Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Fühlen Tiere Todesangst?
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aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1912, Bd. 13, S. 218–220
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Erscheinungsdatum: 1912
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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[218] Fühlen Tiere Todesangst? – Diese Frage hat der Direktor des Pariser Schlachthofes Herlequin in einer unlängst in der französischen Fachzeitschrift für Tierärzte veröffentlichten, äußerst interessanten Abhandlung entschieden bejaht. Er schreibt: „In dem großen Schlachtraum für Rinder bemerkte ich zum ersten Male, daß einige dieser Tiere, die mitansahen, wie einer ihrer Artgenossen nach dem anderen durch den Schuß der vor die Stirn gebundenen Explosionskappe wie vom Blitz getroffen umsank, ein dumpfes, ganz eigenartiges Brüllen ausstießen, wie man es von Rindern sonst nie zu hören bekommt. Gleichzeitig überlief ihre Haut ein leises Zucken, das sich bis zum deutlich sichtbaren Zittern des Unterkiefers verstärkte. Auch die Augen der Rinder zeigen beim Anblick ihrer betäubt umfallenden Artgenossen fast regelmäßig eine deutliche Weitung der Pupille, die desto stärker ist, je näher die Tiere an die Schlachtstände herangeführt werden. Bei Schafen konnte ich ähnliche Anzeichen einer großen inneren Erregung beobachten, darunter hauptsächlich ein häufiges ängstliches Blöken und fortwährendes Scharren mit den Vorderfüßen. Schweine dagegen schienen mir zunächst gegen den Anblick ihrer dem Messer soeben zum Opfer gefallenen Gefährten ganz gefühllos zu sein, bis ich durch eine ältere Schrift des Philosophen Berrière ‚Seelenleben der Tiere‘, die mir zufällig in die Hände geriet, eines Besseren belehrt wurde. Berrière behauptet unter anderem, daß manche Tiere aus Todesfurcht förmlich gelähmt werden.

In Calzier, einer kleinen Stadt Nordfrankreichs, so berichtet er, war einmal unter den Hunden eine Tollwutepidemie ausgebrochen, worauf die Behörde sämtliche Hunde einfangen und töten ließ. Zu derselben Zeit weilte ich zum Besuche eines alten Freundes in Calzier und, begierig, überall Material für mein soeben begonnenes Werk zu sammeln, wohnte ich dem Massenmorde der armen Hunde bei. Diese waren in einer leeren [219] Scheune eingesperrt worden, und dort verrichteten zwei Männer mit eisernen Keulen die Henkersarbeit. Ein Schlag auf die Stelle, wo die Schädeldecke sich zur Schnauze verlängert, führte einen raschen, schmerzlosen Tod herbei. Interessant für mich als Forscher war es – ich bin sonst ein großer Hundeliebhaber und fühlte als Mensch inniges Mitleid mit den bedauernswerten Verurteilten –, das Benehmen der Hunde zu beobachten, die unter den dumpfen Schlägen der Keulen einen der Ihrigen nach dem anderen umsinken sahen. Die wenigsten versuchten, den Henkern zu entschlüpfen. Fast alle standen sie mit hängenden Schwänzen da und stierten vor sich hin. Diese Regungslosigkeit ging so weit, daß man die einzelnen Tiere wie eine tote Masse zur Seite schieben konnte, wobei sie kaum die Beine hochhoben. Dieses seltsame Gebaren machte den Eindruck, als ob die Tiere vor Entsetzen völlig gelähmt wären. Um zu prüfen, ob hier tatsächlich durch Erregung hervorgerufene Lähmungszustände vorlagen, stach ich einigen der Hunde mit einer Nadel in die Haut. Sie reagierten darauf nur durch zuckendes Zusammenziehen der betreffenden Hautpartie. Für mich steht es hiernach fest, daß lediglich die Todesangst diese Gefühllosigkeit hervorgerufen hatte. Später setzte ich diese Versuche in dem Schlachtraume eines Fleischers fort und fand, daß auch bei Schweinen ähnliche Lähmungserscheinungen eintreten, wenn sie dem Schlachten ihrer Artgenossen beiwohnen.

Alle die angeführten Erscheinungen werden offenbar durch die Todesangst veranlaßt, wobei der Blutgeruch als Grund für die aufsteigende Todesfurcht eine bedeutende Rolle spielen mag. Bekanntlich sträubt sich jedes Tier mit aller Macht gegen das Betreten eines Raumes, in dem der Geruch des Blutes seiner Artgenossen die Luft erfüllt, ein Beweis, daß der Dunst des roten Lebenssaftes auf die Tiere eine abschreckende Wirkung ausübt.“

Daß auch bei Pferden deutliche Anzeichen von Todesfurcht zu bemerken sind, wissen wir schon aus den Berichten von Schriftstellern des Altertums. Häufig findet man den angstvollen Schrei des in Todesgefahr befindlichen Rosses erwähnt. Im Kriege 1870/71 wurde von den Teilnehmern an den großen [220] Reiterattacken bei Mars la Tour und Vionville beobachtet, wie die Pferde im Kugelregen stets ein ängstliches Wiehern ausstießen und ihnen vor Aufregung ganz plötzlich starker Schaum vor die Nüstern trat. „Nach den letzten Kämpfen um Metz, die der völligen Einschließung dieser Festung vorausgingen,“ schreibt ein Offizier in seinen Kriegserinnerungen, „waren die überall auf den Schlachtfeldern umherirrenden, zum Teil verwundeten Pferde auf einem großen Platze zusammengetrieben worden, um dort untersucht und im Falle der Unbrauchbarkeit erschossen zu werden. Die zum Erschießen abkommandierten Leute standen unter meinem Befehl. Es war eine traurige Aufgabe, die uns oblag, und wir erfüllten sie nur mit großem Widerwillen. Die dem Tode verfallenen Tiere standen in einer Ecke, wohl an die fünfhundert Stück. Dicht dabei lag ein tiefer Steinbruch. Da wir die Pferde unmöglich sämtlich in der Erde verscharren konnten, wurden die armen Todeskandidaten dicht an den Rand des Abhanges geführt und erhielten dort von rückwärts eine Gewehrkugel durch den Kopf, so daß sie in den Steinbruch rollten. Bei dieser schauerlichen Arbeit konnte ich so recht beobachten, wie gut die Tiere wußten, was ihnen bevorstand. Ihr ängstliches Schnauben griff uns, die wir doch schon genug Jammer und Elend in dieser kurzen Zeit seit Beginn des Krieges geschaut hatten, tief ans Herz. In den klugen Augen lag deutlich der Ausdruck der Todesfurcht. Ihre Flanken schlugen, und der ganze Körper schwitzte, wie ich es nie wieder bei Pferden gesehen habe. Viele, die nur leicht verwundet waren, wollten sich durchaus nicht an den Rand der Schlucht bringen lassen. Sie schlugen aus, bissen um sich und zitterten dabei vor Aufregung. Sie wußten eben, daß ihnen an jener Stelle dicht am Abhang der Tod drohte. Meine Leute und ich waren froh, als diese Schlächterei beendet war. Nie werde ich jene Stunden vergessen.“

W. K.