Eine Erinnerung aus dem Jenenser Studentenleben

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Titel: Eine Erinnerung aus dem Jenenser Studentenleben
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 23, S. 341–344
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Eine Erinnerung aus dem Jenenser Studentenleben.

Es ist noch nicht so lange her, so galt Jena als eine derjenigen Universitätsstädte, wo das Lied „Frei ist der Bursch“ nicht nur hell und laut durch die Straßen klang, sondern auch seine uneingeschränkteste Wahrheit hatte; wo die blühende Studentenromantik die unbestrittenste Herrschaft behauptete und die gesammte Jenenser Bürgerschaft mit ihren Civilbehörden und Polizeidienern [342] nur der „gehorsame Diener“ der Musensöhne war. Denn diese bildeten einen wohlorganisirten Staat im Staate mit eigenen Gesetzen und eigener Gerichtsbarkeit und „die Philister waren ihnen gewogen meist, denn sie ahnten im Burschen, was Freiheit heißt.“ So hart die Corps gegenseitig oft auch aneinander geriethen, mit welchem Ernst und Gewicht ihre diplomatischen Differenzen auch verhandelt wurden, so oft von dem einen oder anderen auch „Verschiß“-Erklärungen ausgingen und der blutige Zweikampf mehr als einmal die vermeintlich befleckte Ehre repariren mußte: so schaarten sich doch die Jenenser Studenten, welche Farben sie auch trugen und in welche folgenschwere Kämpfe sie auch verwickelt waren, wie ein Mann um das gemeinsame Banner, wenn die studentische Integrität oder Oberhoheit von da oder dorther bedroht war. Wie damals die deutsche Freiheit nur im deutschen Liede, so war die deutsche Einigkeit auch nur bei der studirenden Jugend zu finden.

Es war im Sommersemester 1842, als die deutsche Einheit der Jenenser Studenten wieder einmal in hellen Flammen aufloderte. An einem heißen Julisonntage, nachdem man gegenseitig etwas über den Durst in Lichtenhain dem Safte des Gambrinus zugesprochen, kam es zwischen den Studenten irgend einer Verbindung und den anwesenden „Knoten“ zu einer grandiosen „Holzerei“, bei welcher die letzteren mit blutigen Köpfen heimgeschickt wurden. Die triumphirenden Sieger vergaßen aber die nöthige Vorsicht; zerstreut kehrten sie in die Musenstadt zurück; bevor er nach Hause ging, erzählte der Eine noch auf der „Rose“, der Andere im „Burgkeller“, der Dritte im „Bären“ u. s. w. das Ereigniß des Tages und zog sich dann, wie gewöhnlich, erst spät in die Einsamkeit seines Zimmers zurück.

Unterdessen kochte in dem Gemüthe der geschlagenen Handwerksburschen, die „trauernd tief“, wie Don Diego, in ihrer Herberge beisammen saßen, die Rache; mit der bewußten vereinten Studentenverbindung konnten sie sich nicht messen, das stand fest; sie beschlossen daher, ihr Glück im Einzelnkampfe zu versuchen, der ja auch im berühmten trojanischen Kriege keine verachtenswerthe Rolle gespielt hat. Ein stämmiger, grobknöchiger Schustergeselle übernahm es, heute Nacht noch einen Feind aufzusuchen. Und nicht lange stand es an, so traf er in einer einsamen Straße Jena's einen harmlosen „Fuchs“, der die Farben der siegreichen Verbindung trug. Ohne Weiteres drang er auf ihn ein, versetzte ihm mit seinem gewundenen Stocke eins auf den Kopf, daß er bewußtlos zu Boden fiel, und walkte den Wehrlosen dann noch überdies dergestalt durch, daß er nach einiger Zeit für todt von der Straße aufgehoben wurde. In der That waren seine Verletzungen sehr erheblich und die Aerzte gaben wenig Hoffnung für die Erhaltung seines Lebens.

Mit telegraphischer Eile gelangte schon am frühen Montagmorgen die Kunde von der barbarischen Mißhandlung eines ihrer Commilitonen zum Ohre eines jeden akademischen Bürgers. Die Theilnahme, die sich dem Mißhandelten zuwandte, war eben so allgemein und aufrichtig, als die Erbitterung gegen den Thäter gründlich und ernst war. Sein Name war bekannt; da aber der Träger desselben augenblicklich nicht ausfindig gemacht werden konnte, so ließ man vorläufig sein Wanderbuch auf der Polizei mit Beschlag belegen, nachdem der Fall bei derselben angezeigt und sie zur Fahndung aufgefordert worden war.

Am Montag Vormittag wurden die Collegien nur mit halber Aufmerksamkeit angehört; die sich Begegnenden wußten von nichts Anderem zu reden, als von dem Verbrechen, das in der letzten Nacht begangen worden war.

Am Nachmittage bildeten sich auf dem Markte einzelne Gruppen Studirender, die sich schnell sichtlich verstärkten. Jede Straße und jedes Gäßchen sandte sein Contingent auf den allbekannten Krystallisationspunkt der Musenstadt. Bald war der ansehnlichste Theil der Studentenschaft hier versammelt. Nachdem ein vielerfahrener, die studentischen Interessen getreulich wahrender Altbursche den Anwesenden eröffnet hatte, daß die „Knoten“ heute ihren „blauen“ in Lichtenhain feiern, wo sich der Maleficant sehr wahrscheinlich auch befinde, ward ohne weitere Debatte ein Zug dorthin beschlossen. Man wollte den Uebelthäter eigenhändig der Polizei überliefern.

Ich war noch nicht drei Monate auf der Universität, als dieses Ereigniß zwischen meine stillen Studien fiel. Da der Nachmittag allgemein „geschwänzt“ wurde, so machte ich mir auch keinen Gewissensscrupel, aus dem Colleg zu bleiben, und mein studentisches Bewußtsein hob sich mächtig bei dem Gedanken, auch einmal eine kühne, ritterliche Thai mit ausführen zu helfen. Mit einem riesigen Ziegenhainer bewaffnet, schloß ich mich dem feindlichen Zuge nach dem stillen Dorfe an.

Dasselbe war bald von allen Seiten umschlossen; immer enger zog sich der Kreis der Belagerer, bis sämmtliche „Knoten“ gefangen waren. Nun allgemeiner, aber würdiger Jubel: denn die Studentenschaft war entschlossen, sich bei dieser Angelegenheit durchaus nobel zu benehmen und den Schuhmacher, der dieses Mal auf das unrechte Leder geklopft, ohne ihm ein Haar zu krümmen, der Gerechtigkeit zu überantworten.

Aber leider befand sich der Gesuchte nicht unter den Blaumontagsgesellen von Lichtenhain; jetzt wollte man zwar wissen, daß er irgendwo in einem Keller oder unter einem Dache versteckt sei, allein auch die sorgfältigste Haussuchung ergab kein Resultat. Ein hoffnungsvoller „Fuchs“ lenkte nun die Aufmerksamkeit nach Ziegenhain hin, wo gewiß auch „blauer“ gemacht werde; wenn irgendwo, so müsse der Uebelthäter dort zu finden sein.

Und nun marschirte das ganze studentische Heer über die Saale, Ziegenhain zu, das im milden Glanze der Abendsonne dalag, ohne zu ahnen, welche Macht heranrücke. Noch war aber die letztere nicht in das Dorf eingerückt, als die dort weilenden Blaumontagsgesellen von deren Absicht unterrichtet wurden; obschon von aller Schuld sich frei wissend, floh, wer fliehen konnte, und wem dies nicht mehr möglich war, der verbarg sich in die tiefsten Tiefen der Keller oder verkroch sich hoch hinauf unter das Dach. Die Furchtsamen gehörten sammt und sonders der ehrbaren Zunft der Schneider an und meinten allen Ernstes, die Studenten hätten es auf die totale Vernichtung der „Knoten“ abgesehen.

Bald gelang es, die Meisten aus ihren Verstecken hervorzuziehen, und so verdächtig sich dieselben durch ihr Benehmen auch gemacht hatten, so zeigte es sich doch bald, daß diese Helden der Nadel durchaus schuldloser Natur waren. Man ließ sie ruhig ihres Weges ziehen und war im Begriff, selber wieder nach Jena zurückzukehren, als ein Schneiderlein, um sich bei den „Herren“ Studenten extra beliebt zu machen, mit verschmitzter Miene auf ein Haus deutete, in welchem noch Einer versteckt sei. Der Jubelruf: „Endlich haben wir ihn!“ rang sich unwillkürlich aus der ungeduldigen Brust des studentischen Heeres –, das Haus wurde genau durchsucht und nicht lange, so brachten die Klügsten und Besten der akademischen Streitmacht einen blondlockigen Jüngling als Gefangenen in’s Freie. Aber auch jetzt war der Jubel wieder zu voreilig gewesen und der Gefangene war so unschuldig, als diejenigen, die man so eben hatte frei abziehen lassen; auch er war ein harmloser Schneidergeselle! Und doch war er nicht ganz ohne Schuld, man fand es wenigstens im höchsten Grade anmaßend, daß er sich studentisch trage und die Haare studentisch wachsen lasse. Um nun dem Unmuthe über das vergebliche Fahnden auf den Schuster, der irgendwo in guter Ruhe saß und sein Pfeifchen Tabak dazu rauchte, Luft zu machen und den Tag doch mit irgend einer That zu beschließen, ward der Schneidergeselle verurtheilt, seines widerrechtlichen Haarschmuckes beraubt zu werden. In dem Dorfe, das für den Schneider einen verwandtschaftlichen Namen hat, wurde dem Vermessenen unter lautem Lachen zwar nicht der Bart, aber doch die Locken abgeschoren, wobei man übrigens den Trost hatte, daß durch diese unschmerzliche Operation ihm aus sehr einfachen Gründen nicht geraubt wurde, was durch eine ähnliche einst Simson verlor. Ohne ihm weitere Unbilden zuzufügen, wurde auch der Geschorene entlassen.

Und so begab sich denn die akademische Heeresmacht, ohne große Heldenthaten verübt zu haben, wieder nach Jena zurück, wo man zum Schlusse noch die Gesellenherbergen vergeblich durchsuchte. Die Hoffnung dieses Tages war zu Wasser geworden.

Indeß wachte mehr als ein Auge über die studentischen Interessen. Drei bemooste Bursche, durch die Erlebung vieler Semester bekannt mit den inneren und äußeren Verhältnissen Jena’s, zu alt, um sich mit dem Besuche der Collegien zu befassen und zu jung, um das Staatsexamen zu machen oder sich für eine Anstellung zu bewerben, hatten sich vorzüglich die Aufgabe gestellt, in der „Kneipe“ und auf dem Fechtboden, sowie gegen auswärtige Feinde die Vorkämpfer der Jenensischen Musensöhne zu sein. Zugleich docirten sie den „Füchsen“ gegen ein Honorar von einigen Tonnen Bier, gegen Freihalten auf Reisen, Suiten und anderen ordentlichen und außerordentlichen Gelegenheiten die Regeln des [343] Studentencomments. Diese ehrwürdigen „Häuser“ nun übernahmen es, die Nacht über in der Nähe der Gesellenherberge Wache zu halten, denn dorthin, dachten sie, müsse der Delinquent doch einmal kommen.

Und richtig, als im Osten schon der Morgen zu grauen begann, nahte der Gegenstand der Jenensischen Anregung still und leise sich der bekannten Herberge, um, von Angst und Müdigkeit ermattet, für einige Stunden der Ruhe zu genießen und den folgenden Tag eben so still und leise Jena „Adios“ zu sagen.

„Haben wir Dich!“ herrschten ihm die Bemoosten zu, als er eben im Begriffe stand, sich vor der Herbergsthüre bemerklich zu machen.

Ohne Gegenwehr ließ sich der Arme festnehmen und folgte ihnen wie ein Opferlamm auf die Polizei, die den Bemoosten in geziemenden Ausdrücken für ihre Vigilanz ihren Dank ausdrückte.

Als am Morgen Jena erwachte, hatte es die sorgenerleichternde Satisfaction, den Missethäter in den Händen der Polizei zu wissen, und die Hoffnung, daß das verübte Verbrechen auf eclatante Weise gesühnt werde.

Allein welche Täuschung! – als jene drei Helden im Verlaufe des Dienstags auf der Polizei sich erkundigten, wie es mit dem Delinquenten stehe, ob er eingestanden u. s. w., da hieß es, er sei nicht mehr da, man hätte ihn in der Besorgniß studentischer Excesse mit Verabreichung des Wanderbuches aus Jena verwiesen, d. h. laufen lassen!

„Also laufen lassen?!“ riefen unsere Drei wie aus einem Munde und ihre Gesichter verzogen sich ordentlich in die Länge. „Also laufen lassen – das ist unerhört – das ist abscheulich – das ist niederträchtig – das ist ein kolossaler Verrath an den heiligsten Interessen der Gerechtigkeit, der Menschheit und der Studentenschaft insbesondere; ja, das ist Verrath, Verrath, Verrath!“

Die Polizei hatte dieses Mal allerdings die Klugheit im Stiche gelassen; sie ließ den Missethäter frei fortziehen, um Excesse von Seiten der Studentenschaft zu verhindern, während es der letzteren mit all’ ihrem Aufwande von List um nichts anderes zu thun war, als ihn der Gerechtigkeit zu überliefern und den ordentlichen Gerichten ihren Lauf zu lassen. Durch jene Maßregel warf die Polizei geradezu den gefährlichsten Zunder in die kaum beschwichtigten Gemüther der Studenten.

Am Dienstag Nachmittag wurde kein Colleg besucht, dagegen war der Marktplatz wieder das große Auditorium und Conversatorium der Jenenser Studenten. Das juristische Prakticum über den obschwebenden Fall führte zur einstimmigen Verurtheilung der Polizei. Die Execution des Urtheils sollte noch an demselben Abend stattfinden.

Es mochte gegen neun Uhr sein, als auch unter meinem Fenster der verhängnißvolle Ruf „Bursch ’raus!“ erscholl und gleichzeitig einige Hausburschen auf mein Zimmer mit der Aufforderung stürzten, ihnen auf den Marktplatz zu folgen. Ich wußte nun zwar sogleich, daß ich jetzt mit dem ersten Schritt aus meinem Zimmer zugleich einen Schritt über die Grenzen des akademischen Gesetzes hinausthue; allein so bereitwillig ich sonst auch war, diesem Gesetze Folge zu leisten, so schämte ich mich jetzt, bei der allgemeinen und nicht grundlosen Aufregung dennoch, die feige Legalität vorzustellen und mischte mich willig unter die aufgeregten Massen des Marktes.

„Hast Steine?“ fragte man mich halblaut. Auf meine Verneinung füllte man mir die Taschen mit einigen Händen voll Kieselsteinen.

Noch wußte ich nicht, was dieser Abend bringen sollte, doch fing mir an eine grausige Ahnung aufzugehen und fast wollte es mich reuen, dem revolutionären Rufe gefolgt zu sein. Allein an eine Umkehr war jetzt nicht mehr zu denken; was Student hieß und sich in dieser ereignißschwangeren Stunde noch im Freien befand, das schloß sich, wie ein summender Bienenschwarm um die Königin, so an den Studentenknäuel auf dem Markte und die drei obenerwähnten bemoosten Bursche an. Es wurden nun Befehle ertheilt zum festen Zusammenhalten, und daß ja Keiner den Trupp – in seinem eigenen Interesse – verlassen sollte, – zur Vorsicht, Klugheit u. s. w.

Es war eine mondhelle Julinacht und die einzelnen Teilnehmer des beabsichtigten Attentats waren selbst auf größere Entfernung hin zu erkennen. Man wendete daher die Mützen, die Röcke, verband die Gesichter mit Taschentüchern u. s. w. und war, die Taschen reichlich mit Steinen gefüllt, zum Aufbruch bereit. Da wandelte von den Pedellen der größte im Mondschein daher und rief schon aus der Ferne:

„Im Namen des Prorektors – ich fordere … …“

„Pudel weg!“ riefen die Bemoosten; „Pudel weg!“ hallte der mächtige Chor den Versammelten nach und ein nicht zu verachtender Steinhagel sauste dem würdigen Amtsdiener um den Kopf.

Und jetzt hieß es „Vorwärts!“ Der unwiderstehliche Zug bewegte sich vom Marktplatze gegen das Polizeigebäude. Die Pedells bemühten sich nun in hastiger Eile, dem Schwarm so nahe als möglich zu kommen, ohne gesehen zu werden, um die Namen der Antheilnehmer ausfindig zu machen. Namentlich suchten dieselben bei der Mündung von Seitengäßchen in die Hauptstraße unbemerkt in die Nähe des Zuges zu kommen; denn vor und hinter demselben waren sie nur außerhalb der Tragweite des stärksten Steinwurfs sicher, und konnten natürlich von einer solchen Entfernung aus auch nicht eine einzige Gestalt erkennen. Aber auch die Mündungen der Seitengäßchen wurden durch vorausgesendete Plänkler vermittelst geeigneter Steinwürfe von unberufenen „Aufschnüfflern“ zeitig genug geräumt. Endlich durfte sich in keinem Zimmer der Straße, wo man vorbei kam, ein Licht blicken lassen. Wo es dennoch geschah, hieß es schnell und barsch: „Licht weg!“ und wenn nicht sogleich gehorcht wurde, so fuhr ein unbarmherziges Hagelwetter klingend und klirrend in die Fenster des widerspenstigen Hauses.

Vor dem Polizeigebäude wurde Halt gemacht. Dasselbe zeigte gegen die Straße eine breite, hohe Façade, regelrecht gebaut und, als ob die deutsche Polizei das Licht allein gepachtet hätte, mit vielen hellen Fenstern versehen. Wenn nun der geehrte Leser glaubt, die Studenten würden hier der Polizei wegen des bewußten Falles eine Strafrede halten oder ein Pereat bringen, so irrt er sich; man verfuhr viel summarischer gegen sie: nachdem sich die ganze Schaar auf sicherm Terrain wußte, vernahm man von einem vielbewährten Bierbaß das einzige Wörtchen: „Los!“ und aus hundert und aber hundert Händen flogen hundert und aber hundert Steine wiederholt gegen die polizeilichen Fenster; ein fürchterliches Geschmetter, Geklingel und Geklirre entstand und verschwand sogleich wieder: in der Zeit von kaum einer Minute war das Werk der Zerstörung vollbracht; das Polizeigebäude zeigte nur noch die leeren, nackten Kreuzstäbe.

Das hatte die fürsichtige Jenenser Polizei mit ihrer Maßregel zur Verhütung studentischer Excesse gewonnen!

Da nun dem Faß jugendlichen Uebermuths einmal der Boden ausgegangen war, so wollte man nicht auf halbem Wege stehen bleiben. „Vorwärts!“ hieß es weiter. Man zog durch die verschiedensten Straßen, um zu den verschiedenen Häusern zu gelangen, auf die es abgesehen war. Da und dort ließ sich ein Licht blicken, das dem bekannten Rufe nicht schnell genug Folge leisten konnte, und da und dort gingen en passant einige Fensterscheiben in Scherben, woran vorher weder Hauseigenthümer noch Studenten gedacht hatten.

Es ist eine alte Geschichte, daß bei allen Völkern, Nationen und Ständen die Amtsdiener, Schuldenboten und Executionsmänner u. s. f. im Allgemeinen in üblem Geruche stehen. Nicht anders ergeht es auch den Pedellen der Universitäten, die den Studenten so manche Freude verkürzen, so manchen lustigen Streich verderben und sie oft mit den allerunangenehmsten Nachrichten und Aufträgen behelligen müssen. Der Mensch ist nun einmal so, daß er selbst dem unschuldigsten Briefboten gram werden kann, wenn der Wechsel später ankommt, als er erwartet hat. Ein gleiches Schicksal hatten auch die Pedelle von Jena. Nachdem der Muth vor dem Polizeigebäude ausgelassen war, wurde noch ihren Wohnungen ein Besuch gemacht. „Los!“ – und wieder traf der furchtbarste Steinhagel die sämmtlichen Fenster des Oberpedells und dann nach kurzen Pausen diejenigen der übrigen Pedelle. Die Wohnungen von zwei in Mißgunst gefallenen Professoren, sowie einige in Verruf befindliche Bierhäuser machten dieselbe Erfahrung. Endlich – Mitternacht war schon vorüber – zog man in festgeschlossenen Reihen vor das Johannisthor, um dort das Weitere zu berathen. Unglücklicher Weise fiel es einem von uns noch bei, daß sich dort ganz in der Nähe das Haus des Universitätssecretairs befinde, eines Mannes, der sich nicht immer in den höflichsten Formen gegen die „Herren Studenten“ benahm. Ihm wurde die letzte Steinsalve gebracht.

Merkwürdig: während des großartigen, furchtbaren nächtlichen Excesses, ausgeübt von etwa dreihundert Studenten, die mit nichts anderm als Steinen bewaffnet waren, hatte sich die ganze Bürgerschaft Jena’s mit all ihren Behörden und Polzeidienern in die tiefste Ruhe gehüllt, ja in die hintersten Winkel verkrochen, und unangefochten [344] verübten die Studenten den nächtlichen Unfug, vor dem sich jede Familie fürchten mußte. Nicht als ob die Bürgerschaft die jugendliche Schaar nicht leicht hätte bewältigen und zur Ruhe verweisen können; allein da in jener Zeit die bürgerliche Existenz Jena’s fast einzig und allein von den Studenten abhängig war, so wollte man auch ihrem übermüthigsten Uebermuthe nicht in den Weg treten, um dadurch nicht etwa die Veranlassung zur Verödung der so blühenden Universität zu werden; man ließ gewähren, weil man wußte, daß Personen doch keinen Schaden nehmen würden; für die Beschädigung des Eigentums hoffte man nicht ohne Grund auf reichlichen Ersatz.

Vor dem Johannisthor wurde unterdessen die wichtige Frage verhandelt, wie nun jeder einzelne Musensohn in seine Wohnung gelangen könne, ohne von dem Pedell abgefaßt zu werden. Die Beantwortung dieser Frage war allerdings höchst schwierig. Während der größten Rathlosigkeit, die sich der kurz zuvor noch so kecken Schaar bemächtigt hatte, machte ein genialer Brandfuchs den trostreichen Vorschlag, in geschlossenen Reihen auf die „Burgkellerkneipe“ zu ziehen, und dort bis zum hellen Morgen zu verharren; von da möge dann Jeder furchtlos nach Hause gehen; wenn er unterwegs auch abgefaßt werde, so bekenne er nichts mehr und nichts weniger, als er hätte sich auf dem „Burgkeller“ über die Polizeistunde hinaus aufgehalten. Dieser Vorschlag beruhte auf dem tiefsinnigen Grundgedanken, daß entweder alle Theilnehmer an den Ereignissen der Nacht haftbar gemacht werden sollten, oder aber keiner. Selbst im schlimmsten Falle war alsdann nicht viel zu befürchten.

Unter Absingung des Liedes: „Wenn wir durch die Straßen ziehen“ etc. begab man sich auf den Burgkeller; ironisch genug klang der Vers:

„Und ich laß die Blicke schweifen durch die Fenster hin und her.“

– Für das Wechseln von Liebesblicken von oben herab und unten hinaus war in der Nacht hinlänglich Raum geschaffen worden! – Im Burgkeller entfaltete sich schon früh ein geräuschvolles Kneipleben, das natürlich den ganzen Tag über auf das Ueppigste blühte. Tische und Bänke wurden nach und nach herausgeschafft, und gegen Nachmittag war der ganze Marktplatz in einen großen Wirthssaal unter freiem Himmel umgewandelt; Studenten aller Farben saßen dort bei Kaffee und Bier in bunter Mischung untereinander, und unterhielten sich darüber, wer den größten Stein in die Fenster des Polizeigebäudes geschmissen, die Pedells am wirksamsten verfolgt habe, sangen Lieder oder bliesen gedankenvoll Rauchwolken in die Luft. Denn nicht nur ich unerfahrener Fuchs allein, sondern auch erfahrenere und ältere Bürger der Universität Jena dachten nicht ohne Sorgen an die Folgen der nächtlichen Fensterkanonade.

Doch ließ sich heute auch nicht ein Pedell sehen. Dagegen stand am schwarzen Bret ein Anschlag des Prorectors angeheftet, worin das Bedauern der Behörden über die Excesse der Nacht ausgedrückt war; man hoffe um so eher – hieß es darin weiter – die Studentenschaft werde sich nun ruhig verhalten, als über die Sache bereits an die großherzogliche Regierung nach Weimar berichtet worden sei, die ihr Militair in Jena einrücken zu lassen nicht ungeneigt wäre.

Vor der Hand blieben die Collegien geschlossen.

Die Nacht von Mittwoch auf den Donnerstag war ein wahres Labsal für die an Geist und Körper ermüdeten Kämpfer; aber am Donnerstag früh schon machten die Pedells die Runde und an diesem Tage wurden bereits etwa fünfzig Studenten vor das Universitätsgericht citirt und verhört. Ich erwartete für meine Person natürlich dasselbe, und mein Freund, der Solothurner Felix, tröstete mich noch schadenfroh mit der Aussicht, daß die Teilnehmer an der Fensterkanonade mit dem Consilium abeundi gestraft würden, was für mich, der erst vor kaum zwölf Wochen mit den besten Vorsätzen und den liebevollsten elterlichen Ermahnungen die akademische Laufbahn begonnen hatte, das Strengste gewesen wäre, was ich mir denken konnte.

Jener Solothurner Felix war nämlich eine der größten Gestalten, die damals unter der Jenenser Studentenschaft herumwandelte, ein fideles Haus, der gern über die Polizeistunde in der Kneipe sitzen blieb und mehr als einmal deßhalb, und wegen anderer unschuldiger Studentenstreiche, die er immer gern mitzumachen suchte, gestraft worden war. Während der Fensterkanonade befand er sich gerade in Dornburg. Mir war noch nie eine Strafe geworden und seiner Freundschaft für mich that der Gedanke ordentlich wohl, daß einst auch mein Abgangszeugniß von der Universität sich mit dem seinen in Bezug auf Aufführung sollte messen können. So sehr es ihn sonst würde gereut haben, während der Ereignisse der Nacht vom Dienstag auf den Mittwoch zufälliger Weise in Dornburg sich aufgehalten zu haben, so war er doch jetzt, als er voraussah, daß es mit der Bestrafung der Theilnehmer Ernst werden wollte, in der Seele froh darüber, daß der Zufall es in jener verhängnißvollen Nacht so gut mit ihm gemeint habe.

Alle Tage kamen neue Citationen vor das Universitätsgericht und alle Abende fragte mich Freund Felix neugierig, ob ich noch nicht vorgeladen worden sei. Man schien mich bis zuletzt aufsparen zu wollen.

Unterdeß wurde Freund Felix, er wußte gar nicht warum, selber vorgeladen. Als er vom Amt zurück kam, erzählte er, daß man auch ihn in Betreff der bewußten Fensterkanonade requirirt hätte. Er hätte aber kurzen Bescheid gegeben und den Beweis des Alibi angeboten.

Endlich hörten die Citationen auf; ich war übergangen oder bei meiner kleinern Gestalt übersehen worden.

Nach ungefähr 14 Tagen wurden sämmtliche Vorgeladene, etwa hundertundfünfzig, darunter auch Freund Felix, zur Anhörung des Urtheils vor Amt beschieden. Die drei oben gedachten Bemoosten, als Anführer des ganzen Scandals, wurden von der Unversität relegirt, etwa zehn erhielten des Consilium abeundi, die übrigen sammt und sonders 14 Tage geschärften Carcerarrest; zu den letztern zählte auch Freund Felix. Ueberdies hatten sämmtliche Verurtheilte die Entschädigungskosten im Betrage von 800 Thlr. unter solidarischer Haftbarkeit zu tragen. (Diese Summe wurde alsobald von sämmtlichen Verbindungen Jena’s gemeinschaftlich übernommen.)

Dieses, insoweit es mich und meinen Freund anbetrifft, durchaus unrichtige Urtheil erklärt sich aus der an Universitäten gebräuchlichen Uebung, nicht nach juristischen Beweisen, sondern nach moralischer Ueberzeugung Recht zu sprechen. Da zwei oder drei ähnliche Größen, wie Felix, an dem Scandal allerdings Theil genommen hatten, so wurde er ohne Zweifel mit ihnen verwechselt; auch ließen seine Antecedentien nicht annehmen, daß er von einem solchen Hauptjux, wie die Fensterkanonade war, fern geblieben sei. Daher kümmerte sich das Universitätsgericht nicht weiter um seinen angetragenen Beweis des Alibi. Meine Wenigkeit dagegen war noch so unbekannt in der Amtsdienerwelt Jena’s, meine Gestalt so unbedeutend, daß ich unmöglich bemerkt worden war und Niemand daran gedacht hatte, mich unter den Steinigenden zu suchen.

So wanderte denn Freund Felix, der sich so herzlich auf meine Strafe gefreut hatte, unschuldig in den Carcer; der schuldige Schreiber dieser Zeilen dagegen kam ungestraft davon.

Zum Danke hierfür sei in diesen Blättern das oben erzählte Ereigniß für die Erinnerung derer wieder aufgefrischt, die thätig, leidend, zuschauend, zuhörend, anzeigend oder richtend dabei betheiligt waren. Schließlich kann ich noch bemerken, daß der von dem Schustergesellen geschlagene Studiosus sich zu Aller Freude bald wieder erholt hatte und jetzt als angesehener Pastor in sächsischen Landen das Wort Gottes verkündet.