Enthüllung (Tucholsky)
„Es gibt keinen Mädchenhandel“, sagt Kurt Tucholsky. – Was hat er für ein Interesse, die Mädchenhändler zu schützen?
Frühmorgens, wenn, mit Verlaub zu sagen, die Hähne krähn, springe ich fröhlich aus dem Bett, reibe mir den Beischlaf aus den Augen, gürte meinen Galanteriedegen, und – hei! – fort gehts, meinem heimlichen Beruf entgegen, von dem niemand, niemand nichts weiß. Rasch den Kuppelpelz umgelegt, und hinein in den Rolls-Royce jüngere Linie, der schon vor der Tür, abgezahlt bis auf das linke Hinterrad, auf mich wartet. Fahr zu, Johann, und laß die Pferdekräfte traben –!
Bei der Pariser Polizei bin ich als Schriftsteller gemeldet. In Wirklichkeit habe ich, allein in Paris, fünf Häuser, mit zweihundertachtundvierzig Insassinnen, zwölf Oberschwestern, einem Generalkuppelwart, und alle sind Tag und Nacht geöffnet.
„Glückauf!“ begrüßt mich der stattliche Pförtner der Zentrale in der rue Louletrou. Mit echt kapitalistischem Kopfnicken grüße ich zurück und betrete die samtgeschwollenen Bureauräume. „Was Neues?“ frage ich kurz. Herr Friedrich, der Direktor der Zuhaltei, legt mir respektvoll in der Unterschriftsmappe die Post vor. Ich durchfliege sie.
– „Blondinenbaisse an der Mädchenhändlerbörse in Buenos-Aires“ - „… die von Ihnen vorgebrachte Reklamation leider nicht anerkennen können, da der Schade auf dem Transport entstanden ist, wir also keinerlei Haftung …“ – „… Ihnen meine so gut wie neue, und nur von ersten Kavalieren getragene Cousine anzubieten, die …“ – „… daher bestimmt mit einer Erhöhung des Grundtarifs auf 1,84 Mark [269] rechnen zu können uns in die sicherste Erwartung zu setzen glauben zu müssen. Der Betriebsrat des Hauses ,Chez Neppine‘.“
– „Sonst was?“ frage ich Herrn Friedrich mit jenem leichten Vibrieren in der Stimme, das andeutet, er zähle zwar zu den höhern Beamten, das ihn aber nicht vergessen macht, daß auch er nur ein Angestellter ist. Hier in diesem mächtigen Zimmer laufen die Fäden der großen Geschäfte zusammen: Umsatz in Nordafrika flau; Transitverkehr mit Australien überwiegend fester; der Konzern internationaler Mädchenhändler beschließt, die Abberufung des Sowjet-Gesandten aus Paris zu erzwingen, da er sich in unzulässiger Weise gegen unsere Interessen ausgesprochen hat, ein kleiner Krieg zieht leise am Horizont auf, und wir werden gut an ihm verdienen … „Sonst nichts“, sagt Herr Friedrich.
Elastischen Schrittes begebe ich mich zur Einkaufsabteilung. Auf dem Korridor steht schon eine Schar Mädchenfänger, zum Ausrücken bereit, an der Tür.
Die Mannschaften tragen große Netze, mit denen sie in einsamen Gegenden, in Stadtparks und an leeren Kanalböschungen unschuldige Mädchen einfangen und mir hierher bringen; die Leute vom Salontrupp haben sich kleine schwarze Bärtchen geklebt, die ihnen ein verführerisches Aussehen verleihen: so schleichen sie sich in die feinen Familien ein und flüstern dort mit heißer Stimme den Haustöchtern verlockende Angebote in die Öhrchen; erst gestern war man auf diese Weise einer reichen Bankierstochter habhaft geworden, der wir eine Stellung als Dienstmädchen in Rio de Janeiro angeboten hatten. Ich musterte den Trupp, der militärisch grüßte. „Zweiter Stoßtrupp der Mädchenfänger zum Ausmarsch angetreten!“ meldete der Führer. Ich winkte ab. Und trat in die Einkaufsabteilung.
[270] Meine Augen sahen alles: da standen große Kisten, in denen lagen die chloroformierten Opfer der letzten Streifzüge, etliche hatte man bei der Lektüre des „Zauberbergs“ erwischt, und sie waren gar nicht gewahr geworden, daß man sie noch einmal eingeschläfert hatte … andere waren frisch aus dem Filmatelier oder bei der Konfektion weggefangen worden, und müde hatten sie sich gegen den überflüssigen Umzug gewehrt. In einer Ecke war die Arbitrage-Abteilung, dort wurden die Mädchen ausgetauscht, streng nach ihrem Wert: zwei kleine zu fünfzehn gegen eine große zu dreißig und so fort. Denn hier ist das, mit Verlaub zu sagen, Becken, in dem sich alle Vorräte sammeln: hier werden die Mädchen verteilt und repartiert, von hier gehen die bemusterten Offerten heraus, die Mädchen auf Abzahlung und die gröbern Dessins für das Militär. So passen sich die Kollektionen jedem Land und jedem Kontinent an: die für die Vereinigten Staaten bestimmten Mädchen – Marke „Petting“ – sind garantiert sexuell unaufgeklärt und bleiben das auch ihr Leben lang. (Man beachte die Banderole.) Auch wurde hier unser Patent-Präparat für einsame Farmer hergestellt: „Das Weib in der Tube.“
An der linken Glastür gabs Lärm. „Was ist –?“ fragte ich. Der Rayonchef stürzte beflissen vor.
„Herr Präsident werden erstaunt sein, zu hören …“, sagte er, „daß wiederum, trotz aller Absperrungsmaßnahmen, zwei Damen zur freiwilligen Meldung gekommen sind. Sie begehren durchaus Aufnahme!“ – „Um wen handelt es sich?“ fragte ich. „Es sind vier!“ meldete der Aufsichtsbeamte vom Dienst. „Es ist der gesamte Vorstand vom Reichsbund zur raschen Niederkämpfung des außerehelichen Geschlechtsverkehrs!“ – „Sagen Sie den Damen,“ befahl ich, „daß wir komplett sind!“ Ein vierstimmiges Jammergeheul vor der Tür bewies, daß edlere Teile getroffen waren.
[271] Brummend rollte mein Wagen mit mir davon.
Im „Garten des Paradieses“ war gerade großes Reinemachen. Wasser floß von den Wänden, Staubsauger sogen an den Türen, die laut polizeilicher Vorschrift die heißen Schreie der Lust zu ersticken hatten … Die Vertrauensdame, Frau Wedderbein, trat mir entgegen und grüßte mit erfahrener Verbindlichkeit. „Glück auf!“ sagte sie. „Glück wieder runter!“ sagte ich. Wir begaben uns ins Vorstandszimmer.
Alles in Ordnung.
Im Inventarbuch fehlte kein Bett und keine Rute; es war, wie der illustrierte Führer durch das Paradies zeigte, für jeden Geschmack gesorgt, und auch der kleine Mann konnte hier nach den Mühen des Tages Begierden frönen, auf die er nach harter und ernster Berufsarbeit wohl Anspruch hatte. Sexuelle Traumen; Spiegelzimmer für minderbemittelte Ipsisten sowie Separatabteilungen für Fetische in allen Größen waren da: hier konnten die Leute einen schönen Stiefel lieben; prima Affekttaumel waren schon von acht Mark das Stück zu haben, und auch Fernbehandlung wurde gern übernommen. Wir standen durchaus auf der Höhe. Und während die Frau Vorstand mir eine Seite des Hauptbuches nach der andern aufblätterte und meine Augen mechanisch die Kolumnen musterten:
da schweiften, mit Verlaub zu sagen, meine Gedanken zurück in die ferne Vergangenheit, in die Zeiten meines Anfangs.
’s ist nun acht Jahre her, daß ich das erste Haus eröffnet habe: eine kleine kümmerliche Etage am Dönhoffplatz, und neben den stolzen Prachtbauten des Viertels konnte sich mein kleiner Betrieb gar nicht sehen lassen. Vier Damen beschäftigten wir damals – und wenns gar hoch herging, dann half wohl Stiefmütterchen in der Not mit aus, und ich saß an der Kasse [272] und überzählte die Scheine. Und welcher Aufstieg seitdem!
Haus reiht sich heute an Haus, Werk an Werk; da rauchen die Schlote, da gellen die Sirenen, da richten sich riesige Schornsteine freudig zum Himmel empor, und durch eine selbstverständlich horizontale Vertrustung ist es mir gelungen, den gesamten Mädchenhandelsmarkt zu kontrollieren. Medaillen prangen auf meinen Briefbogen; ich bin Hoflieferant, wenn auch ein aufrechter Republikaner, allerdings die guten Seiten des alten Regimes schätzend, aber natürlich durchaus verfassungstreu. Ein eignes Ressort ist damit befaßt, genau darauf zu achten, daß die Häuser – je nach der Kundschaft – auch die richtige Fahne heraushängen. Bei uns an der Gösch!
Ja, wenn ich so zurückdenke … Was hat allein die, mit Verlaub zu sagen, Revolution in Deutschland uns für Schwierigkeiten bereitet! Am idealsten ist die Sache in unserm „Anschlußheim“ gelöst: das hat eine doppelte Straßenfront, rechts flattert Schwarz-Weiß-Rot, und links weht, im jeweiligen Winde, Schwarz-Rot-Gold. Rechts ist alles volkhaft eingerichtet, wie es der echte deutsche Mann liebt: zierliche Guirlanden ziehen sich durch echt deutsche Rheinzimmer, sinnige Plakate schmücken die Wände – „Deutsche, vergewaltigt deutsche Mädchen!“ – und deutscher Wein rollt durch deutsche Kehlen. Links hingegen können sich die Besucher an allen Freuden der Demokratie gütlich tun: kein Zimmer ohne Schaukel und ohne Filzpantoffel.
Befriedigt verließ ich den „Garten des Paradieses“ und begab mich zum Bijou meiner Betriebe: in den von mir gegründeten Kammerpuff. Mit dem hatte es eine eigne Bewandtnis.
Der „Kampu“, wie er in vertrauten Kreisen gern genannt wird, war errichtet worden, um auch den raffiniertesten Ansprüchen einer subtil empfindenden Kundschaft gerecht zu werden. [273] Hier gab es sonderbare und seltsame Einrichtungen – „Jedem das Seine“ stand über der dekorativen Haustür – und da hatten wir als Attraktionen: ein Mitglied vom sozialdemokratischen Parteivorstand, das zugleich Pazifist war, es war äußerst zerbrechlich und wurde nur von weitem gezeigt, was vielen mit Recht genügte; einen deutschen Minister, der Deutsch konnte und es auch schrieb – ja, wir standen sogar im Begriff, uns einen Redakteur anzuschaffen, der bei seinem Verleger etwas durchsetzen konnte, aber bisher hatten wir noch keinen gefunden. In einem engen, vaterländisch ausgeschlagenen Raum konnte ein Richter Recht sprechen, und wo sollte er das auch sonst tun! Wir hatten einen lesbischen Regierungsrat und einen Major, der war Transvestit: er zog sich fortwährend sein Zivil aus und die lakaiserliche Uniform an; wir hatten Tauchermädchen, die stundenlang unter Wasser repunsieren konnten, und wir hatten Elefanten und Schaukelpferde, chinesische Enten und die Dolden edler Lilien. Das kostete nicht billig. „Bei Kisch!“ rief ich aus, „so ein Haus macht uns keiner nach!“
Nur eins hatten wir nicht: es waren Staatsanwälte zu uns gekommen und wünschten die gleiche Sensation zu haben, die sie bei der Konfiskation unsittlicher Bücher empfänden; aber da hatte sich das ganze Personal einhellig geweigert: solchen Ansprüchen, sagte es, könne es nicht gerecht werden.
So ging ich von Zimmer zu Zimmer, umgeben von meinem Stab, den Hausvorständen, dem Betriebsleiter und den Anstaltsgeistlichen: von Moltke, Feldrabbiner; der Kaplan Eusebius Brenda, dessen Amt sich seit Generationen vom Vater auf den Sohn vererbt hatte; sodann der Superintendent D. Dr. Raucheysen, der neidete dem Juden die Schläue und dem Pfaffen die politische Macht und ersetzte, was ihm fehlte, durch rücksichtslose Würde. Das war der seelsorgerische Beistand, [274] und wenn man genauer hinsah, konnte man die drei gar nicht voneinander unterscheiden.
Doch nun war es dämmrig geworden, und ich rollte in meinem Wagen mit Rückkupplung davon.
Durch dunkle Straßen kamen wir, vorbei an Fabriken, die ihren Menscheninhalt ausspien. Da bewegten sich die lebenden Maschinenarme, stießen, schoben sich im Gedränge um meinen Wagen – ausgemergelte Männer mit müden, stumpfen Gesichtern, Frauen mit schlaffen Brüsten; mir schien, als seien sie mir feindselig gesinnt, besonders die Weiber. Pfiffe … Und ich begriff gar nicht, wie diese Frauen jemals auf den Gedanken verfallen konnten, ihre schöne Arbeit aufzugeben und Anstellung in unseren Betrieben zu suchen. Hatten diese nicht alles, was ihr Herz begehrte? Eine geachtete ehrliche Arbeit? Und zehn Stunden dazu? Und einen Wochenlohn von achtzehn Mark fünfzig?
Ich hielt erst vor der „Blauen Grotte“, dem größten meiner Häuser, das grade in vollem Betrieb war. Und voyeurte durch die Gucklöcher.
Da lagen sie.
Da lagen sie und lachten verschmitzt, als hätten sie dem lieben Gott etwas abgeluchst, was ihnen eigentlich nicht zustände – viele hatten ernste und verbissene Gesichter, nie waren sie so außer sich, wie wenn sie in sich gingen. Die Kunden zerflossen irr, alle Temperamente waren vertreten, verliebt war keiner, alle eilig. Keine Geste war mir fremd – ich kannte sie, die Monomanen, die zutiefst im andern nur sich selbst spiegelten: Kasperlefiguren ihres Ich, das im Rhythmus des in sie gelegten Schicksals auf- und abzuckte. Herkömmlich ihre Individualität grade in dieser Stunde, traditionell ihre Besonderheit, in jeder Kabine wähnte sich einer Gott und war Serienartikel, Leben, das nur Wiederholungen kennt, [275] weil in der Wiederholung das Leben ist – kleine mechanische Püppchen, zu meinem Vergnügen an einer Schnur aufgereiht … Ich auch? Ich auch.
Versonnen schritt ich auf die matt erleuchtete Straße, in der schwarz und drohend der Wagen stand. Der Chauffeur schlief. Da traten vier ältere Herren auf mich zu, feierlich, lüpften die Zylinder, und nannten leise, wie fragend, meinen Namen. „Gewiß …“ sagte ich. Der Längste trat vor. Und sprach:
„Wir danken Ihnen im Namen der Sittlichkeitsvereine, daß Sie auf der Welt sind. Denn wären Sie nicht –: was sollten unsere Frauen tun? Wir sind alt, Herr Präsident; wir sind müde, Herr Präsident; wir sind ernste Geschäftsleute: wir wollen abends in Ruhe unsere Zeitung lesen und eine Zigarre rauchen. Durch die blauen Wölkchen der Havanna aber blicken unsre Frauen träumerisch ins Weite, weit fort vom Großreinemachen und der täglichen Wirtschaft; Sumatra erscheint und Celebes, wilde schwarze Männer zerren halb bekleidete weiße Mädchen ins Bordell, spitze Schreie steigen auf, und gepeinigt sinken die armen Opfer der Wollust auf die harte Bettstatt ihrer Schande. Aber da naht der Retter. Die blauen Jungens unsrer edeln Handelsmarine, unter Führung des Grafen Luckner, greifen mit kräftigen Fäusten ein, deutsche Hiebe hageln, der schurkische Mestize sinkt entseelt zu Boden, und stolz weht vom Heck des sittlich gereinigten Mädchens die Flagge Schwarz-Weiß-Rot!“ Erschöpft schwieg der Sprecher. Der Nächstlängste fuhr fort:
„Und darum danken wir Ihnen! Denn jetzt haben unsre Frauen eine Beschäftigung – und eine, die sie, mit Verlaub zu sagen, befriedigt. Ja, sogar der Völkerbund bekämpft den Mädchenhandel – denn wer sollte die billige Nachtarbeit in den Fabriken tun, wenn Sie uns die Mädchen stehlen? Aber [276] handeln Sie nur so fort – wir sind wie das Militär: ohne einen Feind müßten wir elend verkümmern. Ihr Gewerbe ist abscheulich – doch muß es sein: Sittliche Entrüstung führt unsre reinen Frauen zur selben Entspannung, die Sie mit fluchbeladener Sünde zu erreichen in der beneidenswerten Lage sind!
Und nun bitte ich um eine Karte Ihrer Häuser –!“