Textdaten
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Autor: Paul von Schönthan
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Titel: Einsame Weihnachten
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aus: Die Gartenlaube, Heft 26, S. 817–820
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[817]

Einsame Weihnachten.

Skizzen von Paul von Schönthan.
Mit Zeichnungen von A. Mandlick.

Die frühe Dämmerung des Weihnachtsabends war hereingebrochen. – Ein hochgewachsener Mann in den vierziger Jahren, mit halbergrautem Haupt- und Barthaar, stand etwas nach vorn gebückt am Fenster. Den erhobenen Unterarm hatte er an den Fensterbalken gelegt, der Kopf ruhte auf der äußeren Handfläche und die Finger bewegten sich leise auf der kalten, durchsichtigen Scheibe. Er sah auf das große Haus gegenüber. Im ersten Stockwerk saß ein junges Mädchen am Nähtisch bei der Lampe über eine Handarbeit gebückt, sie hantierte eifrig mit Wollfäden und dann flog die Hand auf und nieder, – die letzten Stiche an einer verspäteten Stickerei. Nebenan waren die Fenster eines Eßzimmers erleuchtet, in der Mitte am runden Tisch unter der Hängelampe hockten und knieten Kinder auf den Stühlen, das jüngste saß auf dem Schoß der Kinderfrau, die aus einem Buche vorlas und die kleine Bande in Zucht zusammenhalten mußte, bis Papa und Mama mit dem Aufbau der Bescherung fertig waren. Im zweiten Stock hinter den weißen Spitzengardinen begannen die Lichter des Baums aufzuflammen, aus den beiden Fenstern gerade gegenüber drang der helle Lichtschein, daß man bis ins Innere blicken und die kleinen Menschen erkennen konnte, die geschäftig hin- und herliefen, vom strahlenden Weihnachtsbaum zu den Tischen und Kommoden, auf denen die Geschenke ausgelegt waren.

Die Straße war menschenleer, nur von Zeit zu Zeit ging unten eilends jemand vorüber – an dem Abend hat niemand Zeit – und jeder sah im Vorübergehen zu den Fenstern der Häuser empor und suchte diejenigen, hinter denen die brennenden Wachskerzen strahlten. „Aha, da geht’s schon los!“ und dabei trabte er weiter.

Der Einsame am dunklen Fenster richtete sich auf, trat an den Schrank und schloß ihn langsam auf. Er suchte mit der Rechten zwischen leise klirrenden Gläsern, dann zog er eine Glocke hervor, eine alte Glocke aus Bronze mit erhabenen Blumen und Blattgewinden, eines jener Stücke, die ehrwürdig werden durch die Vorstellung, daß sie dem liebevollen Fleiße früherer Geschlechter ihre Entstehung verdanken, ehe die toten Maschinen alles tausendfach auf den Markt warfen. Aber noch kostbarere Erinnerungen [818] knüpften sich an diese Glocke.

Sie stammte aus seinem Elternhause. Ihrer vier Geschwister, saßen sie in der dunklen Stube am Ofen zusammen, von den süßen Schauern der Erwartung erfüllt, gruselnd, schweigsam und artig wie kaum jemals, dicht aneinandergeschmiegt, mit kurzen bangen Fragen ihre Aufregung verscheuchend, bis die Klingel nebenan ertönte, die Flügelthüren sich aufthaten und eine blendende Helligkeit ihnen entgegenstrahlte. Tretet ein in das Zauberreich der Kinderpoesie, in dem der fromme Duft brennender Wachslichter, frischer Tannen und der feine Lackgeruch der neuen Spielsachen eure junge Seele umfängt!

Und das ist dieselbe Klingel, die ihn und seine Geschwister einst rief. – Lange hatte sie geschwiegen, dann wurde sie wieder hervorgeholt, als sein Junge groß genug war, um selbständig, aber mit dem zierlichen Fäustchen an die Röcke seiner guten Tante geklammert, in die Stube zu trippeln, zaghaft und schüchtern, mit einem verlegenen Gesicht und vor Erregung gerötheten Backen. An drei Christabenden hat diese Klingel den geliebten kleinen Schatz, sein ganzes Glück, herbeigerufen, wie sie einst ihn gerufen hatte.

Dann fuhr des Schicksals Hand mit einem grausamen vernichtenden Streich in sein Leben. Die Lichter seines Weihnachtsbaumes waren verloschen, vielleicht für immer, er war wieder allein und er verbarg sich mit seiner tiefen Wehmuth vor den andern, vor fremder Freude, vor anderer Glück.

Er hatte sich in einen Lehnstuhl dicht am Schrank niedergelassen, es war dunkel und still im Zimmer, nur im Ofen knisterte es, wenn die verbrannten Kohlen durcheinanderfielen, und an der Zimmerdecke war ein helles schiefes Viereck, der Schein der Straßenlaterne, sichtbar. Er ließ den Kopf etwas auf die Brust sinken und blickte vor sich hin, ins Finstere.

In seinem Schoß lag die alte Klingel, er [um]schloß sie mit seinen Händen, dann lösten sich langsam die [lei]se zuckenden Finger, und er faßte sie an dem wackeligen B[ügel] und hob sie empor, langsam, vorsichtig, damit ihre Stimme nicht erwache. Aber seine Hand zitterte und weckte die wohlbekannten Töne aus unwiederbringlichen, vergangenen Tagen. Er ließ es noch einmal erschallen, das helle, freudige Geklingel – aber es blieb finster rings um ihn, und die Thür öffnete sich so wenig, wie sich Gräber öffnen. –

Dann legte er die Hand auf die Augen und schluchzte.

*  *  *

Das Postenstehen ist an sich schon eine der langweiligsten Beschäftigungen, und nun gar am Weihnachtsabend, noch dazu, wenn man ein blutjunger Scekadett ist, der erst kürzlich das behäbige Vaterhaus verlassen hat. Es ist ein Pech, gerade am Weihnachtsabend zur Wache kommandiert zu werden, aber einen muß es eben treffen. Es war im südlichen Dalmatien, wo mich dieses Schicksal ereilte; die Marine-Infanterie versah den Nachtdienst auf dem Lande, beim Pulvermagazin, beim Kohlendepot und auf dem Fort X; das letztere ist ein sehr wichtiger strategischer Punkt, der Schlüssel zu Oesterreich vom Süden her.

Die Wichtigkeit meiner Aufgabe – zwei Stunden lang um das Fort herumzuwandeln und auf die finstere Adria hinauszublicken, hatte mich mit der Reizlosigkeit dieses Dienstspazierganges nicht aussöhnen können. Wie ging’s jetzt wohl zu Hause her, und ich stand eingewickelt in den ewigfeuchten, steifen Wachtmantel, der mir in allen Richtungen viel zu groß war, das Gewehr im Arm, auf einem weltentlegenen Felsenvorsprung da unten bei den Morlacken und – wartete auf die Ablösung. Das ist hart, besonders wenn man selber noch ein bißchen Kind ist. Ich dachte an eine Lithographie, die ich auf dem Schulweg bei einem Bilderhändler zu sehen gewohnt war; sie stellte eine eingeschneite Schildwache dar, im Hintergrund waren hellerleuchtete Fenster zu sehen, hinter denen der Christbaum brannte. Jetzt kam ich mir selber so vor, nur der Hintergrund fehlte, – aber siehe da, plötzlich klirrte ein Fenster so ungefähr in Mannshöhe, und eine Frauenstimme rief die italienischen Dialektworte: „La senti“ („Hören Sie!“) herab. Nun sind ja in der Dienstvorschrift dem Wachtposten private Unterhaltungen untersagt, aber … das gute Herz der Ruferin sollte nicht verletzt werden – ich hatte die Frau mit ihrer Tochter schon am Nachmittag gesehen, sie war die Witwe des früheren Fortskommandanten und hatte sich nach dessen Ableben nicht entschließen können, den Ort zu verlassen. Und das noch immer hübsche Töchterchen verblühte in dieser Abgeschiedenheit, als wäre das so vollständig in der Ordnung.

„Kommen Sie doch einen Augenblick herauf, Kadett!“

„Ich darf nicht, Signora.“

„Ach was – ein paar Minuten am Christabend – das ist ja grausam so da unten …“

„Ich kann auch gar nicht, müßte ja an der Wachtstube vorüber …“

„Nicht nöthig, kommen Sie hier herauf – Marietta, Du bist stärker, hilf ihm …“

Diese Worte sprach sie ins Zimmer hinein. Ich weiß nicht, warum ich plötzlich anderen Entschlusses wurde, aber ich lehnte das Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett an die Wand, hing den Wachtmantel darüber und erklomm das gastlich geöffnete Fenster, aus dem sich [819] schüchtern zwei Mädchenarme mir entgegenstreckten. Dann stand ich in der Stube, in der warmen, hellen Stube, vor einem kleinen Weihnachtsbaum, und die welkende Strandrose reichte mir schweigend ein Glas dampfenden Glühweins und die Mutter machte einen Teller zurecht mit Nüssen, Honigkuchen und Baumbehang. Das leerte sie mir dann alles in die Tasche des Kommißmantels. Dann sollte ich wieder gehen. Aber der Wein war höllisch heiß, ich mußte mit den Händen abwechseln und nahm nur kleine Schlucke. So dehnte sich der Besuch doch auf ein kleines halbes Stündchen aus, während dessen ich mich völlig der kindlichen Freude hingab; ich hatte also doch meinen Weihnachtsabend, und einen mit einem Kuß, den mir die alte Frau mit versteckten Thränen der Rührung gab - es war mir, als küßte mich meine Mutter. Das Mädchen reichte mir die Hand. „Es ist gleich neun,“ sagte sie, sie wußte, daß das die Stunde der Ablösung war. Eine Minute später war ich wieder zu meiner Pflicht zurückgekehrt, in den Wachtmantel geschlüpft und hatte das klirrende Gewehr geschultert. Niemand ahnte, daß ich mein theures Vaterland eine halbe Stunde lang unbewacht gelassen hatte, „aber – sagte ich mir – an dem Abend fängt ja doch keiner Krieg an.“ – Und ich habe mich glücklicherweise nicht getäuscht. Dieser Weihnachtsabend ist ein leeres Blatt in der Weltgeschichte.

*  *  *

Ja, die Bande des Stammtisches – sie sind unbeschreiblich fest, und mancher kann sich nicht mehr davon befreien. Herr Pfeifer – das ist so ein eherner Stammtischgenosse, das Wirthshaus ist seine Welt, die gewohnte Tafelrunde ersetzt ihm alle anderen Arten des geselligen Verkehrs, die Häuslichkeit, das Familienglück. Er ist ein alter Junggeselle geblieben. „Ich habe den Anschluß versäumt!“ erklärt er auf Befragen, aber in Wirklichkeit hat er ihn gar nie ernsthaft gesucht . . . Er hätte ja das Wirthshausleben aufgeben oder beschränken müssen! Davor hatte er die meiste Angst. „Heute kommt wieder gar niemand!“ sagte er, zum so und so vielten Mal nach der Uhr sehend, denn er saß nur mit zwei Genossen an dem großen runden Tisch.

„Ja, einen Tag vor Weihnachten ...“ meinte einer der Stammtischfreunde erklärend.

„Werde froh sein, wenn der Rummel vorüber ist, kostet nur Geld und bringt einen aus seiner Ordnung,“ bemerkte Herr Pfeifer, und nach ein paar langen Zügen aus der Cigarrettspitze frug er, die Arme auf den blankgescheuerten Tisch legend, sein Gegenüber: „Aber Sie kommen doch morgen, Doktor?“

„Nee, bin in Familie,“ antwortete dieser.

„Und Sie?“ wendete sich Herr Pfeifer etwas unsicher an den andern.

„Bin auch eingeladen, – was machen denn Sie?“

„Was soll ich machen, es ist doch ein Tag wie ein anderer. Der Christabend ist für die Kinder, ich weiß nicht, was wir Erwachsene, die wir keine Kinder haben, dabei thun sollen – hm?“

„Aber es ist doch ein schönes Fest ... wissen Sie, das, was ein Dichter den jährlich wiederkehrenden Schalttag des Lebens nennt,“ meinte der gemüthvolle Doktor.

„Ja, ja,“ lächelte Herr Pfeifer, „es ist ja auch ganz hübsch, die Bescherung und so weiter, bis jeder entdeckt, daß ihm dies zu groß und das zu klein ist, und daß er sich etwas ganz anderes gewünscht hat, dann kommt die heimliche Verdrießlichkeit durchgesickert, alles ist müde, abgespannt ... ah, ich bitte Sie, ich habe es ja bei meinem Schwager ’mal mitgemacht – nie wieder! Ich will nichts hören davon. Meine Wirthschafterin bekommt ihre zwei Zwanzigmarkstücke – ich habe sie ihr schon gestern gegeben, da soll sie sich dafür kaufen, was sie will, und damit basta!“

Der Wirth, ein kleiner wohlgenährter Mann mit einem glänzenden glatten Gesicht, trat heran und stellte sich – die Hände auf die Lehne stützend und darauf trommelnd – hinter zwei leeren Stühlen auf.

„Morgen habe ich wohl nicht die Ehre?“

„Ach natürlich, doch nicht etwa des Festes wegen – hm, der auch!“ antwortete Herr Pfeifer verstimmt.

Der Wirth empfand das Bedürfniß, es gleich wieder gut zu machen. „Darf ich Ihnen einen hochfeinen Karpfen zurückstellen, Herr Pfeifer?“

„Was, Karpfen?“ krittelte der standhafte Stammtischgast, „denke nicht dran. Eß’ das ganze Jahr keinen Fisch, soll ich morgen einen Karpfen essen, der mir nicht schmeckt, nur weil Weihnachtsabend ist? Nein, nur keine solchen Sachen . . . ich kann das nicht ausstehen. Ein Tag wie der andere! Wer wird denn da Geschichten machen . . . Sie, übrigens, ich habe das Ihrem neuen Kellner schon gesagt, wenn er mir wieder ein Glas Bier bringt, so schlecht eingeschenkt, ich schicke es zurück . . .“

„Natürlich, Herr Pfeifer, haben vollständig recht!“ betheuerte der heuchlerische Biedermann von Wirth. Dann drehte sich das Gespräch zwischen den vieren um das Thema Bierpflege, das Geheimniß der Münchener Brauer, die Vorzüge des Pilsener Biers und um die muthmaßliche Rentabilität eines neueröffneten Bierpalasts an der Straßenecke. Zur gewöhnlichen Stunde löste sich die Gesellschaft, die heute nur ein Terzett gebildet hatte, auf.

„Nun also – kommt wirklich keiner morgen?“ frug Herr Pfeifer heimlich seufzend.

Die beiden wiederholten, während sie die Winterröcke anzogen ihre Verneinung. Dann machten sie sich, von dem Oberkellner, dem Wirth und dem Piccolo bekomplimentiert, auf den Weg.

Herr Pfeifer war in der That am nächsten Abend der einzige Gast am Stammtisch, ja überhaupt der einzige in der ganzen Kneipe. Nicht einmal der Wirth ließ sich blicken. Zum ersten Mal war der Pendelschlag der großen runden Wanduhr zwischen den verräucherten Kaiserbüsten zu hören. Der neue Kellner – ihn hatte es getroffen, den Abend im Dienst zuzubringen – stand in der Höhe des Fensters und blickte brütend auf die Häuser gegenüber, um doch auch ’was von einem brennenden Christbaum zu sehen.

Der einzige Gast störte ihn in diesen elegischen Betrachtungen durch die Bestellung eines zweiten Glases Bier, wobei er dem [820] Neuling abermals einschärfte, daß er sich eine ungebührliche „Schaumborte“ verbitte.

Dann holte er die Papierdüte aus der äußeren Brusttasche, stutzte mit der Cigarrenschere den gewohnten Glimmstengel, klopfte ihn bedächtig an der Tischkante ab und steckte die abgekniffene Spitze in die Westentasche.

„Hm, hm –– kommt wirklich keiner!“ sagte er zu sich selber, während er das Streichholz anrieb. Dann ballte er die Serviette zusammen und warf sie abseits auf den Tisch.

„Kellner, bringen Sie mir die „Fliegenden!“

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Der Weihnachtsabend des „ Stammgastes“.