch die doppelte Lehre,[1] welche er ihm gegeben hat, hohe Ehre erwiesen und ihm von allen Seiten her Thore geöffnet, durch welche er zur Erkenntniß eingehen soll.

Verlange von der Natur einen zuverlässigen Zeugen über dich selbst, so wirst du nicht irregehen; wenn du aber von dort hinweggegangen bist, so lerne von dem zweiten [354] Zeugen, und er wird dich auf den Weg zurückbringen, von dem du dich verirrt hast![2]

Ein zerstreutes Herz kann dem Irrthume nicht entgehen, und die Weisheit öffnet ihm ihre Pforte nicht.

Derjenige, welcher klar erkannt und begriffen hat, wie der Tod alle Menschen gleich machen wird, bedarf ausserdem keines anderen Lehrers, um die Verächtlichkeit der Welt einzusehen.

Die geschaffene Natur ist das erste Buch, welches Gott den Vernunftwesen gegeben hat; die schriftliche Belehrung ist erst später nach der Übertretung hinzugefügt worden.

Wer sich nicht freiwillig von den Ursachen der Sünde fernhält, wird sogar unfreiwillig zur Sünde hingerissen.

Die Ursachen der Sünde sind aber: Wein, Weib, Reichthum und körperliche Behaglichkeit, nicht als ob diese Dinge an und für sich ihrem Wesen nach sündhaft wären, sondern wegen der menschlichen Schwäche und ihres ungesetzlichen Gebrauches. Durch jene Dinge kann nämlich die Natur leichter als durch alle anderen zu verschiedenen Sünden verleitet werden und bedarf deßhalb gegen sie ganz besonderer Behutsamkeit.

Wenn du deiner Schwäche stets eingedenk und dir ihrer klar bewußt bist, so wirst du nie die Grenzen der Behutsamkeit überschreiten.

Bei den Menschen ist die Armuth das Allerverächtlichste; bei Gott aber ist ein hochmüthiges Herz und ein Geist, welcher (Seine Gebote) verachtet, noch weit verächtlicher.

Bei den Menschen ist der Reichthum geachtet, bei Gott aber eine demüthige Seele.

Wenn du mit der Erwerbung einer Tugend beginnen willst, so bereite zuerst deine Seele darauf vor, daß sie [355] nicht wegen der Leiden, welche durch jene kommen, an der Wahrheit zweifle! Denn der Böse pflegt, wenn er sieht, wie ein Mensch im Eifer des Glaubens sich eine Tugend anzueignen beginnt, ihn mit heftigen und schrecklichen Versuchungen heimzusuchen, damit er dadurch abgeschreckt werde, die Liebe alsdann in seinem Gemüthe erkalte und er nicht mehr von Eifer überwalle, sich den göttlichen Werken zu nähern, auf daß also aus Furcht vor den mit dem Guten verbundenen Versuchungen das Gute von Niemandem geübt werde.

Du aber bereite dich vor, den mit den Tugenden verbundenen Leiden herzhaft und kräftig zu begegnen, und beginne alsdann!

Wenn du die Leiden nicht erwartest, so kannst du keinen Anfang in den Tugenden machen.

Der Mann, welcher an (der Hilfe des) Herrn zweifelt wird von seinem eigenen Schatten verfolgt, wird zur Zeit der Sättigung hungern und zur Zeit des Friedens schmählich besiegt werden. Wer aber auf Gott vertraut, dessen Herz wird Stärke erlangen, seine Ehre wird vor der Menge und sein Ruhm vor seinen Feinden verkündet werden.

Die Gebote Gottes sind kostbarer als die Schätze der ganzen Erde. Wer seine Gesetze in sein Herz aufnimmt, der wird in ihnen den Herrn finden.

Derjenige wird zu einem Hausgenossen Gottes, welcher stets im Nachdenken über ihn bleibt; und Derjenige erlangt die Engel des Himmels zu seinen Lehrern, welcher Seinen Willen zu erfüllen strebt.

Wer vor den Sünden zittert, kann auch an gefährlichen Stellen ohne Furcht vorübergehen und findet zur Zeit der Finsterniß ein Licht in sich.

Der Herr bewahrt die Schritte Dessen, der sich vor Sünden fürchtet, und die Barmherzigkeit kommt seinem Ausgleiten zuvor.

Wer aber seine Fehler für geringfügig hält, fällt noch schwerer als zuvor und wird siebenfältig bestraft.

[356] Säe Almosen in Demuth aus, damit du im Gericht Barmherzigkeit einerntest!

Durch Dasselbe, wodurch du deine Güter verloren hast, mußt du dir sie auch wieder erwerben. Wenn du an Gott einen Groschen schuldest, so nimmt er sogar eine Perle nicht statt dessen von dir an; denn in diesem Falle ist eben jener nothwendig.

Wenn du die Keuschheit verloren hast, so lasse nicht die Unlauterkeit an ihrer Stelle und gib Almosen als Ersatz; denn diese wird Gott nicht von dir annehmen! Statt der Keuschheit verlangt er Keuschheit; wenn du diese nicht übst, so ist es (ebenso, als wenn du) die Armen beraubt hättest.

Lasse nicht ungerechten Erwerb an seiner Stelle und faste statt dessen! Lasse nicht den Frevel an seiner Stelle und kämpfe gegen irgend etwas Anderes! Die Ungerechtigkeit wird durch Barmherzigkeit und Entsagung entwurzelt. Du aber lässest die Pflanze an ihrer Stelle und kämpfst gegen etwas Anderes, wie der große heilige Lehrer Ephräm[3] sagt.

Siehe, gleichwie du zur Sommerzeit nicht mit Winterkleidern gegen die Hitze kämpfst, ebenso erntet auch ein Jeder die seiner Aussaat entsprechende Frucht und begegnet jeder Krankheit mit dem für sie passenden Heilmittel.

Der Neid tödtet dich jetzt, und du kämpfst gegen den Schlaf! Entwurzele die Sünde, so lange sie noch im Halme ist, damit sie nicht das ganze Erdreich überwuchere[4]

Wer das Böse als zu geringfügig übersieht, wird darin schließlich einen harten Herrn finden und in Ketten vor [357] ihm herlaufen. Wer ihm aber von Anfang an entschlossen entgegentritt, wird es leicht überwinden.

Wer die Verleumdung freudig erduldet, obgleich das Recht auf seiner Seite steht, der emfängt fühlbar den Trost seines Glaubens von Gott.

Wer falsche Beschuldigungen mit Demuth erträgt, ist zur Vollkommenheit gelangt und wird von den Engeln bewundert. Es gibt keine Tugend, die schwerer und erhabener als diese wäre.

Halte dich nicht selbst für stark, bevor du in Versuchung gerathen bist und deinen Geist in derselben unverändert gefunden hast! In allen Dingen stelle dich selbst also auf die Probe!

Erwirb dir Ruhm durch den Glauben deines Herzens, damit du den Nacken deiner Feinde niedertretest und deinen Geist demüthig findest! Vertraue nicht auf deine Kraft, damit du nicht deiner natürlichen Schwäche überlassen werdest und durch deinen Fall deine Ohnmacht kennen lernest; auch nicht auf deine Einsicht, damit du nicht in verborgene Ränke verwickelt und verwirrt werdest!

Erwirb dir eine sanftmüthige Zunge, so wird dich niemals eine Schmähung treffen, und freundliche Lippen, so wirst du jeden Menschen zum Freund gewinnen!

Rühme dich nie mit deiner Zunge wegen irgend einer Sache, da ja Alles in der Welt dem Wechsel unterworfen ist, damit du nicht in Beschämung gehüllt werdest, wenn sich das Gegentheil davon an dir zeigt!

Eine jede Sache, wegen deren du dich vor den Menschen rühmst, übergibt Gott absichtlich der Veränderung, damit dir Dieß eine Veranlassung zur Demuth werde, du Alles der Einsicht Gottes überlassest und keine andere in der Welt für zuverlässig haltest. Wenn du Dieß gefunden hast, werden deine Augen immer auf ihn gerichtet sein.

Die Vorsehung umgibt alle Menschen zu allen Zeiten, ist aber nur Denjenigen sichtbar, welche ihre Seelen von Sünden gereinigt haben und immer an Gott denken. Auch Diesen wird sie erst dann ganz deutlich geoffenbart, wenn sie [358] wegen der Wahrheit in schwere Versuchungen gerathen. Alsdann wird ihnen die Empfindung derselben gleichsam fühlbar und wie durch leibliche Augen zu Theil, ja sogar in sinnlich wahrnehmbarer Weise, wenn es gemäß der Art der Versuchung und der Veranlassungen oder zur stärkeren Ermuthigung nothwendig ist, wie es bei Jakob, Josue, dem Sohne Nun’s, dem Ananias und seinen Gefährten, Petrus und Anderen geschehen ist, welchen die Gestalt eines Mannes zu ihrer Ermuthigung und zum Troste ihres Glaubens erschienen war.

Wenn du aber sagst, Dieß seien auf die göttliche Heilsordnung bezügliche Angelegenheiten von allgemeiner Bedeutung gewesen, so mögen dir die heiligen Martyrer zur Ermuthigung gereichen, welche theils viele gemeinschaftlich, theils einzeln allerorts für Gott gelitten und mit der verborgenen Kraft, durch welche sie die fleischlichen Glieder gegen das Zerhauen mit Beilen und Martern aller Art stark machten, übernatürliche Dinge vollbracht haben. Zuweilen sind ihnen sogar sichtbar die heiligen Engel erschienen, damit Alle erfahren sollten, daß Gott für Diejenigen Sorge trage, welche um seinetwillen bei allen Gelegenheiten Leiden ertragen, zu ihrer Stärkung und zur Beschämung ihrer Verfolger. Denn je mehr Jene durch solche Visionen gestärkt wurden, um so mehr wurden Diese durch ihre Standhaftigkeit gequält.

Und was sollen wir von den vielen Einsiedlern, Pilgern und in Wahrheit Trauernden sagen, welche die Wüste zur friedlichen Wohnstätte und zum Aufenthalt der Engelheere gemacht haben, die sich wegen der Gleichheit ihres Lebens bei ihnen versammelten und als wahre Mitknechte des einzigen Herrn ihre himmlischen Schaaren stets mit der Versammlung Dieser vereinigten, welche während ihrer ganzen Lebenszeit die Einsamkeit liebten, Höhlen und Felsen zu ihren Wohnungen wählten und es freudig aus Liebe zu Gott in der Einsamkeit und Einöde aushielten? Weil sie die Welt verlassen hatten und gleich den Engeln den [359] Himmel liebten, so verbargen sich auch Diese nicht vor ihrem Blicke.

Zuweilen haben die Engel sie sogar über das geistliche Leben belehrt, zuweilen ihnen vorgelegte Fragen über verschiedene Gegenstände beantwortet, zuweilen ihnen, wenn sie in der Wüste verirrt waren, den Weg gezeigt, oder sie von Versuchungen befreit oder aus einer gefährlichen Lage, in die sie plötzlich unvermuthet gerathen waren, errettet, zum Beispiel von Schlangen oder dem Sturze von einem Felsen oder dem Herabfallen eines Steines, welcher plötzlich aus der Höhe heruntersauste.

Zuweilen haben sie sich auch ihnen, während der Teufel offen gewaltig gegen dieselben kämpfte, sichtbar gezeigt, ihnen deutlich verkündet, daß sie zu ihrer Hilfe gesandt seien, und ihnen durch ihre Unterredung Muth eingeflößt.

Manchmal haben sie auch ihren Krankheiten Heilung gebracht und durch die Berührung ihrer Hände Schäden, die durch verschiedene Unfälle entstanden waren, geheilt, auch ihren aus Mangel an Nahrung erschöpften Leibern durch ihre Worte oder durch Berührung mit der Hand plötzlich übernatürliche Stärkung verliehen und der eingefallenen Natur auf verborgene Weise Kraft eingegossen. Zuweilen haben sie ihnen auch Nahrung gebracht, nämlich Vorräthe von Brod und Oliven, oder verschiedene Früchte. Einigen haben sie auch die Zeit ihres Todes vorher verkündigt.

Und was soll ich noch weiter von der Liebe der heiligen Engel zu unserem Geschlechte berichten und von der besonderen Sorgfalt, welche sie den Gerechten zuwenden, wie ältere Brüder, welche ihre jüngeren Geschwister pflegen und bewahren?

Dies alles geschieht,[5] damit Jeder überzeugt werde, [360] wie nahe Gott seinen Freunden ist,[6] und wie große Sorgfalt er Denjenigen beweist, welche ihm ihr Leben ganz anheimgeben und ihn mit reinem Herzen suchen.

Wenn du überzeugt bist und glaubst, daß Gott für dich sorgt, so darfst du nicht wegen des Leibes bekümmert sein, auch nicht auf Hilfsmittel sinnen, um dich durchzubringen. Wenn du aber hieran zweifelst und selbst ohne Gott für dich sorgen zu müssen meinst, so bist du der Unglücklichste unter allen Menschen. Und was soll dir dann noch das Leben? Wirf deine Sorge auf Gott,[7] damit du jeder Furcht überlegen werdest!

Wer sein Leben ein für allemal an Gott übergeben hat, bleibt in Geistesruhe.

Ohne Entäusserung des Besitzes wird die Seele nicht von der Verwirrung durch die Gedanken befreit, und ohne die Ruhe der Sinne wird der Friede des Geistes nicht empfunden.

Ohne die Bewährung durch Versuchungen wird die geistliche Weisheit nicht erworben. Ohne fortgesetzte Lesung wird die Schärfe der Gedanken nicht erlernt. Ohne daß man sich Frieden vor den Gedanken verschafft, wird der Geist nicht durch verborgene Geheimnisse bewegt.

Ohne gläubiges Vertrauen kann man nicht wagen, die Seele in furchtbaren und schweren Lagen zu bewahren. Ohne daß man durch die That die Erfahrung von Gottes Fürsorge gewonnen hat, kann das Herz nicht auf Gott vertrauen. Und ohne daß die Seele das Leiden für Christus erduldet hat, wird sie nicht durch die Erkenntniß mit ihm vereinigt.

Denjenigen halte für einen Mann Gottes, welcher sich selbst aus großer Barmherzigkeit für immer die Armuth zum Antheil erwählt hat. Wer den Armen Gutes thut, für den sorgt Gott; und wer um seinetwillen Noth leidet, findet einen großen Schatz.

[361] Gott bedarf zwar keines Dinges, freut sich aber, wenn der Mensch um Seinetwillen Seinem Ebenbilde Wohlthaten oder Ehre erweist.

Wenn dich Jemand um Etwas bittet, was du hast, so sprich nicht in deinem Herzen: Ich will es für mich selbst behalten, damit ich mir ein angenehmeres Leben bereiten kann, oder ich will ihn für dießmal übergehen, da ihm ja Gott schon durch Andere Almosen zukommen lassen wird, ich will es für mich aufbewahren! Sprich nicht also! Denn so denken die Sünder, und die, welche Gott nicht kennen, überlegen also und beharren in solchen Erwägungen.

Der Gerechte gibt seine Ehre keinem Anderen und läßt die Zeit, in welcher er Barmherzigkeit üben kann, nicht vorübergehen. Gott wird freilich jenem (Armen), wenn er dessen Bedürftigkeit kennt, von anderer Seite her sicherlich Hilfe verschaffen; denn er verläßt Niemanden. Du aber hast alsdann die Ehre Gottes von dir abgewiesen und seine Gnade von dir gestoßen.

Siehe aber zu, daß du also sprechest, wenn du Etwas zu geben hast: Gelobt seist du, o Gott, daß du mir die Möglichkeit verliehen hast, einem Menschen zu helfen!

Wenn du aber Nichts hast, so freue dich um so mehr, indem du Gott viele anhaltende Danksagungen darbringst und also sprichst: Ich danke dir dafür, o Gott, daß du mir diese Ehre verliehen hast, um deinetwillen arm zu sein, und mich gewürdigt hast, durch Krankheit und Armuth das Leiden zu kosten, welches du auf dem Wege deiner Gebote angeordnet hast, gleichwie es die Heiligen, welche auf diesem Wege wandelten, gekostet haben!

Wenn du krank bist, so sprich: Selig sind Diejenigen, welche das Ziel gefunden haben, das sich Gott vorsetzt, wenn er uns solche Leiden schickt, nämlich die Erwerbung (des ewigen Lebens)! Denn Gott sendet Krankheiten, um dadurch die Seele zu heilen.

Einer der Heiligen sagte einst: Ich habe diese Beobachtung gemacht, daß Gott, wenn ihm ein Mönch nicht vollkommen dient und in seinen Werken nicht sorgfältig ist, [362] einem Solchen stets irgend eine Versuchung schickt, damit er, dadurch nachdenklich gemacht, nicht gänzlich unnütz werde und sein Geist nicht durch seine allzu große Trägheit zur Betheiligung an den Werken der linken Seite verleitet werde. Wenn also ein Solcher nicht auf Erwerbung der Tugend bedacht sein will, so schickt ihm Gott ein Versuchungsleiden, damit er dadurch zum Nachdenken gebracht werde und aufhöre, sich um Nichtigkeiten zu bekümmern.

Dieses thut Gott einem Jeden, den er liebt; wenn er sieht, daß Jener anfängt, in Bezug auf seine Werke sorglos zu werden, so läßt er ein schweres Leiden über ihn kommen, um ihn dadurch zu belehren und zu züchtigen. Deßhalb zögert er auch, wenn Solche zu ihm rufen, und beeilt sich nicht sie zu befreien, bis daß sie sich abgemüht haben und erkennen, daß ihnen diese Last wegen ihrer Sorglosigkeit aufgelegt war, wie es heißt:[8] „Wenn ihr auch euere Hände ausbreitet, werde ich meine Augen von euch abwenden; und wenn ihr auch viel betet, werde ich euch doch nicht erhören.“ Dieß ist zwar zu Anderen gesagt, aber auf jeden Fall zu Solchen, welche den (rechten) Weg verlassen hatten.

Aber weßhalb achtet Gott nicht auf unsere Bitten, obgleich wir in unserer Noth häufig an seiner Pforte anklopfen und beten, da er doch so barmherzig ist? Darauf diene zur Antwort:[9] „Siehe, die Hand des Herrn ist nicht verkürzt, zu erretten, und sein Ohr nicht taub, zu hören; aber euere Schulden scheiden euch von Gott, und euere Sünden wenden sein Angesicht von euch ab, so daß er nicht hört.“

Gedenke stets an den Herrn, so wird er auch an dich gedenken, wenn dir ein Unheil naht!

Gott hat deine Natur für Unfälle empfänglich gemacht, die Veranlassungen zu Fällen und Versuchungen in der Welt, in welcher er dich erschaffen und gelassen hat, vervielfältigt [363] und deiner Natur eine leichte Empfänglichkeit für dieselben verliehen. Die Leiden sind nicht einmal um ein Weniges von dir entfernt, sondern aus deinem Inneren, unter deinen Füßen und von der Stätte, auf der du stehest, brechen sie auf jeden Wink hervor. Denn die Versuchungen sind dem Menschen so nahe, wie das eine Augenlid dem anderen.

Aus Weisheit hat Gott dieß dein Wesen zu deinem eigenen Nutzen also eingerichtet, damit du stets an Seine Pforte anklopfest, das Andenken an ihn durch die Furcht vor den Leiden stets in dein Gemüth einkehre und du dich durch anhaltendes Bitten zu Gott nahest und geheiligt werdest, indem dein Herz stets an ihn denkt. Wenn du dann zu ihm rufst und er dich erhört, so wirst du erkennen, daß Gott dein Erretter ist, und wirst einsehen, daß dein Gott dein Schöpfer, Erhalter und Bewahrer ist, da er für dich die beiden Welten erschaffen hat, die eine wie eine Schule zu deiner Belehrung auf kurze Zeit, die andere aber als dein Vaterhaus und deine ewige Wohnung.

Er hat dich nicht leidensunfähig erschaffen, damit du nicht nach der göttlichen Würde verlangen und dadurch das Erbtheil des Teufels finden möchtest. Und er hat deine Seele nicht unverirrbar gemacht, damit du nicht, gleich den unfreien Wesen, ohne Nutzen und Lohn Gutes oder Böses besitzen möchtest, wie die übrigen Körper auf Erden.

Es ist einem Jeden offenbar, wie viel Beschämungen und Demüthigungen, aber auch wie viele Danksagungen durch die Leidensfähigkeit und die Furcht, sowie auch durch die Veränderlichkeit des Willens entstehen, damit es offenbar werde, wie sowohl unser Eifer für die Gerechtigkeit als auch unsere Hinneigung zum Bösen aus unserem freien Willen hervorgeht und die daraus entspringende Ehre oder Schande uns angerechnet wird, auf daß wir uns vor der Schande schämen und fürchten, für die Ehre aber Gott Dank sagen und am Guten festhalten sollen.

Alle diese vielen Lehrer hat dir Gott gegeben, damit du Ihn nicht etwa, wenn du von jenen befreit wärest, wegen [364] deiner Nichtbedürftigkeit und der Leidenslosigkeit deiner Natur und der Freiheit von Furcht vergessen, von ihm abirren und viele Götter aufstellen möchtest, gleichwie Viele, obgleich sie dem Leiden und der Bedürftigkeit unterworfen und alle diese Züchtigungen gegen sie losgelassen waren, dennoch wegen einigen Reichthums, kurzdauernder Herrschaft und geringer Beredsamkeit nicht nur viele Götter erdichteten, sondern es in ihrer Thorheit sogar wagten, sich selbst göttliche Natur zuzuschreiben.

Deßhalb hat er dich vor allem Diesem durch die dir von Zeit zu Zeit zugesandten Leiden bewahrt, damit du dich nicht verirrtest und er dich dann in seinem Zorne zur Strafe von sich hinwegtilgen müßte, um die anderen Frevel und Sünden mit Stillschweigen zu übergehen, welche aus Gesundheit, Furchtlosigkeit und Ruhe entspringen, selbst wenn die vorhergenannte Sünde nicht begangen würde. Aus diesem Grunde bewirkt er durch Leiden und Drangsale, daß du mehr in deinem Herzen an ihn denkst, und treibt dich durch die Hitze der Widerwärtigkeiten zu der Pforte seiner Gnade.

Indem er dich aber aus denselben errettet, bereitet er dir Veranlassungen, ihn zu lieben. Und wenn du die Liebe gefunden hast, so bringt er dich zur Ehre der Söhne. Er zeigt dir, wie reich seine Gnade ist, und wie unausgesetzt er für dich sorgt. Alsdann verleiht er dir auch, seine glorreiche Heiligkeit und die verborgenen Geheimnisse seines majestätischen Wesens zu erkennen.

Woher würdest du diese Dinge erkennen können, wenn du keine Widerwärtigkeiten zu ertragen hättest? Denn die Liebe zu Gott kann vorzüglich durch die Erkenntniß seiner Gnaden und durch die Erinnerung an seine mannigfaltige Fürsorge in der Seele zunehmen.

Alle diese Güter werden dir durch die Leiden erworben, wenn du sie dankbar anzunehmen verstehst.

[365]
Über das Gedenken an Gott, das Bekenntniß, die Buße und Besserung des Lebens.

Gedenke also an Gott, damit auch er stets deiner gedenke! Und wenn er deiner gedacht und dich errettet hat, so wirst du alle diese Güter empfangen.

Vergiß ihn nicht in Zerstreuung durch Nichtiges, damit nicht auch er deiner in der Versuchung vergesse!

Im Glücke bleibe ihm nahe und horche auf ihn, damit du in der Noth festes Vertrauen zu ihm fassen könnest, weil dein Herz stets im Gebet auf ihn gerichtet war!

Bleibe allezeit vor seinem Angesichte, indem du über ihn nachsinnest und in deinem Herzen seiner gedenkest, damit dir nicht, wenn du ihn seit langer Zeit nicht gesehen hast, aus Beschämung der Muth entschwinde, mit ihm zu reden!

Das feste Vertrauen entsteht durch steten Verkehr. Der Umgang mit den Menschen ist ein leibliches Beisammensein, der mit Gott aber Betrachtung der Seele und Nahen im Gebete.

Diese Betrachtung wird durch ihre stete Ausdauer zuweilen in wunderbare Dinge eingeweiht.[10] „Es freue sich das Herz Derer, welche den Herrn suchen! Suchet den Herrn,“ ihr Sünder, „und werdet stark“ in euerem Gemüthe durch Hoffnung! „Suchet allezeit sein Angesicht“ durch Buße! Heiliget euch durch die Heiligkeit seines Angesichtes und waschet euch von eurem Frevel! Eilet zum Herrn, ihr Sünder, welcher euere Frevel nachläßt und euere Sünden vergibt! Denn er hat geschworen: „Ich will nicht den Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre und lebe.“[11] Ferner: „Ich habe meine Hände ausgestreckt den ganzen Tag [366] nach einem ungläubigen Volke,“[12] und: „Warum wollt ihr sterben, ihr vom Hause Jakobs?“ Deßgleichen: „Bekehret euch zu mir, so will ich mich zu euch kehren!“[13]

Und durch Ezechiel (33, 12—20; 18, 21—30) sagt er: „An dem Tage, an welchem der Sünder seinen Weg verläßt, sich zum Herrn bekehrt, Recht und Gerechtigkeit übt, sollen seine Sünden, die er begangen hat, nicht mehr gedacht werden, sondern er soll leben, spricht der Herr. Ebenso wenn der Gerechte seine Gerechtigkeit verläßt, sündigt und Frevel begeht, so soll seine Gerechtigkeit, die er geübt hat, nicht mehr gedacht werden, sondern ich werde ihm einen Anstoß bereiten, und wegen der Sünde, die er begangen hat, soll er sterben, wenn er darin beharrlich bleibt.“ Warum Dieses? Weil dem Gottlosen seine Sünde Nichts schaden soll an dem Tage, da er sich zum Herrn bekehrt, und den Gerechten seine Gerechtigkeit nicht erretten soll am Tage, da er sündigt, wenn er sein Gebäude auf diesem Fundamente weiterbaut.

Auch zu Jeremias (36, 2—3) hat er also gesprochen: „Nimm dir eine Buchrolle und schreibe darauf, was ich dir gesagt habe von den Tagen des Königs Josias von Juda bis auf heute, alles Unheil, von dem ich dir gesagt habe, daß ich es über dieses Volk bringen werde, damit es vielleicht darauf höre und sich fürchte und ein Jeglicher seinen bösen Weg verlasse, Buße thue und zu mir zurückkehre, so daß ich ihnen ihre Sünden vergeben kann!“

Und der Weise[14] sagt: Wer seine Missethat verheimlicht, dem wird es nicht wohl ergehen; wer aber seine Sünden bekennt und davon abläßt, dessen wird sich Gott erbarmen.“

Auch der an Offenbarungen reiche Isaias (55, 6—8; 2—3) hat gesagt: „Suchet den Herrn, und wenn ihr ihn gefunden habt, so rufet ihn an! Und wenn er nahe ist, so verlasse der Sünder seinen Weg und der Ungerechte seine [367] Gesinnung! Er bekehre sich zu dem Herrn, der wird sich über ihn erbarmen, und zu unserm Gotte, welcher reich ist an Vergebung! Denn meine Gedanken sind nicht wie euere Gedanken und meine Wege nicht wie euere Wege. Warum wäget ihr Silber dar nicht für Brod, und mühet euch ab, ohne satt zu werden? Höret auf mich, so werdet ihr Gutes verzehren; kommet zu mir und gehorchet mir, so wird euere Seele leben!“

Wenn du die Wege des Herrn beobachtest und seinen Willen thust, so wirst du Vertrauen zu ihm fassen. Alsdann wirst du zu ihm rufen, und er wird dich erhören; du wirst zu ihm schreien, und er wird dir antworten: Siehe, hier bin ich.

Wenn den Sünder ein Unglück betrifft, so vermag er nicht mit Zuversicht den Herrn anzurufen und auf seine Erlösung zu harren, weil er sich in den Tagen seines Glückes von Seinem Willen entfernt hat.

Suche dir einen Helfer, schon bevor du kämpfen mußt, und einen Arzt, bevor du erkrankest! Bete zu Gott, bevor dich die Drangsal trifft, so wirst du ihn zur Zeit der Drangsal finden, und er wird dich erhören!

Ehe du anstößest, bete, und ehe du verwirrt werdest, bereite deine Gelübde, welche deine Reisevorräthe sind!

Die Bäume, aus welchen die Arche noch zur Zeit des Friedens gezimmert wurde, waren bereits hundert Jahre zuvor gepflanzt worden; als dann der Zorn Gottes einbrach, diente sie dem Gerechten als Zufluchtsstätte, während die Gottlosen in Verwirrung geriethen, welche sorglos in der Sünde weitergelebt hatten.

Die Sünde verschließt den Mund beim Gebet; und wen sein eigenes Gewissen verächtlich findet, aus dessen Herzen schwindet die Zuversicht.

Die Rechtschaffenheit des Herzens bewirkt Thränen der Freude beim Gebet.

[368]
Von der Geduld, Langmuth und Demuth.

[15] Die freiwillige starkmüthige Ertragung von Beleidigungen reinigt das Herz.

Durch die Gleichgiltigkeit gegen alle Dinge erduldet der Mensch Beleidigungen und harrt unbekümmert unter Mißhandlungen aus, weil sein Herz angefangen hat, die Wahrheit zu schauen.

Die Freude über erlittene Mißhandlungen und das freiwillige Ertragen von Beleidigungen erheben das Herz.

Niemand kann mit freudiger Bereitwilligkeit Mißhandlungen und Beleidigungen erdulden, als nur Derjenige, dessen Gedanken der Welt ganz abgestorben sind.

Wessen Gedanken aber gänzlich mit der Sorge für dieses Leben beschäftigt sind, der kann entweder aus eitler Ruhmbegierde nicht umhin, alsbald in Zorn zu entbrennen, oder er versinkt in traurige Gedanken, welche durch jene veranlaßt werden.

O wie schwer ist diese Tugend, und wie groß ist ihr Ruhm bei Gott!

Wer nach dieser Lebensweise strebt, der entschließe sich in die Fremde zu ziehen und verlasse seine Heimath! Denn es ist schwer, sich diese erhabene Tugend in der Heimath vollkommen anzueignen.

Nur die Eifrigsten und Stärksten können den Schmerz ertragen, welcher durch diese erhabene Lebensweise entsteht, wenn sie unter den Bekannten geübt wird, sowie Diejenigen, welche diesem Leben schon bei Lebzeiten abgestorben sind und sich die Hoffnung auf zeitlichen Trost abgeschnitten haben.

Gleichwie der Demuth die Gnade nahe ist, so dem Hochmuth schwere Schicksalsschläge.

Das Herz des Herrn ist für die Demüthigen besorgt, [369] um ihnen Wohlthaten zu erweisen; aber sein Angesicht ist gegen die Hochmüthigen gewendet, um sie niederzudrücken.

Die Demuth erlangt stets Erbarmen; aber die Herzenshärtigkeit und der Unglaube empfangen stets schwere unerwartete Stöße, bis daß plötzlich das Unheil über sie hereinbricht und sie dem Vollstrecker des Endurtheils überliefert werden.

Halte dich in jeder Beziehung für gering unter den Menschen, so wird dich Gott über die Häupter des Volkes erhöhen!

Grüße Alle zuerst und neige dich ehrerbietig vor ihnen, so wirst du höher geehrt werden als Diejenigen, welche Gold aus Ophir darbringen!

Sei in deinen eigenen Augen gering geschätzt und verachtet, so wirst du die Herrlichkeit Gottes in deiner Seele schauen!

Von da, wo Demuth emporsproßt, wird Verherrlichung ausgehen.

Wenn du danach strebst, in der Öffentlichkeit verachtet zu werden, so wird dir Gott viele Ehre vor den Menschen verleihen. Und wenn du in deinem Herzen demüthig bist, so wird er dir in deinem Herzen seine Herrlichkeit zeigen.

Halte dich für verächtlich in deiner Größe und nicht für groß in deiner Verächtlichkeit! Bestrebe dich, geringgeschätzt zu werden, obgleich du von der Herrlichkeit des Herrn erfüllt bist, nicht aber geehrt zu werden, während dein Inneres durch Wunden entstellt ist!

Verwirf die Ehre, damit sie dir zu Theil werde, und liebe sie nicht, damit du nicht verworfen werdest! Wenn du der Ehre nachläufst, so flieht sie vor dir; wenn du sie aber fliehst, so kommt sie dir überall entgegen, wohin du dich verbergen willst, und verkündigt Allen deine Demuth.

Wenn du deine eigene Ehre verachtest, so wird sie der [370] Herr offenbar machen;[16] wenn du sie aber um der Wahrheit willen von dir wirfst, so wird er den Geschöpfen befehlen, dich zu preisen und die Herrlichkeit des Schöpfers, welcher von Anbeginn an durch sie geredet hat, vor dir zu öffnen, ja dich wie den Schöpfer zu verherrlichen, da du sein wahrhaftiges Bild bist.

Wer findet einen Menschen, dessen Wandel erhaben ist und der sich doch unter seinen Mitmenschen für verächtlich hält, welcher erleuchtet und weise und doch geistlich arm ist?

Heil Dem, welcher sich selbst in jeder Bezeihung verdemüthigt; denn er wird in Allem verherrlicht werden! Wer sich um Gottes willen demüthigt und geringschätzt, wird von Gott Ruhm empfangen.

Wer um Seinetwillen Hunger und Durst erlitten hat, den wird er aus seinen Vorräthen mit jenem Weine tränken, welcher in den ihn Trinkenden eine niemals aufhörende Berauschung bewirkt. Und wer um Seinetwillen bloß geworden ist, den wird er mit dem Gewande der Glorie bekleiden. Und Demjenigen, welcher um Seinetwillen arm und dürftig geworden ist, sendet er zum Troste Seinen wahren Reichthum.

Verachte dich selbst um Gottes willen, auf daß du unvermerkt hohe Ehre erlangest! In deinem ganzen Leben halte dich für einen Sünder, damit du in deinem ganzen Leben als ein Gerechter erfunden werdest!

Halte dich für einen Thoren, wenngleich du weise bist, und werde nicht thöricht durch deine Weisheit! Sei einfältig in deiner Weisheit und suche nicht weise zu erscheinen, da du einfältig bist!

Wenn schon die Verächtlichen durch Demuth verherrlicht werden, um wie viel mehr die Ehrwürdigen! Fliehe vor der Ehre, so wirst du geehrt werden! Fürchte dich [371] vor dem Hochmuthe, so wirst du erhöht werden! Denn nicht geziemt Stolz den Menschen, noch Hochmuth den vom Weibe Geborenen.

Wenn du einmal freiwillig auf den ganzen Leib der Welt verzichtet hast, so streite mit Niemanden über geringe Theile desselben!

Wenn du die Ruhmbegierde von dir geworfen hast, so fliehe Die, welche dem Ruhme nachjagen!

Fliehe die Besitzenden, sowie den Besitz! Halte dich fern von den Genußsüchtigen, gleichwie von den Vergnügungen!

Fliehe die Unkeuschen, gleichwie die Unkeuschheit! Denn wenn schon die Erinnerung an ihren Lebenswandel das Gemüth verwirrt, um wie viel mehr ihr Anblick und ihre Nähe!

Nähere dich den Tugendhaften, damit du durch sie nahe zu Gott gebracht werdest!

Verkehre mit den Demüthigen, um ihre Wege zu lernen! Denn wenn schon der Anblick ihres Wandels dem Beobachter nützt, um wie viel mehr das Nachdenken über ihre Tugenden und die Belehrung ihres Mundes!

Liebe die Armen; denn durch sie wirst du Barmherzigkeit finden!

Nähere dich nicht den Streitsüchtigen, damit du nicht gezwungen werdest, deinen friedfertigen Gewohnheiten untreu zu werden!

Zeige keinen Abscheu vor dem schmachvollen Leiden der Kranken; denn auch du bist mit dem Leibe bekleidet!

Sei nicht hart gegen die, welche betrübten Herzens sind, damit du nicht mit demselben Stabe, mit welchem sie geschlagen sind, gezüchtigt werdest und dann selbst einen Tröster suchest, ohne ihn zu finden!

Verachte keinen Menschen wegen natürlicher Mängel, welche ihn ja nicht in das Grab begleiten!

Liebe die Sünder und verabscheue ihre Werke! Verachte sie nicht wegen ihrer Fehler, damit nicht auch du auf gleiche Weise versucht werdest!

[372] Gedenke, daß du auch Antheil an der Verderbtheit Adams hast und mit Schwäche bekleidet bist!

Demjenigen, welcher ein mitleidsvolles Gebet und Worte sanfter Überredung bedarf, gibt nicht statt dessen eine Strafrede, damit du ihn nicht zu Grunde richtest und seine Seele von dir gefordert werde! Gleiche den Ärzten, welche kalte Mittel gegen die Fieberhitze anwenden!

Zwinge dich dazu, deinem Nächsten, wenn du mit ihm zusammentriffst, mehr Ehre zu erweisen, als sein Rang erfordert! Küsse ihm Hände und Füße und laß dein Herz in mächtiger Liebe zu ihm aufwallen! Ergreife oft seine Hände, lege sie auf deine Augen und drücke sie mit großer Ehrerbietung! Ertheile ihm Lobsprüche, wenn er sie auch nicht verdient; auch wenn er nicht zugegen ist, rede Gutes und Schönes von ihm und nenne ihn mit besonders ehrenvollen Namen!

Durch diese und ähnliche Dinge wirst du ihn nicht nur zum Streben nach den Tugenden zwingen, indem er sich schämt, den bloßen Namen, mit welchem du ihn beehrt hast, ohne die Werke zu führen, und wirst so die Saat der Tugenden in ihm aussäen, sondern du wirst auch in deiner eigenen Seele, wenn du dich an solche und ähnliche Verfahrungsweisen gewöhnt hast, friedfertige und demüthige Sitten befestigen und der vielen schweren Kämpfe überhoben sein, vor welchen bewahrt zu werden Andere nur mit Mühe erreichen können.

Und nicht nur Dieses, sondern auch wenn der solcher Ehren von dir Gewürdigte einen Fehler oder freiwilligen Makel hat, wird er leicht auf einen bloßen Wink hin, den du ihm andeutungsweise zu verstehen gibst, die Heilung von dir annehmen, indem ihn die ihm von dir erwiesene Ehre und die Beweise der Liebe, die er stets an dir sieht, beschämen.

Dieses Verfahren beobachte gegen alle Menschen, und hüte dich, Jemandem zu zürnen, wegen seines Glaubens oder seiner bösen Werke gegen ihn zu eifern, ihn scharf [373] zu tadeln oder zurechtzuweisen! Denn wir haben alle einen gerechten Richter im Himmel.

Wenn du ihn aber aus Mitleid zur Wahrheit zu bekehren wünschest, so trage Leid um ihn und rede zu ihm unter Thränen einige liebevolle Worte, entbrenne aber nicht im Zorne gegen ihn, sondern entferne das Zeichen deiner Feindschaft von deinem Angesicht!

Die Liebe kennt keinen Zorn und Grimm und schmäht nicht leidenschaftlich.

Die im innersten Bewußtsein tiefgewurzelte Demuth ist, wo sie sich findet, ein Zeichen der Liebe und der Erkenntniß.

(Aus Cod. add. Mus. Brit. 14633, f. 18—22 und Cod. 14632, f. 18—22. Vgl. die griechische Ausgabe S. 25-45.)


  1. Hierunter ist das Naturgesetz und die Offenbarung zu verstehen.
  2. Wenn das im Gewissen sich bezeugende natürliche Gottesbewußtsein und Sittengesetz durch die Sünde getrübt ist, so kann es durch die positive Offenbarung wieder hergestellt werden.
  3. Die griechische Übersetzung bezieht das Citat aus Ephräm irrig auf den folgenden Absatz. Die Stelle gehört übrigens nicht dem h. Ephräm, sondern dem Isaak von Antiochien an.
  4. Dieser Absatz ist eine aus Isaak von Antiochien entlehnte Strophe von vier siebensilbigen Versen.
  5. Von hier an beginnt die alte Schrift in Cod. 14632, während dessen 17 erste Blätter von späterer Hand aus Cod. 14633 abgeschrieben sind; vgl. oben S. 290.
  6. Vgl. Psalm 144, 19.
  7. Ps. 54, 23.
  8. Isai. 1, 15.
  9. Isai. 59, 1–2.
  10. Ps. 104, 3—4.
  11. Ezech. 33, 11; 18, 31—32.
  12. Isai. 65, 2.
  13. Malach. 3, 7.
  14. Sprichw. 28, 13.
  15. Die drei folgenden Absätze fehlen im Griechischen.
  16. Der syrische Text kann auch übersetzt werden: „Wenn du in verächtlicher Weise nach Ehre strebst, so wird dich der Herr beschämen.“ Vielleicht ist dieser Doppelsinn beabsichtigt.