Einfalt und Wahrheit
Die Vorzeit in ihrer einfältigen Tracht traf auf ihre Enkelin, die Nachwelt, ein freches und leichtsinniges Mädchen.
Sie wunderte sich über ihre üppigen Kleider, über ihre leichtfertigen Gebehrden und fing an zu murmeln. Diese aber, rüstig mit ihrer Zunge, warf der Großmutter Dummheit, Plumpheit vor, und strich dagegen ihrer Denkart, ihrer Beredsamkeit, ihrer Händ’ und Füße, ihres ganzen Körpers Leichtigkeit und Cultur hoch hinaus.
Die Alte konnte nicht einsehen, was denn das Sublime, Besondre und Ausgesuchte sei, das ihr fehle und die Nachwelt besitze. Da brachte diese ein so krummes, verdrehtes, gefärbtes Ding hervor, daß man ihm kaum einen Namen, geschweige Lobsprüche zu geben wußte.
Ernst und verachtend sah es die Alte an, und sprach: Schäme dich, Leichtsinnige! Ist dies das Glück deiner Zeit? ist dies der Fortgang deiner gerühmten Feinheit? Als ob ich das Alles nicht gekannt hätte! Ich schwöre dir: Hundert und tausendmal ward das zu meiner Zeit erdacht, aber sogleich verworfen; tausendmal versucht, aber sofort eitel und nichtig befunden; es wollte sich einschleichen und ward hinausgestoßen, bis ich endlich durch lange Uebung und durch die gewisseste Erfahrungen lernte: „Nichts sei so sicher, so beständig, so angenehm, so vortheilhaft für dieses und jenes Leben, als Einfalt und Wahrheit.“