Textdaten
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Autor: Arnold Ruge
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Titel: Englische Sitten
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aus: Die Gartenlaube, Heft 11, 19, S. 169–171, 294–296
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1868
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Englische Sitten.

Beobachtungen und Randglossen. Von Arnold Ruge.
1. Essen und Trinken.

Die Sitten eines Volks sind seine lebendige Verfassung. Wir wollen die Sache hier aber populär nehmen und den Contrast, der augenfällig genug ist, hervorheben. Es ist nur zu verwundern, daß dies nicht schon öfter und schärfer geschehen ist. Wir beginnen billig mit der Selbstschöpfung des Menschen, mit dem Essen und Trinken. Rind und Schöps waren den weisen Aegyptern lebengebende Götter, sie sind es, richtig verstanden, noch heute, und stehen bei den Engländern entschieden oben an, womit nicht gesagt sein soll, daß gekochte Schinken hier keine Verehrer fänden.

Als ich 1849, nach der glänzenden, aber verunglückten Demonstration des 13. Juni gegen die Unterdrückung der römischen Republik durch die französische, Paris zu verlassen hatte, wußte ich in der That nicht gleich, wo ich eine Zuflucht finden sollte. Da erhielt ich einen Brief von meiner Freundin Josephine d’Alquen aus Arnsberg, die mich an ihren Bruder, den Dr. Friedrich d’Alquen in London empfahl. Dies brachte mich zu dem ersten Versuch, in England eine neue Heimath zu gründen. Ich reiste ab. In Ostende fand ich den Londoner Dampfer, und hier begann meine erste Bekanntschaft mit dem englischen Leben. Für meine Sachen dachte ich auf dem Schiff eine Marke zu bekommen: „ich würde sie schon wiedererkennen“, hieß es. Da die Fremdenbill noch existirte, so machte der Capitain eine Liste der Fremden; als ich ihm bemerkte, er habe meinen Namen nicht richtig geschrieben, erwiderte er: „Schon gut, schon gut! Name ist Name!“ und damit schlug er seine Mappe zu. Vor der Abfahrt wendete ich mich an den Schaffner und verlangte ganz continental „eine Portion“ von dem mächtigen Rinderbraten, der neben mehreren andern enormen Fleischschüsseln auf dem Tische stand. „Das steht Ihnen Alles zu Diensten,“ antwortete er und zeigte auf den reich beladenen Tisch, „schneiden Sie sich ab, bedienen Sie sich nach Gefallen. Was für Bier wollen Sie haben?“ Ich ließ ihn eine halbe Porter holen, den hatte man mir gegen die Seekrankheit empfohlen, und dachte: das wird eine schöne Rechnung geben. Die Rechnung wurde aber durch diese Ungezwungenheit nicht größer, es war nur der Unterschied der Sitte; bei uns die vorgeschnittenen Portiönchen, hier eine Reihe Fleischberge erster Größe, wie ich sie bis dahin allerdings noch nie mit Augen gesehen hatte.

Und ich sollte bald Vertrauen zu dem neuen System fassen; denn die Kölner Eisenbahn schüttete ein Rudel Engländer in die Cajüte, die mit einem heimischen Abendessen umzuspringen wußten. „Nun, das laß ich mir gefallen,“ rief Einer von ihnen aus, „da bekommt man doch wieder einmal ordentlich zu essen. Auf dem verwünschten Continent steht man hungriger vom Tische auf, als man sich niedersetzt. Sie waschen Einem den Magen mit warmem Wasser aus, das sie eine Suppe nennen, und dann überschwemmen sie das ausgekochte Fleisch noch mit Brühe, um Einen zu einem vergeblichen Essen zu verführen. Gott sei Dank, daß wir ’mal wieder einen ordentlichen Braten vor uns haben!“ Und nun ergriff er ein Messer, welches ich für den Säbel des Capitäns angesehen hätte, und schnitt uns Allen Scheiben Fleisch vor, auf denen wir die ganze Magna Charta hätten niederschreiben können. Es ist wahr, mit Befriedigung sieht man diese Fülle zu seiner Verfügung, aber am Ende rechnet der englische Wirth ganz richtig: der Gast kann doch nicht mehr als sich satt essen, und dafür zahlt er so und so viel.

Einigen Einfluß auf das Eßvermögen mag die Sitte, große Braten und ganze Käsebrüche vor sich zu sehen, denn aber doch haben. Man ißt hier mehr, vornehmlich mehr Fleisch und mehr trockene substantielle Kost, als auf dem Continent. Suppen werden wenig cultivirt, Saucen ebenfalls nicht; und ich finde mich nach achtzehnjährigem Aufenthalt diesen trocknen Substanzen gegenüber, wie z. B. kaltem Rinderbraten und großen rauchenden mehligen Kartoffeln, noch oft in Verlegenheit. Die großen mehligen Kartoffeln halten die Engländer für die besten. Die Spanier senden jetzt im Frühjahr schöne gelbe kleine Kartoffeln herüber, ehe hier noch welche reif werden. Dies ist die vollkommene Frucht, etwas ganz Ausgezeichnetes! Man kauft sie aber sehr billig, weil – sie nicht englisch und nicht mehlig sind. Alles, was in England wächst, gilt für feiner und besser, sogar die Trauben, die doch nur im Treibhause reif werden. Ein Bekannter von mir – ein alter Thor freilich – reiste eigens nach Paris, um Louis Napoleon eine große Traube aus seinem Treibhause zu bringen. Man hielt ihn lange hin, weil man ein Attentat hinter diesem Unsinn witterte. Als er endlich vorgelassen wurde, war die loyale Traube schon angefault, aber der Kaiser wußte dennoch die – Gesinnung zu schätzen, die sie ausdrückte.

Die Suppen, die man hier in England schätzt, sind dann meist ebenso nahrhaft und sättigend, wie die Fleischgerichte; so die Turtle- und Mockturtle- und Ochsenschwanz-Suppe. An diese derbe Kost, die nebenbei auch gehörig gepfeffert wird, hat der Neuling sich erst zu gewöhnen, ehe sie ihm bekommt. Keine Nation ist fester von dem Lehrsatz überzeugt: Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen, als die englische. Mit Gepränge wird das Fleisch, das Geflügel, alle Eßwaaren, zu Weihnachten die Rosinen in den Schaufenstern ausgestellt. Ganze Berge von Rosinen sind an den Glasfenstern aufgeschüttet; kein Schaufenster des Continents beherbergte je dergleichen. Weihnachten, das Geburtsfest der jungen Sonne, ist zum Roastbeef- und Puddingfest geworden, wobei natürlich auch etwas Besseres getrunken wird, als gewöhnlich, das Weihnachtsbier, jede Art um einen merklichen Grad verbessert. Ein Geflügelhändler ziert um Weihnachten sein Haus von oben bis unten mit Geflügel. Dazwischen hängt die Stechpalme, Holly, mit rothen Beeren, und das Gas hat die ganze Schaustellung glänzend hervorzuheben. Ebenso strengt sich der Fleischerladen an – die Fleischerläden sind hier nicht aus den Straßen auf einen Fleischmarkt verbannt – ganze Hammel mit roth- oder blauseidenen Rosetten verziert, werden ausgehängt, den berühmten Saddle of Sussex Mutton (Sussexer Hammelrücken) nach außen, der besser sein soll, als Rehrücken, und ungewöhnlich große prachtvolle Rinderbraten von fünfundzwanzig bis fünfzig Pfund sieht man auf den Marmorplatten dieser Läden zur Schau gestellt. Auch zeigt es sich bald, daß diese Künstler für Kenner gearbeitet. Es bilden sich Gruppen vor solchen Ausstellungen, würdigen sie und wissen das Gute dieser Welt in dieser Form sehr zu schätzen. Hierbei ist zu bemerken, daß die Verehrung vor dem guten Braten auch einen officiellen Ausdruck erlangt hat. Das Lendenstück vom Ochsen heißt „Sir Loin“, gleich dem deutschen „Freiherr von der Lende“. Heinrich der Achte, auch sonst ein Schlächter, vollzog diesen Ritterschlag an dem Lendenstück. Wenn Einer den Titel Sir erhält, wird er noch heute zum Ritter geschlagen und so ein Bruder des Lendenstücks; aber hony soit qui mal y pense! Beide Leistenstücke zusammen, der Rücken mit den beiden Sir Loins oder der doppelte Sir Loin heißt dann Baron of beef, das heißt, der Rindsbaron. Ihre gegenwärtige Majestät ist eine große Liebhaberin von Rinderbraten, ja, sie soll ihn dem feinsten Wildpret vorziehen. Von dem letzten Festochsen kam der Baron in ihre Küche; er wog hundert Pfund, und es war kein Kochofen groß genug, ihn zu braten. So spottet der Baron der unzureichenden Vorrichtungen unserer Civilisation und deckt einen Mangel in der Verfassung Altenglands auf.

Große saftige Roastbeefs und Plumpudding sind allerdings Gerichte, die nach Deutschland verpflanzt zu werden verdienten. Plumpudding ist Rosinenpudding. Der Engländer nennt nämlich die Rosinen kurzweg plums, Pflaumen, und es sollte mich nicht wundern, wenn Mancher dies Ingredienz seines Nationalgerichts für eine einheimische Frucht hielte, wie er die spanischen Weine ohne Weiteres „unsere englischen Weine“ nennt! Und warum sollten die Deutschen sich nicht an diese Gerichte gewöhnen? Sagt doch schon der große Dichter:

„An gute Kost gewöhnt der Mensch sich leicht,
Wenn Du der schlechten gänzlich ihn beraubst.“

Bei aller Anerkennung der englischen Verfassung hinsichtlich des Essens und Trinkens, muß man aber doch sagen, daß sie im Essen eben so abergläubisch sind wie in ihrer Metaphysik. Sie essen absolut nichts, was sie „roh“ nennen, und wenn es roh ist, [170] so nennen sie es nicht so. Ich schenkte einem Freunde eine Büchse voll Kieler Sprotten und lobte sie ihm sehr. Er versprach auch wirklich, sie zu versuchen, aber nach langer Zeit fand ich, daß er keine einzige angerührt und sie alle hatte verderben lassen. Geräucherten Lachs rösten sie vor dem Feuer. Unglaublich, aber leider wahr! Spickhäringe werden nur geröstet gegessen! Spickaale rühren sie nicht an. Rohen Schinken – westfälischen Schinken halten Manche für Bärenschinken, wie er in einigen Schulbüchern aufgeführt wird, – geräucherte Schlackwurst Spickgans – „welch ein Gräuel, das Alles ungekocht zu essen; die Deutschen sind doch rechte Barbaren!“ Die Anschovis in Oel, die in hermetisch verschlossenen Blechbüchsen herüber kommen, haben sich dagegen eingebürgert, als wären sie gekocht, was Viele zur Beruhigung ihres Gewissens glauben.

Ein Bekannter von mir und ein werther Freund und Genosse dieses Exils versüßte sich dasselbe und heirathete eine Engländerin.

„Sie ist ohne alle Vorurtheile, verlangt nicht einmal, daß ich mit ihr in die Kirche gehen soll.“

„So? Ißt sie denn auch geräucherte Delicatessen?“

„Natürlich!“

Aber er irrte sich. Als ich ihm einen Spickaal aus Hamburg mitbrachte, erschrak sie vor dem Gedanken, daß er genießbar sein sollte, und er mußte ihn allein verzehren. So lange Ich das Vergnügen gehabt, mit ihr gelegentlich zu Tische zu sein, hat sie nichts Geräuchertes angerührt, das nicht vorher geröstet gewesen wäre oder wovon wir nicht gewissenloser Weise versichert hätten, es sei vor dem Räuchern gekocht worden, zum Beispiel von der Braunschweiger Wurst.

Einmal traf mich ein englischer Freund vor einem Teller saurer Milch. Ich bot ihm auch einen an. „Verdorbene Milch? Pfui!“ rief er aus, und er ist sonst ein artiger und freisinniger junger Mann, ein Dissenter von den Dissenters, wie der brave John Bright. Man sollte denken, es wäre doch Einer zu verführen, einmal geräucherten Lachs oder westphälischen Schinken zu kosten; aber nein! Sie sind darin, wie die Juden, es ist ihnen buchstäblich ein Gräuel. Und nun vollends die Froschkeulen! Die Franzosen gelten für halbe Cannibalen, daß sie sie essen. „Die gräulichen Froschfresser, die Franzosen!“ sagen die Engländer. Die Franzosen sind so boshaft, ihnen nachzusagen, die meisten Froschkeulen in Paris würden von Engländern verzehrt, aber zu Hause leugneten sie es. Man muß sich nur wundern daß sie frische Austern essen, die doch sicherlich nicht gekocht aus der See kommen. Ebenso muß man sich wundern, wie sie alle die Häringe unterbringen, die an ihren Küsten gefangen werden, da sie durchaus keine gesalzenen Häringe essen, sondern sie erst alle anräuchern, nachdem sie gesalzen sind, und dann rösten. Dagegen essen sie bekanntlich rohen Sellerie, und die lang aufgeschossenen zarten Salatblätter tunken sie oft nur in Salz. Unser Kopfsalat soll, nach England verpflanzt, in einigen Jahren sich als solchen Blättersalat naturalisiren; auch der Sellerie wächst üppiger in diesem feuchten Klima. Seacale, Seekohl, ist mir nur hier vorgekommen; er ißt sich wie Spargel und wird meist ohne unmittelbaren Zulaß der Sonnenstrahlen gezogen. Den Spargel läßt man grün aufschießen; doch findet man ihn auch wie bei uns gezogen und gestochen.

Der Engländer ißt sehr regelmäßig, er macht sich mehr zum Sclaven der Uhr, als wir. Seine Tischsitten sind abweichend. Die Tischgenossen finden verschiedene Schüsseln vor sich, von denen aus sie sich gegenseitig vorschneiden oder vorlegen; Jeder findet ein Salzfaß neben sich; Port und Sherry werden herumgeschoben. Bei großen Gesellschaften treten Kellner und Bediente ebenso auf, wie bei uns. Man ißt mit der Linken und führt nur die Gabel zum Munde; das Messer an die Lippen zu bringen, ist barbarisch. Fisch ist mit Brod in der Linken und der Gabel in der Rechten zu essen. Der Pfeffer ist in einer Streubüchse, es wird sogar Cayennepfeffer genommen; jedes Salzfaß hat seinen Löffel; eigene Buttermesser, eigene Brodmesser, hölzerne Brodteller; jede Weinart hat eigene Gläser, es giebt also Portgläser, Sherrygläser, Claretgläser, Hockgläser (Gläser für Rheinwein), Champagnergläser; natürlich auch eigene geschliffene Flaschen, Decanters, zu jeder Weinart. Unbegreiflich ist es mir bis jetzt geblieben, wie man nach dem Champagner Porter trinken kann, der schäumend in vergoldeten Bechern herumgegeben und nicht verschmäht wird. Es gehört überhaupt eine heroische Anstrengung dazu, so etwas wie Porter zu trinken, aber die Sitte setzt es durch, gerade wie das noch viel unbegreiflichere Tabakrauchen, welches, beiläufig gesagt, hier noch sehr unter dem Druck der Damen liegt, die den „Gestank“, wie sie sich fanatisch ausdrücken, in den Wohnzimmern durchaus nicht dulden.

Wenn man unter das englische Volk kommt, ist man höchst angenehm überrascht von den vielen eigenthümlichen Charakteren, und, ihnen gegenüber, von einem unerschöpflichen Humor und Witz, der, vornehmlich in Volksversammlungen, meistens sehr schlagend zum Vorschein kommt. Als Edwin James, der berühmte Advocat, sich für den Londoner District Marylebone in’s Parlament wählen ließ, sagte er: „Ich kann in Euer Viertel ziehen, ich bin unverheiratet.“ – „O, Du alter Sünder!“ unterbrach ihn einer von den Wählern. Mit diesem Humor anglisiren sie sogleich das Fremde und wenden Einheimisches in Witzworte um. So heißt der Corso des Königs in Hydepark, Route du Roi, jetzt Rotten row, faule Allee, und die Buffetiers des Königs Beefeaters (Rindfleischesser), der Omnibus ist der Bus und sein Kutscher der Bustreiber, D. D., Doctor of Divinity, d. h. der Theologie, liest das Volk gottloser Weise Double Donkey, Doppelesel.

Fast alle Thiere werden bei menschlichen Vornamen genannt, wie Tom Cat, Thoms der Kater, Billy goat, Wilm der Bock etc. Ganz merkwürdig ist die Titulatur mit bloßen Buchstaben. So heißt M. P. Member of Parliament; man sagt aber auch wirklich: er ist M. P., D. D., L. D., Doctor Juris, M. D., Doctor der Medicin, indem man nur die Buchstaben ausspricht. Ueber Sir Loin und Baron of beef haben wir schon gesprochen. Hochheimer und nach ihm alle Rheinweine sind Hock, Xeres und darnach alle spanischen Weißweine sind Sherry, Oporto und aller iberische Rothwein ist Port. Porter beißt the heavenly wet, das himmlische Naß; Old mild, nämlich Ale alt und milde, ist Grany (die Großmutter); Old and bitter (Ale), alt und bitter ist mother-in-law (Schwiegermutter); Old Tom, alter Kater, ist eine gute Art Genèvre, der davon so gut geworden sein soll, daß zufällig ein alter Kater hineingefallen.

Das unmäßige Trinken ist in den höheren Ständen nicht mehr so arg, als früher, wo solche Ausdrücke entstanden, als: he is a seven bottle man, he is only a four bottle man (er kann sieben, er kann nur vier Flaschen vertragen). Von dem starken Trinken nach Tische schreibt sich die Sitte her, daß die Damen beim Nachtisch aufstehen und die Tafel allein verlassen, wo ihnen denn der Hausherr die Thür zu öffnen hat. Man öffnet hier nämlich denen, die sich verabschieden, die Thür, während man sie bei uns eher vom Fortgehen zurückzuhalten sucht. Die höheren Classen also betrinken sich jetzt seltener, als sonst, doch habe ich gehört, daß ein Arzt sagte: „Nicht nach Tische, ich will morgen kommen!“ Was sagen die deutschen Aerzte zu dieser Bequemlichkeit?

Die niederen Classen sieht man hingegen häufiger durch die Straßen taumeln. Ich fand einmal zwei Arbeiter vor mir, die mir den Bürgersteig sperrten und sich wiederholt herzlich die Hand schüttelten ohne loszulassen. „Gute Nacht!“ rief der Eine, „Gute Nacht!“ der Andere. Dann begann der Erste von Neuem, und sein Freund wiederholte ganz empfindsam den Abschiedsruf; aber ihre Freundschaft ließ es nicht zum Scheiden kommen. Cicero hat doch Recht, dachte ich, nur gute Menschen können innige Freunde sein. Endlich mochten sie wohl finden, daß sie mich denn doch zu lange aufhielten; sie ließen sich los und Jeder fiel nach seiner Seite vom „himmlischen Naß“ überwältigt in das irdische und rollte darin umher, bis der unerbittliche allgegenwärtige Schutzmann ihnen zu einer dunkeln Schlafstelle auf dem Stroh der Polizeiwache verhalf. Die englischen Biere sind im Grunde alle zu stark, und je nach der Ernährung des Trinkers kann ein geringes Maß schon berauschen Da sie verhältnißmäßig viel zu theuer sind (ein Seidel Porter drei, ein Seidel Ale vier, ein Seidel Old mild sogar sechs Silbergroschen), wenn man sie nicht im Fasse kauft, so ist es höchst wahrscheinlich, daß alle Fälle von Angetrunkenheit mit viel geringerer Schoppenzahl bewirkt werden, als bei uns, wo man weniger Trunkenheit auf der Straße gewahr wird, als hier.

Gegen die Trunkenheit, aus der sehr viele Gewaltthaten entspringen, gefährliche Schlägereien und besonders Wifekicking and Wifekilling, daß die Ehefrauen mit Füßen getreten und [171] todtgeschlagen werden, gegen diese geselligen und häuslichen Uebelstände, die natürlich folgten, wenn am Löhnungstage die Frau den Eheherrn aus der Schenke holen mußte, um noch etwas Geld für die Woche zu retten, gegen diesen Krebsschaden der Gesellschaft entstanden zuerst die Mäßigkeitsvereine. Diese wollten aber nicht durchschlagen, denn was war mäßig, was unmäßig? Es wurden daher die Total Abstinence-Vereine, die gänzliche Enthaltsamkeit übten, daraus. Jeder Theilnehmer that ein Gelübde, gar keine berauschenden Getränke mehr zu trinken. Die Gesellschaft scheint zu blühen, hält Versammlungen und Sonntags Predigten im Freien oder in Sälen. Sie haben Gesänge und Gesangbücher und eigene Lieder; eines drückt den festen Entschluß aus, die Abschaffung des verruchten Alkohols durchzusetzen. Sie geben manchmal große Theegesellschaften. Dadurch sind sie zu dem Spottnamen Teatotallers gekommen, den sie selbst adoptirt haben. Die Beredsamkeit, die Macht der Beweisführung, die Schlagfertigkeit ihrer Führer und Redner ist bewundernswürdig. Wird man nicht überzeugt, so ist man doch verblüfft. Sie beweisen echt englisch ihr ganzes System aus der Bibel und behaupten kurzweg, daß all’ der Wein von Vater Noah bis zur Hochzeit von Cana gar kein Wein, sondern Most gewesen wäre, und Most, glauben sie, berausche nicht. Wie sie Noah weiß brennen, erinnere ich mich nicht mehr, daß sie es aber fertig bringen, hab’ ich erlebt.

Durch diese energische Bewegung, die nur als Gegenstoß gegen die Gräuel der Trunkenheit entstehen konnte, ist sehr viel Gutes gestiftet worden. Dennoch ist es bekannt und wahr genug, daß sie sich zum Fanatismus und zur Tyrannei gesteigert hat. Sie hat in Nordamerika in einigen Staaten die Mehrheit der Repräsentanten erlangt und Verbote gegen alle Spirituosen erlassen, ja, sie macht in England Anstrengungen, es zu ähnlichen Gesetzen zu bringen. Wer nun aus demokratischern Gottlosigkeit nicht an den Nutzen der edlen Lords glaubt, der wird doch stutzig werden, wenn er sich überlegt, daß die edlen Lords sich sicherlich weder ihre Wein-, noch ihre Bierkeller .verbieten lassen werden, also eine Schutzwehr gegen die Tyrannei der Temperanzler sind. Es wäre möglich, daß sie nichts dagegen hätten, wenn dem gemeinen Volk aller Alkohol verboten würde, aber den edlen Lords, das ist nicht denkbar. Und wäre es nicht schade, wenn ein Bier (Old mild), welches erst im dreißigsten Jahr gezapft werden darf – nach dem Testament irgend eines braven alten Lords – nun wegen plötzlichen Bierverbotes im neunundzwanzigsten Jahr in die Gosse laufen müßte? Bei dem Gedanken an ein solches Attentat gegen den Gott Soma muß jedem Bierfreunde die Kehle trocken werden und die Laus über die Leber laufen. Alle Standesvorurtheile schwinden angesichts einer solchen Barbarei.

Der Eingewanderte, besonders der unfreiwillige, wird leicht noch eine Zeit lang die heimische Lebensart in England fortsetzen, Kaffee trinken, Suppen essen und sich für den Durst an’s Wasser halten. Aber der Arzt wird bald dazwischen treten mit der Warnung: „Sie leben zu ärmlich. Trinken Sie Porter, das himmlische Naß, das Götter und Menschen stärkt; essen Sie mehr Fleisch; trinken Sie Thee, wie wir, und essen Sie gebratenen Speck zum Frühstück!“ (Wie die Eskimos Thran trinken, um sich zu erwärmen, so braucht man hier vielleicht mehr Fettspeisen.) Statt aller Medicin ist mir wörtlich diese Diät verordnet worden, als ich das erste und einzige Mal hier krank wurde; und ich finde, daß ich – genesen bin, – ob post hoc oder propter hoc, das zu entscheiden überlasse ich unserm Freunde, dem Dr. Bock.

Gebratnen Speck und Bier frühstückte noch die Königin Anna; überhaupt aß man zur Zeit einer geringeren Civilisation in England viel mehr Schweinefleisch, der Fortschritt zu dem Könige des Fleischerladens, dem Gott Aegyptens, zu der Sünde des Rindfleischessens, die den Indiern ein solcher Gräuel an den Engländern ist, war, nach Buckle, dem berühmten Verfasser der Geschichte der Civilisation etc., auch ein Fortschritt in der Civilisation. Leider hat Buckle diesen wichtigen Gesichtspunkt nur andeuten können, die gründliche Ausführung findet sich nirgends in seinem Nachlaß.

Philipp der Zweite, der Gemahl der katholischen Maria, aß sich bekanntlich jedes Mal in englischem Schinken krank, wenn er herüberkam, um nachzusehen, wie seine Schöne die englischen Ketzer bediente. Leider genas das Ungethüm allemal wieder in der orthodoxen Luft der spanischen Autodafés, sonst hätten die guten Yorkshire-Schinken der Welt die Ausrüstung und das Scheitern seiner Armada erspart?

Jedermann weiß, daß hier in England gar kein Roggenbrod gegessen wird; neuerdings ist das Weißbrod noch glänzend verbessert worden durch das gelüftete Brod, ein Maschinenbrod von außerordentlicher Zartheit und Weiße; nächstdem ist das hausbackne Hefenbrod, unterschieden vom Bäckerbrod, das nicht mit Hefen gebacken wird, das beste. Dennoch werden auf dem Continent eine Menge feiner Gebäcke hergestellt, die sich hier durchaus nicht einbürgern wollen, nicht einmal die Zwiebacke und die Hörnchen.

Im Ganzen lebt der Engländer besser und mehr aus dem Vollen, als die continentalen Völker, aber in vielen Dingen ist eine Ausgleichung der Unterschiede das Richtige. So hat man sogar neuerdings die Einführung des Schwarzbrodes in Anregung gebracht, bis jetzt freilich ohne Erfolg.



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2. Behandlung der Hausthiere und des Gesindes.

Der Engländer ist Aristokrat, er ist es schon oder er sucht es zu werden. Daß er jetzt, durch Disraeli verführt, den Versuch macht, Demokrat zu werden, hat ihm noch wenig von seiner Elle aus dem Rücken genommen. Der krumme Rücken des Franzosen ist ihm ein Gräuel. Eine Dame beklagte sich, die Franzosen wären grob geworden. „Das ist ein Fortschritt,“ sagte ihr Gemahl, „wenn das wahr ist, so kann noch etwas aus ihnen werden.“ Wenn die Engländer zugeknöpft und vornehm sind, so wissen sie sehr gut, warum. Und wir können das Stimmrecht der Hausbesitzer, Aller, die eine Thür nach der Straße haben, diesen Schritt zur Demokratie, ebenso gut als einen Schritt zur Aristokratie ansehen. Jeder will Herr werden, vor allen Dingen sein eigener Herr. Der Herr braucht nun aber den Diener und – die Hausthiere. Wie Einer zu Gelde kommt, gleich schafft er sich Hunde, Pferde und Bediente an, während ein Schweizer, der plötzlich eine große Erbschaft that, sich in’s Bett legte und Rothwein trank.

Jedem Fremden, der nach England kommt; fällt gewiß die Fülle der galonnirten Bedienten, Carossen, Luxuspferde und Hunde auf. Wenn er dann vollends erst einige Male über die Hunde gefallen ist, die ihm nicht aus dem Wege gehen, – was sie sich natürlich von ihren Herren abgesehen, – ja die nicht einmal dem Stocke ausweichen wollen, so wird er sich auch überzeugen, daß diese Thiere hier eine andere Stellung haben, als auf dem Continent. Wo der Edelmann obenauf ist, da ist es auch der Hund. „Ein Junker hielt sich ein paar Hunde.“ Hier in England hält er sich gleich einen ganzen Hundegarten (kennel). Vor der Stadt Brighton, wenn man nach dem römischen Lager hinaufgeht rechter Hand, sieht man ein geräumiges Viereck eingemauert. In dem wandern und sitzen eine Menge Fuchshunde umher. Sie haben ordentlich Steige darin gelaufen. In der einen Ecke ist ein Verschlag. Hier füttert und regiert sie der Hundemeister. Würde ein Fremder aus Versehen über die Mauer kommen und unter sie gerathen, er wäre verloren und würde unfehlbar zerrissen; die Hunde sind hier allein, und weit und breit wäre keine Hülfe zu errufen. Der Hundegarten ist aus guten Gründen einsam gelegt. Diese seltsame Anstalt, die dem Lord Chichester, dem großen Dünenlord, gehört, kostet ihm jährlich etwa eintausend Pfund Sterling, sechstausend sechshundert sechsundsechszig Thaler. Der Adel hat seine Lasten. Der edle Lord muß den Fuchsjägern die Hunde füttern.

Solche Rolle spielt der Hund, und durch die ganz besondere Hundepflege ist es nun ein weitverbreitetes Vorurtheil in England geworden, daß der Hund Menschenverstand habe, und ich höre fortdauernd versichern, es sei nicht zweifelhaft, daß er denken könne.

Die Schätzung der Hunde durch die Herren und Damen führt zu Hundemoden und Hundepreisen, die fabelhaft sind. Die Häßlichkeit wurde geradezu für Schönheit erklärt, und so wurde sie Mode. Die schottischen Dachshunde (terriers sieht man alle Tage unter den verlorenen Artikeln auf der ersten Seite der Times. Bei ihnen ist man in Zweifel, welches Ende Kopf, welches Schwanz sein soll, und je mehr diese Vollkommenheit erreicht ist, desto höher wird das Meerwunder geschätzt, zu zehn, zwanzig, dreißig Pfund Sterling. Die Bullenbeißer-Terriers sind wo möglich noch ärger, glatte, schiefbeinige, großköpfige kleine Kobolde, und werden besonders geschätzt, weil sie Ratten, Katzen und Garotter höchst wirksam anfallen.

Auch die Preise der Schooßhündchen sind fabelhaft. Eine Dame meiner Bekanntschaft hatte für einen kleinen schwarzen Kläffer, eben weil er so klein war, fünfzig Pfund (dreihundertdreiunddreißig Thaler zehn Silbergroschen) gezahlt. Was dem edlen Lord Chichester seine Jagdhunde kosten, habe ich schon erwähnt.

Die theuren Hunde werden nun natürlich auf die schlaueste Weise gestohlen und dann entweder an den Eigenthümer selbst wieder verkauft oder auf der Eisenbahn weit weg- und einem fremden Liebhaber zugeführt. In London ist ein eigener Agent, der jeden abhanden gekommenen Hund wiederschafft, wenn ein annehmbares Gebot gethan wird.

Wenn man in der Zeitung liest: „Hundeversammlung beim Teufelsgraben am 1. April!“, so ist das nicht etwa ein Scherz, sondern heißt: dort werden sich die Fuchsjäger versammeln und sich für die Jagd natürlich mit Champagner und Ale stärken. Die Einnahme Mister Tacker’s, des jovialen Wirths am Teufelsgraben, ist bei solchen Gelegenheiten bedeutend. Er hat mir seine Keller gezeigt und mir die Geheimnisse solcher Tage verrathen.

Am Morgen einer angesagten Fuchsjagd strömen dann nach dem Frühstück, d. h. von zehn bis elf, von allen Seiten Reiter in scharlachrothen Fracks, auch im gewöhnlichen Reitcostume, und junge und ältere Damen zu Pferde mit und ohne Reitknechte zusammen. Kein Wetter, kein weiches Feld hält sie ab. Diese Jagdtage sind Festtage für Müßiggänger, die so das Einerlei der Langeweile unterbrechen und sich Appetit zu ihrem Abendessen holen, das sie aber Mittagessen nennen. Schießgewehre werden gar nicht mitgenommen, und man giebt dem Fuchs eine gute Strecke vor, ordentlich als wolle man ihn anständig behandeln und den Hunden, die das Feld wie eine Heerde Schafe bedecken, nicht zu leichtes Spiel mit ihm geben. Die Fuchshunde sind keine Windhunde, sondern eher unsere Jagd- und Hühnerhunde.

Die Jagd ist in der That mehr ein Spiel, als eine Fuchsvertilgung. Es kommt dabei mehr auf eine wilde Reitpartie und gelegentlich auf Courmacherei mit den jungen Damen an, als auf den Fuchs. Der ist nur das flüchtige Ziel, nach dem Alles jagt und rennt; das Jagen und Rennen ist der Zweck.

Reinecke aber kennt die Gefahr. Er macht keine unnöthigen Umwege und weiß, daß der grade Weg zu irgend einem Bau der kürzeste ist. Dies bringt die Verfolger oft in Verlegenheit. Doch über Hecken und Gräben, über Hohlwege und Verschläge, durch Sumpf und Busch verfolgen die Heerde von Hunden und ein ganzes Regiment von Reitern den einen armen Reinecke, der in der Regel bald verloren und dessen Ruthe das Siegeszeichen dessen ist, der zuerst bei dem Zerrissenen anlangt.

Dies grausame und halsgefährliche Spiel mit dem Leben eines armen Fuchses wird viel angefeindet. „Fuchsjäger“ ist wie unser „Junker“, ja noch schlimmer, aber nichts ist populärer, als dieses Jagdvergnügen. Der Geist, welcher sich mit Gesetzen und Strafen gegen die Hahnenkämpfe und das Boxen gewendet hat, kann hier noch nichts leisten, und der Spott der Humanisten und Fuchsfreunde hat keine Macht über die Eitelkeit, mit der Aristokratie herumzureiten und, wenn man nicht adelig ist, sich auf diese Weise selbst zu adeln. Wer Zeit und ein Pferd hat, kann mitreiten. Was das Mitreiten aber sagen will, sieht man aus Folgendem.

In Lewes traf ich neulich einen alten Herrn im Wirthshause der Eisenbahn. Da er die rothe Jacke anhatte, fragte ich: „Ist die Jagd denn schon aus?“

„O nein, aber mein Pferd wurde lahm und zwei Mal bin ich gestürzt. Sie sehen, wie ich aussehe. Da bin ich nun umgekehrt, habe mein Pferd in die Cur gegeben und will mich selbst mit einem Glase Burton-Ale pflegen; dies Bier zieh’ ich doch dem Champagner vor!“

So tröstete er sich über seine Unfälle.

Kurz darauf kam ein junger Rothrock; schien ein Officier zu sein. Der war weniger gut gelaunt. Er suchte vergebens seine Stimmung durch Pfeifen zu vertuschen; man hörte es ihm an, daß es nicht richtig war, und der Alte fragte: „Nun, was ist? Warum trinken Sie nicht eins?“

„Bin nicht aufgelegt!“ – neues Pfeifen – „hab’ mein Pferd erschossen; kostet mich hundert Pfund; war auf einen Pfahl gesprungen und hatte sich gespießt.“

Nach und nach erschienen auch die Anderen, die bis zu Ende ausgehalten und auf die der Zug bei Brighton wartete. Alle hatten mehr oder minder an Leib und Gut gelitten, aber der Fuchs war doch um’s Leben und – um seinen Schwanz gekommen! Wie viel junge Damen bei der Gelegenheit ihr Herz verloren, ist mir natürlich nicht bekannt geworden.

[295] Die Jagdpferde, vornehmlich der Damen, sind merkwürdig gut abgerichtet und sehr häufig wissen sie mit allen Schwierigkeiten des Terrains zu Stande zu kommen. Die Abrichtung der Pferde geht hier überhaupt weiter, als bei uns. Nicht nur die Dressur der Damenpferde, die auf Commando Trab oder Galopp gehen, auch die Pferde, mit denen die Fleischer umherfahren, ist auffällig; ebenso sind die Pferde der Milchmänner und wer sonst noch seine Waaren in Wagen ausfährt – man liefert hier Alles in’s Haus – wie Hunde abgerichtet. Sie kennen die Häuser der Kunden, sie bleiben ruhig stehen, während ihr Führer die Ablieferung der Waare besorgt, gehen auf seinen Zuruf zum nächsten Hause, wenn’s in der Nähe ist, und eilen, wenn er wieder aufsteigt, um eine längere Strecke zu fahren, im Galopp davon, weil der Fleischer sowie der Milchmann ein Interesse daran hat, seine Waare überall rechtzeitig abzuliefern. Diese Fleischerkarren sind zu gewissen Zeiten an Straßenübergängen und abschüssigen Stellen böse Gäste.

Tolles Fahren ist zwar hart verpönt, aber der Fleischer- und der Postkarren, der die Briefe aus den Briefpfeilern zusammenholt, beide haben in der That eine Entschuldigung für ihr rasches Fahren, und man hört nicht von Unfällen.

Die vielen Luxuspferde, die Carossen, die Wappenschilder an Kutschenthüren und im Siegel, die Hunde und die männlichen Bedienten werden theuer versteuert, am theuersten der Haarpuder der Bedienten und der goldene Knopf auf ihren langen Rohrstöcken. Die rothen Kniehosen und weißen Strümpfe, in denen ihre Waden hinten auf den Kutschen paradiren, sind bis jetzt noch nicht besteuert, durch Disraeli und die abessinische Expedition aber ernstlich mit einer Auflage bedroht.

Das Bedientenwesen oder -Unwesen – denn Müßiggang ist aller Laster und vieler Verbrechen Anfang – geht in der That sehr weit. Der Volkswitz hat auch für den Bedienten ein eigenes Schimpfwort, welches in den Wörterbüchern nicht aufgeführt wird, nämlich flunkey so viel als dienstbarer Geist. Bedientengeist und Bediententhum heißt dann Flunkeyism und ist im Witz der Volksberedsamkeit eine unentbehrliche Würze geworden.

Der Kellermeister (butler) nimmt den ersten Rang des edlen Hausgesindes ein und führt im Erdgeschoß bei Tische den Vorsitz. Manchmal scheint ihn jedoch der Jockey zu überholen. Der berühmte Jockey Grimshaw bekommt eintausend Pfund Sterling Gehalt; kein Butler bringt es über hundert Pfund und hat in der Regel nur vierzig Pfund. Der Jockey bringt aber auch bei den Wettrennen wieder enorme Summen ein, wenn er sich wirklich so bewährt, wie Grimshaw, der schon wiederholt den ersten Preis davongetragen hat.

Um sich einen Begriff von der Ausbildung des Bedientenwesens zu machen, braucht man blos die Titel des Gesindes aufzuzählen. Es wäre naiv, wenn Einer dächte, mit Knecht, Magd, Kutscher, Koch und Bedienten auszukommen. Der Jäger oder Wildhüter ist verschieden von dem Parkhüter, wo z. B. Hunderte von Fasanen und Rebhühnern von Hennen ausgebrütet werden, die dann Wald und Feld bevölkern und dem Bauer den Weizen ausfressen. Vom Parkhüter ist wieder der Gärtner verschieden, und der hat seinen Untergärtner. Der Jockey ist nur für die Rennpferde, der Reitknecht (groom) nur für die Reitpferde, der Kutscher nur für die Wagenpferde. Die eigentlichen Bedienten sind Valet und Laufbursche (footman), der Koch verläßt die Küche nicht, der Aufwärter bei Tisch ist zunächst und zuoberst der Kellermeister, dann der Valet und Laufbursch und unter beiden der Page. Bei kleinen Gesellschaften ist hinter jedem Stuhl ein Bedienter. Mägde im Eß- und Drawing Room erscheinen zu lassen, ist ganz ungehörig und ordinär. Die Aufwärter bei Tisch haben in Uniform oder in schwarzem Frack und weißer Halsbinde zu erscheinen. Daher der Ausdruck: Er kann eine weiße Halsbinde tragen, ohne wie ein Bedienter auszusehen. Die Herren Geistlichen haben diese Anstrengung zu machen; bei großen Gelegenheiten freilich Jeder, wo es denn auch eigene Putzhemden giebt.

Die Titel der Mägde sind noch zahlreicher, als die der Diener. Garderobenmädchen, Stubenmädchen, Kammermädchen, Aufwaschmädchen, Waschmädchen, Küchenmädchen, Scheuermädchen, Kindermädchen, Ober und Unterkindermädchen, Amme, Stillamme, Oberamme, Vorrathskammermädchen (stillroommaid), Büffetmädchen, Schenkmädchen, Kellnerinnen, Haushälterinnen, Leinzeugfrauen, Köchinnen, feine Köchinnen, einfache Köchinnen, d. h. für englische Hausmannskost etc. etc., denn

„Wer kennt die Aemter, nennt die Namen
Der Herren Bedienten und der Damen?“

Es herrscht eine strenge Rangordnung unter ihnen, mit der sie es eben so ernstlich nehmen, wie ihre Herren mit Nobility, Gentry und Handelsleuten oder Gewerbsleuten. Eine vornehme Familie kam mit ihrem ganzen Haushalt nach Brighton und nahm ein großes Hans an der Seepromenade für einhundert Thaler die Woche, welches dafür natürlich glänzend eingerichtet war. Die Dienerschaft war bisher zufrieden gewesen. Hier brach plötzlich eine Unzufriedenheit über sie herein, wie eine Epidemie. Zuerst erschien der Butler und sagte den Dienst auf. Angenommen. Dann der Kutscher. – Das ist unbequem! müssen ihn aber doch gehen lassen. – So folgte Einer nach dem Andern, die Mägde ebenfalls. Dies war unerklärlich. Endlich als auch Sophy, das Kammermädchen der Lady, erschien, verließ diese den kalten Geschäftston des: „Gut!“ und „Angenommen!“ mit den Worten: „Aber was in der Welt habt Ihr denn, und was ist es mit Dir, Sophy? Ich weiß doch, daß Du zufrieden bist; warum willst Du, und warum wollt Ihr mit Einem Male Alle fort?“

„Wir können nicht bleiben, denn wir können uns nicht zum Essen setzen. Der Eßtisch ist unten rund, und da weiß Niemand, wo oben oder unten ist und wo er nach seinem Range sitzen soll.“

„Da schlag’ ich vor,“ sagte die Dame lächelnd, „daß wir ihnen einen richtigen Eßtisch anschaffen!“ Und der Grund des Aufruhrs war gehoben.

Auf den Landsitzen der Reichen emancipiren sich die Angestellten so weit, daß eine Freundin uns erzählte, sie sei nicht im Stande, ihre eigene Butter zu erlangen, und müsse, obgleich sie die schönsten Milchkühe hielte, in der Stadt kaufen lassen; einige Spanferkel erobert sie indessen manchmal und theilt uns davon mit.

Das ärgste Beispiel einer solchen einreißenden Unabhängigkeit ist aber wohl dieses: Wir pflegten im Sommer nach Kent zu gehen in das Gehölz von Pembury auf einen uralten Pachthof der Pfarrei, der Pelletgate hieß. In der Nähe ist der prächtige Park von Summerhill, den seiner Zeit Cromwell dem Richter Karl’s des Ersten, Bradshaw, geschenkt hat, der dann aber in die Hände der Firma Alexander und, als die einmal liquidirte, an den alten Isaac Goldsmid kam, der von Einigen auf fünfzig Millionen Pfund Sterling geschätzt wurde, jedenfalls aber ein fabelhaftes Einkommen hatte, denn Summerhill und die umliegenden Pachtgüter sollten ihm jährlich viertausend Pfund Sterling einbringen. Der Verwalter, dessen Name dem von Cromwell sehr nahe kommt, war aber weit entfernt davon, die Pachten richtig einzutreiben. Die Leute gewöhnten sich daran, umsonst zu wohnen, ja, einige berechneten noch Fuhren und Dienstleistungen für den Grundherrn, und der alte Herr Goldsmid hatte vier Jahre lang seine viertausend Pfund Sterling nicht erhalten, ohne den Ausfall zu empfinden und ohne sich zu beschweren, daß er noch dazu bezahlen mußte, – als seine Söhne den Zustand entdeckten, die Sache untersuchen und den Verwalter absetzen ließen. Die Stelle hatte ihm dreihundert Pfund eingetragen und man sollte denken, er hätte Ursache gehabt, sie sich zu erhalten. So gehen aber die Engländer mit ihren großen Gutsherren um. Adel bringt Lasten, noblesse oblige!

Fahren und Reiten wird von Herren und Damen kunstgemäß und kunstlos stark ausgeübt. Man sieht sehr viel schlechte Reiter, mehr gute Reiterinnen; auch lenken junge und alte Damen vielfältig ganz allein ihr Geschirr, ohne daß man von Unfällen hörte. Sie füttern die Pferde mit Zucker und Zwieback und machen sich so vertraut mit ihnen, daß die Pferde selbst ein Gefühl der Galanterie gegen sie fassen und ihnen schon darum nicht durchgehen. Ich habe mich selbst von pferdeerfahrenen Schönen spazieren fahren lassen und ihre Geschicklichkeit in allen Schwierigkeiten bewundert. Zu Wagen, zu Fuß und zu Pferde hat man links auszuweichen:

„Geh’ links, so bist Du recht,
Gehe rechts, so bist Du links!“

Die Reiterinnen weichen natürlich schon wegen ihres langen Reitkleides links aus. Prr! heißt Woh!

Die Damen tragen beim Reiten schwarze Tuchhosen, einen stehenden weißen Halskragen, einen runden Herrenhut und das bekannte fliegende Reitkleid. Dies ist meist schwarz, aber auch [296] grau und braun. Grau und braun ist vornehmer, weil es eigen und nicht gemiethet sein muß. Die gemietheten dagegen sind alle schwarz.

Mit dem Reitknecht in weiter Ferne hinter sich auszureiten, ist anständig; dagegen ist es für eine Dame höchst unanständig, ihn neben sich reiten zu lassen oder sich gar mit ihm zu unterhalten. Einiger Grund zu dieser strengen Sitte liegt in dem Zuge der romantischen Schönen, mit den Reitknechten durchzugehen. Vor einigen Jahren machte sich noch die Tochter eines Pfarrherrn (eines Sinecuristen von Vermögen) dadurch berühmt, daß sie den Reitknecht entführte und den Vater zur Genehmigung der Verbindung nöthigte. Aus den Zeitungen kam die Begebenheit in die Carnevalsposse (Pantomime).

Viele alte Herren von Stellung und Vermögen reiten der Gesundheit wegen und sehr oft ohne alle Vorübung und ohne allen Sinn für das Pferd. Man sieht sie hülflos ohne Schluß und Haltung im Sattel auf- und niederhopsen, und mancher von ihnen läßt sich so über den Kopf des Pferdes wegschleudern und verkürzt sein Leben durch den nämlichen Ritt, durch den er es verlängern wollte. So der berühmte und brave Sir Robert Peel. Er ist aber nur Einer von den Vielen, die so um’s Leben kommen.

Das Klima im Süden von England ist so mild und gleichmäßig – am 26. Februar d. J. war die Temperatur meines Zimmers ohne Feuer 12° Reaumur –, daß der Landmann für Pferde und Rindvieh keine eigentlichen Ställe, sondern nur offene Verschläge braucht. Es kommt hier selten zu Schnee und Frost, und der letztere ist nicht von Dauer und nicht scharf. Dabei hegt alle Welt das Vorurtheil, kaltes Wetter und ein ordentlicher Frost seien gesund. Für Luxuspferde und für die Anstalten, wo Milchkühe gepflegt werden, hat man natürlich die schönsten Ställe in den Städten und auf dem Lande. Die Arbeitspferde sind meist große flämische oder normannische Rosse, wie sie wohl noch Mancher aus der Zeit der französischen Messagerieen kennt.

Pflege und Fütterung der Thiere ist ausgezeichnet. Rennpferde bekommen sogar Bier und Brod. Schafe werden mit großen Runkelrüben fett gemacht. Das kurze Urgras auf den Kreidedünen wurde sonst für die Nahrung gehalten, welche die schönen Sussexhämmel so zart mache; jetzt mit der Rübenfütterung sind sie es nicht minder.

So ist die Thierwelt gewissermaßen verbessert und damit der Stoff veredelt worden, von dem wir uns nähren, und so eine neue verbesserte Auslage von uns hergestellt. Dabei muß ich freilich der Pflanzenesser gedenken, der Dissenters vom Fleischessen. Als ich zuerst nach England kam und aus continentaler Verzogenheit den Thieren weder Vernunft noch ein Recht zugestehen wollte, wurde ich von einem hiesigen Literaten hart angelassen, und er sagte in allem Ernst zu mir: „Es ist kein Wunder, daß ihr in Knechtschaft lebt, da ihr so despotisch und ungerecht gegen die Thiere seid. Das Thier hat auch sein Recht! Ihr seid Barbaren, daß ihr dies nicht wißt und nicht zugebt.“

Ich erzählte einem berühmten deutschen Flüchtlinge[1] von dieser Abkanzlung und meinte, die Hausthiere oder das Wild auf meiner Flur sei wohl rechtlich geschützt, das Recht habe aber nicht das Thier, sondern der Eigenthümer. Die Fische im Meer dagegen hätten doch gar kein Recht.

„Sie haben das Recht zu leben,“ erwiderte er, „zwar das Recht dandi in judicium (zu klagen) haben sie nicht, aber ich erkenne ihr Recht an und esse sie nicht, ich esse nur Pflanzenkost.“

Die armen Fische! wie Wenige sind so großmüthig, diese Lücke in der Weltverfassung, daß die Fischesser noch unverantwortlich sind, nicht zu benutzen! Vielleicht sind auch darum die Fischfresser, die Hechte und andre Kannibalen des Oceans und der süßen Gewässer, erst so gewissenlos geworden, daß sie ihre Bruder verschlingen, statt, wie unser Freund, von Pflanzenkost zu leben.

Arnold Ruge.



  1. Gustav Struve.