Ein rettender Einfall
[214] Ein rettender Einfall. – An einem Frühlingstage des Jahres 1853 wurde ein junger Bildhauer namens Bennhofer, der bereits beachtenswerte Proben eines ungewöhnlichen Talents abgelegt und sich nach einigen Erfolgen auf Ausstellungen mit einem jungen Mädchen verlobt hatte, bei einem Spaziergang in der Nähe von Wien während eines Gewitters vom Bitze getroffen und für längere Zeit betäubt. Landleute fanden den Bewußtlosen und schafften ihn in ein Wiener Krankenhaus, wo er aber erst nach Stunden ins Leben zurückgerufen werden konnte.
Das Erwachen für den Ärmsten war furchtbar. Er war durch die Einwirkungen des elektrischen Stromes des Augenlichtes beraubt worden. Seine Verwandten brachten ihn in die [215] Klinik des berühmtesten Augenarztes von Wien, des Professors Ferdinand v. Arlt. Doch auch dessen Kunst vermochte ihm die gestörte Sehkraft nicht wiederzugeben.
Als Bennhofer erfuhr, daß er für sein weiteres Leben blind bleiben würde und nie wieder seine geliebte Bildhauerkunst ausüben könne, brach er völlig zusammen. Da er ein nur bescheidenes Vermögen besaß, löste er auch seine Verlobung auf, obwohl seine Braut schließlich nur dem Drängen ihrer Eltern nachgab. Tagelang saß Bennhofer in seinem Krankenzimmer und brütete düster vor sich hin. Mehrmals versuchte er sich das Leben zu nehmen. Von Tag zu Tag steigerte sich seine trübsinnige Stimmung, und bereits machten sich bei ihm die ersten Anzeichen einer beginnenden Geistesstörung bemerkbar, als der Professor auf ein einfaches Mittel verfiel, die Gedanken des unglücklichen jungen Mannes etwas abzulenken und zunächst wenigstens ein gewisses Interesse für andere Dinge wieder bei ihm zu erwecken. Er knüpfte in eine Schnur einen vielfach verschlungenen Knoten und bat Bennhofer dann, den Knoten zu entwirren, eine Tätigkeit, die immerhin eine gewisse geistige Anspannung erforderte.
Arlt hatte den richtigen Weg eingeschlagen, um dem erblindeten Künstler die Lebensfreudigkeit zurückzugeben, denn dieser fand an dem Entwirren der verwickeltsten Knoten immer mehr Vergnügen, so daß er es schließlich zu einer solchen Fertigkeit darin brachte, daß er die kompliziertesten Aufgaben dieser Art spielend löste. Dadurch gewannen seine Fingerspitzen eine unglaubliche Feinfühligkeit, die durch andere ähnliche Arbeiten immer weiter entwickelt wurde, bis man Bennhofer nach Verlauf eines halben Jahres zum ersten Male eine Knetmasse anvertraute, aus der er dann die verschiedensten, vorläufig noch einfachen Gegenstände zu modellieren begann.
Mit dem jungen Mann war sowohl körperlich wie geistig eine große Änderung zum Besseren vor sich gegangen. Seine Gleichgültigkeit, seine geistige Stumpfheit waren gewichen. Sein Gesicht hatte wieder frischere Farben bekommen, und mit einem gewissen Stolz zeigte er seinem Wohltäter jetzt stets die Proben seiner Fingerfertigkeit auf. Nach weiteren zwei [216] Jahren war er bereits imstande, die zierlichsten Figürchen zu modellieren. Ihm, dem das Augenlicht fehlte und der sich daher in seine eigene phantastische Welt eingesponnen hatte, flogen die Ideen für immer neue Figuren- und Tiergruppen förmlich zu. Bald wurde ein Porzellanwarenfabrikant auf die in jeder Hinsicht künstlerischen und eigenartigen Werke Bennhofers aufmerksam und beschäftigte ihn dauernd, so daß der blinde Modelleur sich seinen Lebensunterhalt mehr als reichlich verdiente.
Und dann trat auch wirklich plötzlich strahlendes Glück in das Leben des einsamen, zum ernsten Manne herangereiften Künstlers. Die Braut, die ihn nur halb gezwungen aufgegeben hatte, kehrte zu ihm zurück, und bald wurde aus beiden ein seliges Paar. Bennhofers Ehrgeiz gab sich jetzt aber mit dem bisher Erreichten nicht mehr zufrieden. Er nahm eine größere Arbeit in Angriff, die er für die Münchener Kunstausstellung in Bronze gießen lassen wollte. So entstand im Verlauf von drei Monaten seine rührende Gruppe „Der blinde Gatte“, die ihm 1864 in München die goldene Medaille einbrachte und dann von dem Wiener Nationalmuseum angekauft wurde. Mit diesem Werk hatte er sich einen Platz neben den ersten bildenden Künstlern seiner Zeit errungen.
Sein Talent, nicht mehr eingeengt durch kleinliche Nahrungssorgen, entfaltete nun erst seine ganze Vielseitigkeit. Er schuf noch eine ganze Anzahl von Gruppen und Einzelfiguren, die ebenso durch Feinheit der Ausarbeitung wie eigenartige Auffassung das wahre Genie verrieten. Bennhofer starb im Jahre 1889 an einer Lungenentzündung. Seine Familie bewahrt noch heute wie eine Reliquie die Schnur auf, in die der berühmte Augenarzt einst jenen ersten Knoten geknüpft hatte, durch den ein völlig Verzweifelter sich in Wahrheit zu sich selbst zurückfand.