Eine interessante Crustaceenform aus der Trias der Vogesen

Textdaten
Autor: Anton Handlirsch
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Titel: Eine interessante Crustaceenform aus der Trias der Vogesen
Untertitel:
aus: Verhandlungen der kaiserlich-königlichen zoologisch-botanischen Gesellschaft in Wien, Band LXIV, S. 1–8
Herausgeber: Victor Pietschmann
Auflage:
Entstehungsdatum: 23. Juli 1913
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Alfred Hölder
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Erscheinungsort: Wien
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Quelle: Internet Archive, Commons
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[1]
Eine interessante Crustaceenform aus der
Trias der Vogesen.
Von
Anton Handlirsch.
Mit Tafel I u. II.
(Eingelaufen am 23. Juli 1913.)

In einem Steinbruche des Grumbachtales unterhalb des Ortes Bischmisheim bei Saarbrücken fand Herr Dr. Paul Kessler in den grünblauen Tonlinsen, welche in der unteren Hälfte des Voltziensandsteines liegen und dem oberen Buntsandsteine angehören, drei Exemplare einer anscheinend noch ganz unbekannten Crustaceenform, deren Beschreibung er mir freundlichst übertrug. Aus brieflichen Mitteilungen Dr. Kesslers entnehme ich, daß außer diesem Fossil in den gleichen Schichten nur Estherien vorkommen, während im Voltziensandsteine selbst neben Landpflanzen und Süßwassertieren auch brackische und stellenweise rein marine Tierformen zu finden sind. Jedenfalls dürfte die Annahme berechtigt sein, daß sich der feine blaugrüne Schlamm, in welchem die schönen Fossilien liegen, in Süßwassertümpeln oder höchstens in brackischen Wässern ablagerte. Vermutlich lebten unsere Krebse, welche mit gut entwickelten Ruderbeinen versehen sind, aber einen unten flachen oder vielleicht sogar etwas konkaven Körper besaßen, nach Art des Apus am Grunde der Wässer, im Schlamme wühlend, aber doch auch schwimmend.

Obwohl der Erhaltungszustand der Exemplare auf den ersten Blick recht dürftig erschien, gelang es doch, durch wiederholte sorgfältige Untersuchung unter Anwendung der verschiedensten Beleuchtungsmethoden eine hinlängliche Summe morphologischer Details zu ermitteln, welche es nunmehr gestatten, ein wenigstens halbwegs [2] vollständiges Bild der Organisation zu entwerfen und auf Grund desselben Schlüsse auf die systematische Stellung und Verwandtschaft dieser merkwürdigen Tierform zu ziehen. In dem Bestreben, eine richtige Deutung vorzunehmen, wurde ich von den Herren Professoren E. Stromer (München), K. Grobben (Wien) und von meinem Kollegen Dr. Pesta unterstützt, wofür ich hier meinen besten Dank zum Ausdruck bringe.

Das eine von den drei Exemplaren (I.) liegt auf dem Rücken und läßt vollkommen deutlich einen 21mm langen und fast 9mm breiten, aus sechs scharf getrennten Segmenten bestehenden Vorderkörper erkennen, welcher flach gewölbt ist und jedenfalls eine etwas konkave Ventralseite hatte. Das mediane Drittel dieses Vorderkörpers enthielt offenbar alle Organe und bildet daher den eigentlichen Körper (die Spindel), während die beiden seitlichen Drittel jedenfalls nur flache Erweiterungen vorstellen. Das 1. Segment erscheint am Hinterrande 2½mal so breit als in der Mittellinie lang, am Vorderrande dagegen nur etwa 1½mal so breit; seine Seitenränder verlaufen bogenförmig, regelmäßig abgerundet. Das 2. Segment ist das kürzeste von allen und etwa viermal so breit als lang, das 3. nicht ganz dreimal so breit als lang, das 4. nur mehr doppelt so breit als lang und bereits etwas nach hinten verjüngt. Das 5. Segment ist etwas schmäler als das 4., zeigt aber ähnliche Verhältnisse. Das 6. Segment ist am Hinterrande der ganzen Breite nach tief halbmondförmig ausgebuchtet, so daß die hinteren Seitenecken scharf vortreten. In dieser Ausbuchtung sitzt das 1. Segment eines dünnen Hinterkörpers, dessen Breite auf dem Abdrucke etwa ein Drittel von jener des Vorderkörpers beträgt. Dieses 1. Hinterleibssegment ist etwa um ein Drittel länger als breit.

Vorne an dem 1. Vorderleibssegmente sitzt mit breiter Basis, aber scharf geschieden ein Kopf von fast genau halbkreisförmigem Umriß. Er ist etwa 5mm breit und läßt an der dem Thorax zugekehrten Seitenecke (links) das rechte relativ große, gewölbte zusammengesetzte Auge erkennen. Ziemlich nahe an dem Vorderrande sieht man sehr deutlich die gut erhaltenen Basalteile der beiden einfachen ersten Antennen, und zwar je ein etwas längeres, gegen das Ende kolbig verdicktes Basalglied und rechts fünf, links vier knopfartig verdickte Glieder der Geissel, welche offenbar länger war [3] und ein sogenanntes „rosenkranzartiges“ Aussehen hatte. Die übrigen Anhänge des Kopfes sind nur sehr schattenhaft als undeutliche Abdrücke zu sehen, doch glaube ich auf einer Seite (links) etwa acht Gliederreihen unterscheiden zu können, was also vier gespaltenen Gliedmassen entsprechen würde. Sie waren alle so kurz, daß sie den Rand des Kopfes nicht überragten.

Nahe dem Hinterrande des 1. Rumpfsegmentes liegen an den Seiten der mittleren Spindel die Insertionsstellen der 1. Beine, von denen (rechts) das linke relativ gut erhalten ist. Schief nach vorne ragt mit etwa zehn Gliedern ein flacher, einseitig mit langen nach hinten gekehrten Fransen versehener Ruderast in seiner halben Länge über den Seitenrand des Körpers hervor und ist hier so gut erhalten, daß man jedes einzelne von den herzförmigen Gliedern samt den Borsten scharf unterscheiden kann.

Minder deutlich ist jener Teil des Beines zu sehen, der auf dem Körper selbst liegt, doch glaube ich den deutlich gegliederten Ruderast mit noch etwa sechs bis sieben Gliedern bis zur Wurzel verfolgen zu können und außerdem einen 2. Ast zu unterscheiden, welcher nicht deutlich gegliedert ist und nach vorne unter dem Kopfe zu liegen kommt.

Auf dem 2. Segmente liegt die Insertionsstelle der Beine weiter vor dem Hinterrande, aber es ist nur die Endpartie des linken Ruderastes (rechts) außerhalb des Körpers erhalten, die nur zeigt, daß dieses Beinpaar offenbar ganz ähnlich beschaffen war wie jenes des 1. Segmentes.

Die Insertionsstellen des 3., 4., 5. und 6. Beinpaares liegen ähnlich wie jene des 2. etwas hinter der halben Segmentlänge seitlich an der Spindel, die Beine selbst sind nicht erhalten und haben nur mehr oder minder undeutliche schattenhafte Eindrücke an der Unterseite der Pleuren hinterlassen. Auch an dem 1. Segmente des schmalen Hinterkörpers sehe ich noch die Insertionsstellen eines vermutlich kleinen Gliedmassenpaares.

Von einer groben Skulptur oder Beborstung des Körpers sehe ich nichts, doch scheint es mir, als ob die Segmente fein lederartig chagriniert gewesen wären.

Ein anderes Exemplar (II) stimmt in bezug auf die Form und die Maßverhältnisse des Kopfes und Vorderkörpers fast vollkommen [4] mit I. überein und liegt wie dieses auf dem Rücken. Der Vorderkörper mißt 22mm und zeigt (rechts) die linke Extremität des 1. Segmentes. Bei genauer Untersuchung zeigte sich jedoch, daß in diesem Falle von dem (hinteren) Ruderaste nur ein Fragment erhalten blieb, während der vordere undeutlich segmentierte, mit unregelmässigen, offenbar weichen Fransen versehene Ast, dessen Glieder nicht herzförmig, sondern zylindrisch waren, in seiner Gänze nach vorne gekrümmt neben dem Kopfe vorragt. Dadurch ist wohl die Zweiästigkeit der Extremitäten erwiesen.

Auf der linken Seite sieht man dann noch Spuren des rechten 1. Beines, ferner einige Basalglieder des 4. und 5. und ein Stückchen des Ruderastes dieses letzteren. Von dem schmalen Abdomen, welches eine Länge von 13 mm erreichte, sind die drei ersten Segmente vollkommen erhalten; sie verjüngen sich nach hinten. Das 1. ist kaum länger als an der Basis breit, das 2. deutlich länger, das 3. schon doppelt so lang als breit. Dann folgt der Basalteil eines kurzen 4. Segmentes, an welches sich ein 21mm langer ungegliederter Fortsatz anschließt, der an der Basis breiter und mit einem Gelenke versehen, eine derartige Lage einnimmt, daß man ihn nur als rechtes Stück eines paarigen Organes, also einer ungegliederten Endgabel auffassen kann, die ja vielleicht dem modifizierten Extremitätenpaare des Endsegmentes entsprechen kann oder als akzessorisches Borstengebilde zu deuten ist.

Von einem dritten Exemplare (III) liegt Druck und Gegendruck vor. Es unterscheidet sich in einigen Punkten wesentlich von den beiden anderen, doch sind die Unterschiede solche, die man bei Crustaceen und speziell bei Copepoden als sexuelle erkannt hat: Der Vorderkörper ist bedeutend schlanker und der dünne Hinterleib zeigt um ein Segment mehr. Ich glaube, daß wir berechtigt sind, dieses Exemplar für ein männliches zu halten, während die beiden anderen jedenfalls dem weiblichen Geschlechte angehören.

Die Länge des Vorderkörpers, der wie bei den anderen Exemplaren aus sechs Segmenten besteht, beträgt hier 21mm, seine größte Breite nicht ganz 8mm. Das 1. Segment ist 2½mal so breit als lang, das 2. nicht ganz 3mal so breit als lang, das 3. nur wenig mehr als doppelt so breit als lang, das 4. nicht ganz doppelt so breit [5] als lang, das 5. etwa 1⅔mal so breit als lang und das 6., hinten sehr tief ausgeschnittene im Umrisse fast quadratisch.

Das Abdomen verjüngt sich nach hinten allmählich; seine vier ersten Segmente sind fast gleich lang; von dem 5. ist nur die Basis erhalten.

Von den Gliedmassen ist leider nichts erhalten, doch sieht man die Insertionsstellen der Beine nahezu an gleicher Stelle wie bei den weiblichen Individuen.


Es erscheint mir kaum zweifelhaft, daß diese interessante Form in keine der bekannten lebenden Crustaceenordnungen einzureihen ist. Wenn auch deutliche Beziehungen zu den Copepoden wahrzunehmen sind, so liegen doch in bezug auf die Gliederung des Körpers in die drei Hauptabschnitte, Kopf, Thorax und Abdomen sowie in bezug auf die Beschaffenheit der Gliedmassen und Augen bei dem Fossil noch derart ursprüngliche Verhältnisse[1] vor, daß mir die Errichtung einer eigenen Ordnung gerechtfertigt erscheint, für welche ich folgenden Namen vorschlage:


Ordo: Archicopepoda m.

Kopf wie bei den Trilobiten[2] mit einem Paar einfacher Antennen und vier kurzen, nach dem zweiästigen Typus gebauten Extremitätenpaaren, also offenbar aus sechs Segmenten bestehend. Seitliche Komplexaugen gut entwickelt. Thorax aus sechs flachgewölbten, scharf geschiedenen, breiten Segmenten bestehend, von denen jedes ein Spaltfußpaar trägt. Abdomen schmal, aus vier (♀) oder fünf (♂) Segmenten gebildet; das Endsegment mit langen, paarigen, ungegliederten Anhängen; die anderen Segmente (?) mit kurzen reduzierten Beinen.


Familia: Euthycarcinidae m.
Genus: Euthycarcinus m.

Kopf fast halbkreisförmig, mit breiter Basis in einer flachen Ausbuchtung des 1. Thorax-Segmentes sitzend, seine großen gewölbten Komplexaugen ganz an den Seitenecken liegend. 1. Antennen [6] mit etwas längerem Basalglied und zahlreichen scharf abgesetzten, fast herzförmigen Geisselgliedern. 2. Antennen kurz, zweiästig, den Rand des Kopfes nicht überragend. Mandibeln, 1. und 2. Maxillen? gleichartig, zweiästig und kurz.

Die sechs Thorakalsegmente scharf geschieden, an den Seiten flach ausgebreitet. Die Körperspindel nimmt etwa ⅓ der Breite ein und trägt seitlich an jedem Segmente ein langes, kräftiges Spaltfußpaar, dessen einer Ast aus zylindrischen, nicht scharf geschiedenen, unregelmäßig behaarten Gliedern besteht, während die Glieder des anderen oder Ruderastes flach herzförmig sind und an der nach aussen-, bezw. hinten gekehrten Ecke je ein bis zwei straffe, lange Borsten tragen.

In der breiten Ausbuchtung des 6. Segmentes ist das schlanke Abdomen inseriert, dessen vier (♀) oder fünf (♂) Segmente nach hinten zu immer schmäler werden. Gliedmassen der Abdominalsegmente jedenfalls viel kleiner als jene der Thorakalsegmente. Endsegment mit einem Paar unbewehrter, ungegliederter Anhänge, welche das Abdomen an Länge übertreffen, an der Basis gelenkartig angeschwollen und weiterhin dünn und borstenartig erscheinen.

Euthycarcinus Kessleri n. sp.

Thorax des ♀ 21–22mm lang, in der Gegend des 3. Segmentes (an der breitesten Stelle) 9–9·5mm breit; Abdomen etwa 13mm lang, die Schwanzanhänge etwa 21mm.

Thorax des ♂ 21mm lang, an der breitesten Stelle 8mm breit, Abdomen ? 14–15mm.

Kopf etwa ⅔ der Thoraxbreite. Geisselglieder der 1. Antennen so breit als lang. Glieder des Ruderastes der Thorakalbeine viel breiter als lang.


Phylogenetische Schlußbemerkungen.

Euthycarcinus Kessleri stimmt in der Totalzahl der Segmente mit den normalen freilebenden Copepoden der Gegenwart überein, unterscheidet sich aber dadurch, daß der Kopf noch aus der ursprünglichen Zahl von Segmenten besteht und nur fünf Gliedmassenpaare trägt, während bei den lebenden Copepoden durch [7] Angliederung mindestens eines Thorakalsegmentes ein Cephalothorax zustande gekommen ist, der also mindestens um ein Gliedmassenpaar mehr trägt als bei der fossilen Form. Dementsprechend zeigt der breite Vorderkörper der Copepoden eine geringere Zahl von freien Segmenten, also höchstens fünf oder noch weniger. Die Augen sind bei dem Fossil der Lage und Beschaffenheit nach entschieden viel ursprünglicher als bei den Copepoden, wo sie meist weit nach vorne gerückt, mehr oder minder reduziert und niemals als typische Komplexaugen erhalten sind. Die Schwanzanhänge sowie die Beine sind bei modernen Copepoden immer viel höher spezialisiert und die Körpergröße beträgt im günstigsten Falle ¼ von jener des Fossils.

Euthycarcinus erweist sich also in jeder Beziehung als viel ursprünglicher wie die Copepoden. Es kann dagegen nicht schwer fallen, den Typus eines Copepoden von jenem des Euthycarcinus abzuleiten.

Verglichen mit Trilobiten erscheint uns Euthycarcinus jedoch als bereits hoch spezialisierte Form mit streng limitierter Zahl von Segmenten in der Thorakal- und Abdominalregion. Die Gliedmassen freilich scheinen in der Kopf- und Thoraxgegend noch wenig Fortschritt gemacht zu haben und erinnern lebhaft an Verhältnisse, wie wir sie bei dem klassischen Triarthrus Becki finden.

Ich glaube nicht, daß es nötig ist, außer bei den Trilobiten einerseits und den Copepoden anderseits verwandtschaftliche Beziehungen zu suchen, denn überall, wo wir hinblicken, finden wir eine total differente Gliederung der Leibesregionen und eine ganz anders gerichtete Spezialisierung.


Verzeichnis der Abbildungen.
Tafel I.
Fig. 01. Ventralansicht des ♀ Nr. I. ✕ 2.
2. Basalteil der rechten ersten Antenne des ♀ Nr. I. ✕ 20.
3. Ruderast der linken Extremität des 1. Thorakalsegmentes vom ♀

Nr. I. ✕ 20.

4. Unterseite des Kopfes des ♀ Nr. 1. ✕ 20. (Schematisiert.)
5. Ventralansicht des ♀ Nr. II. ✕ 1•9.
6. Vorderast der linken Extremität des 1. Thorakalsegmentes vom ♀

Nr. II. ✕ 20.

[8]

Fig. 7. Basalteil des rechten Schwanzanhanges vom ♀ Nr. II. ✕ 15.
8. Dorsalansicht des ♂ Nr. III. ✕ 2·1.
9. Ventralansicht des ♂ Nr. III. ✕ 1·9.
10. Rekonstruktion des ♀ Dorsalansicht.
11. Rekonstruktion des ♀ Ventralansicht.

[T1]

Verhandl. der k. k. zool.-bot. Ges., Band LXIV, 1914. Taf. I. Anton Handlirsch: Eine interessante Crustaceenform aus der Trias der Vogesen.

[T2]

Verhandl. der k. k. zool.-bot. Ges., Band LXIV, 1914. Taf. II. Anton Handlirsch: Eine interessante Crustaceenform aus der Trias der Vogesen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Verhältisse
  2. Vorlage: Triloliten