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Eine Tieringer Sage. Das Schlüsselweib.
Matthias Koch, Tübingen.
I.
Trüber Mondschein, die Wolken jagen;
Geisterhaft alte Bäume ragen.
Huh, wie huschen nächtliche Schatten
Ueber der Hohlgaß auf düstere Matten!
Annemrei, heut lauf nicht nach dem Freier,
Freitags, du weißt es, ist’s hier nicht geheuer.
Hörst du die Hunde, die Katzen und Eulen?
Hörst du die Lüfte so schaurig heulen?
Annemrei steh nicht, guck nicht herum,
Das Weib mit dem Schlüsselbund geht heut um!
II.
Einst war sie Herrin im Tieringer Schloß,
Irmgard mit reichem Dienertroß.
[142] Die schönste Jungfrau war sie im Land,
Viele Ritter warben um ihre Hand.
Doch schmachtet’ nach einem sie nur allein,
Nach Kuno, dem Herrn von Wenzelstein.
Der aber liebte die Dame nicht
Und sagt’ es frei ihr ins Gesicht.
In großem Zorn drob entbrannte die Maid,
Des ward Herr Kuno schweres Leid.
Sie überfiel ihn in Nacht und Sturm
Und warf ihn in ihren festen Turm.
Drin ließ sie verschmachten das edle Blut,
Sein weißes Gebein dort im Keller ruht.
Im Tod sie aber nicht Ruhe fand,
Am Tor rüttelt nächtens ihre Hand.
Doch findet den rechten Schlüssel sie nicht,
Drum schwebt sie bis zum jüngsten Gericht.
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