Ein seltener Hausgenosse

Textdaten
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Autor: S. R.
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Titel: Ein seltener Hausgenosse
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 22, S. 706
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[706] Ein seltener Hausgenosse. In der That – ein seltener Hausgenosse war es, den sich zwei Knaben im Alter von zwölf und acht Jahren an dem durch seine Pfahlbautensunde berühmten Dorfriede von Niederweil im Kanton Thurgau einfingen. Sie waren an einem Frühlingstag mit Fischen beschäftigt, als sie plötzlich einen Fischreiher in so geringer Entfernung erblickten, daß es ihnen, denen die Scheu dieser Vogelart wohl bekannt war, sofort auffallen mußte. Bei näherer Beobachtung sahen sie den einen Flügel des Thieres herabhängen, und nun machten sie Jagd auf dasselbe. Die flinken Buben hatten den Reiher bald eingeholt, in dem Augenblick aber, wo sie ihn ergreifen wollten, sprang er in das tiefe Wasser hinein, sich gegen das nahe Schilfrohr hinarbeitend. Ohne sich im entflammten Jagdeifer Zeit zum Entkleiden zu nehmen, stürzte der ältere Bruder nach. Da er schwimmen und sich zugleich gegen die Schnabelhiebe des Vogels schützen mußte, so gelang es ihm nur mit großer Mühe und nachdem er eine tüchtige Hiebwunde an der Stirn davongetragen hatte, seiner Beute habhaft zu werden. Triumphierend brachten die Jungen das wüthende Thier nach Hause. Der Vater, ein erfahrener Jäger, war leider nicht daheim, und so wurde die genauere Untersuchung des Gefangenen durch die Knaben selbst vorgenommen. Es ergab sich, daß am linken Flügel das Schwungbein gebrochen war und daß infolgedessen ein Knochen ziemlich weit vorstand; der Flügel hing herab und hinderte den Vogel im Gehen. Die beiden Buben fanden eine Operation nothwendig, entfernten das vorstehende Stück des Knochens und bestrichen die Wunde mit Baumöl; die beiden Flügelenden banden sie oberhalb des Schwanzes zusammen, damit der Vogel im Gehen nicht mehr gehemmt wurde. Nachdem auf diese Weise dem Reiher zugleich eine Flucht unmöglich gemacht war, ließ man ihn laufen. Er wählte sich als Zufluchtsort den unter der steinernen Haustreppe angebrachten Hundestall, und diesen Platz behauptete er in der Folge, so lange er lebte. Der starke Jagdhund hatte nur einmal den Versuch gewagt, dem Eindringling gegenüber seine älteren Rechte geltend zu machen, war aber durch einen einzigen Schnabelhieb zum Verzicht anf alle Ansprüche bewogen worden.

Auf ihre Bitten ward den beiden Knaben gestattet, den seltenen Gast, der nie einen Fluchtversuch machte, so lange als möglich behalten zu dürfen, und eifrig fingen sie Fische und Frösche, die sie in einem Zuber mit Wasser dem Vogel zu Gesicht brachten. Mit nie fehlender Sicherheit holte sich dieser seinen Fraß aus dem Wasser. Hüpfte einmal ein flüchtiger Frosch auf die staubige Straße, so wurde er sofort ergriffen, erst noch im Wasser abgespült und dann dem anderen im Kropf des Reihers noch zappelnden Kameraden nachgesandt. Der Appetit des Thieres war so groß, daß es die Knaben viel Mühe und Zeit kostete, das nöthige Futter aufzutreiben, und so schickte sie der Vater eines Tages mit ihrem gefräßigen Kostgänger ins nahe Ried, damit sich dieser seine Nahrung selber suche. Wer nachmittags, wohl der großen Hitze wegen, freiwillig zu seinem Stall zurückkehrte, das war der Reiher, und von da an trat er täglich zweimal seinen Spaziergang in sein Revier an. Er wandelte dabei auf der vielbefahrenen und vielbegangenen Landstraße eine Strecke weit hin und hatte offenbar jede Furcht verloren.

Der Wohnung seiner Beschützer gegenüber lag das Schulhaus, vor dem sich häufig die ganze Schar der Schüler tummelte. Das hielt jedoch den stolz dahinschreitenden Vogel nicht ab, mitten durch die Kinder hindurch seinen gewohnten Weg zu gehen; nie that er einem von ihnen etwas zuleide, und alle wetteiferten, ihrem Liebling von seinen Leckerbissen zu bringen. So wurde der völlig zahm gewordene Reiher eine „berühmte Persönlichkeit“ in Stadt und Land, um so mehr, da er seine Pfleger oft bis zu den nächstgelegenen Dorfschaften begleitete.

Im Spätherbst blieb er eines Abends aus, und als man am nächsten Morgen nach dem Vermißten forschte, wurden nur noch seine Ueberreste gefunden: ein Fuchs mußte ihn unversehens überfallen und überwältigt haben. Die Trauer um den merkwürdigen Gesellen war unter dem jungen Volke allgemein, und manche Thräne ward ihm nachgeweint. S. R.