Ein neuer Industriezweig (Otto Ruppius)

Textdaten
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Autor: Otto Ruppius
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Titel: Kleine amerikanische Sittenbilder. 4. Ein neuer Industriezweig
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 1, S. 193–196
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Kleine amerikanische Sittenbilder
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Kleine amerikanische Sittenbilder.

Nr. 4. 0Ein neuer Industriezweig.


Den Broadway in New-York entlang pfiff ein so kaltes Lüftchen, zu Eis gefrorene Schneeflocken vor sich her jagend, wie ich es nur jemals während eines harten Winters in Deutschland hatte kennen lernen. Ich kam mit einem Landsmanne, Karl Mader, an welchen mich gleiche Verhältnisse und gleicher Geschmack hatten anschließen lassen, aus der obern Stadt, wohin uns eins von Ole Bull’s Concerten gezogen, und als Jener ein Glas heißen Punsch zur Erwärmung für unsere halb erstarrten Glieder vorschlug, kam er nur meinem eigenen Wunsche zuvor. Das nächste hellerleuchtete Trinklocal ward zum Ziele genommen, und bald saßen wir an einem einsamen Tischchen, mit Behagen die belebende Flüssigkeit einschlürfend.

Mader hatte eben einige launige Bemerkungen über die verschiedenen Gruppen von Amerikanern, welche den Schenktisch umlagerten, gemacht, als sich plötzlich ein Stuhl in den Raum zwischen uns schob und eine darüber gebeugte Gestalt mit einem schwermüthigen Lächeln nach uns Beiden sagte: „Guten Abend, Gentlemen, entschuldigen Sie mich!“ Damit aber hatte der Mann sich auch bereits niedergelassen, warf einen Blick nach unsern Gläsern und fragte mit einem melancholischen Kopfschütteln: „Brandy?“

Wir sahen uns Beide etwas überrascht an, der Eindringling schien indessen kaum auf uns zu achten, legte den Kopf zurück und schloß die Augen halb; Mader aber, der einen raschen, kritischen Blick über die etwas schäbige Erscheinung des Fremden geworfen, winkte mir mit den Augen, als erwarte er hier ein unvorhergesehenes Amüsement. Da begann der Dasitzende plötzlich mit einer Stimme, die jedenfalls einen elegischen Klang haben sollte:

„Wohl ist Wohl, und Schmerz ist Schmerz,
Was uns weh thut, fühlt das Herz!“

„Sagten Sie etwas?“ rief ihn Mader an, und wie aus dem Schlafe erwachend fuhr der Angeredete auf, ließ einen verwunderten Blick durch das Local schweifen und erwiderte dann:

„Habe ich etwas gesprochen, Gentlemen? O, ich war das nicht, der sprach, es war Byron’s Geist, der meine Lunge in Anspruch nahm!“

„O, so sind Sie ein Spiritualist, ein Medium!“ lachte mein Gefährte auf.

„Beides zu meinem Schmerze, und ich könnte Ihnen Dinge erzählen – aber bitte, bestellen Sie keinen Brandy für mich!“ unterbrach sich der Sprecher, die Hand abwehrend ausstreckend.

„Sicherlich nicht!“ erwiderte Mader.

„Weil ich,“ fuhr der Fremde fort, als habe er den Einwurf nicht gehört, „stets nur Gin mit Zucker trinke!“

Mader lachte; ich aber, dem eine solche Erscheinung neu war, bestellte den Gin.

Der Fremde schlürfte sein Glas mit einem zerstreuten Blicke, wischte sich mit einem baumwollenen Taschentuche die Stirn und sagte dann: „Sie werden jedenfalls meinen Namen wissen wollen, Gentlemen – ich heiße auf dieser Welt gegenwärtig Mac Feargus. Vor Zeiten hätten Sie mich unter einem andern Namen kennen lernen.“

„Ah, und unter welchem?“

„Noah!“

„Meinen Sie den Vater von Sem, Ham und Japhet?“

„Nein! ich meine zwar dasselbe Individuum, auf das Sie hinweisen, allein das hatte keine solchen Söhne.“

„Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen widerspreche!“ erwiderte Mader entschieden.

„Sicherlich, Sir; aber da ich selbst früher dieses Individuum war, leuchtet es Ihnen vielleicht ein, daß ich das selbst am besten wissen muß. Ich könnte wohl, da ich soeben die Erleuchtung in mir fühle, Jedem von Ihnen sagen, wer Sie vor Zeiten waren, allein Sie würden mir keinen Glauben schenken.“

„Nur los damit, und vielleicht glauben wir!“

Von Neuem legte der Fremde den Kopf zurück und schloß die Augen halb, riß sie aber nach etwa drei Secunden groß wieder auf und sagte, sich zu Mader wendend: „Sie waren Judith!“

„Hallo, hallo!“ lachte dieser. „Haben Sie sich nicht im Geschlecht geirrt?“

„Der Geist kennt kein Geschlecht!“ war die ernste Antwort. „Und Sie,“ wandte sich der Sprecher an mich, „gehörten zu den gemordeten Kindern von Bethlehem!“

Wir konnten eine Zeitlang nicht aus unserm Lachen heraus kommen, unser Gesellschafter aber sah schwermüthig drein, roch in sein leergetrunkenes Glas und sagte: „Sie mögen mich, wie ich merke, für einen passenden Gegenstand Ihres Amüsements halten, aber, Gentlemen, Sie würden anders urtheilen, wenn ich Ihnen die Geschichte eines Weihnachtsabends erzählen sollte, Sie würden begreifen, warum meine Kleider jetzt geflickt, meine Wäsche zerfetzt und meine Schuhe voll Löcher sind, würden verstehen, wie sich ein Mann als der letzten Hoffnung, die ihn noch aufrecht erhält, der Metempsychosis ergeben und die Ueberzeugung einer ewig vor sich gehenden Seelenwanderung erlangen konnte.“ Er griff mit einem tiefen Seufzer nach seinem Glase, aus welchem er die letzten zwei Tropfen in seinen Mund laufen ließ; ich aber, dessen Interesse für den sonderbaren Kauz geweckt war, sagte: „Nehmen Sie noch ein Glas Gin von uns an und erzählen Sie, Sir, wenn Sie nichts Besonderes davon abhält!“

[194] „Ich werde!“ sagte er, den Kopf langsam neigend, und als der Gin gebracht war, der Fremde sich auch durch einen langen Schluck die nöthige Fassung verschafft zu haben schien, begann er:

„Wie Sie mich hier sehen, Gentlemen, war ich zu etwas Besserem bestimmt, als ich werden sollte; ich habe als Knabe in London eine gute Schule genossen; die plötzlich veränderten Verhältnisse meiner Eltern aber zwangen mich, zu einem Handwerk zu greifen, und ich wurde, einem poetischen Dränge in mir folgend – Damenschuhmacher. Wissen Sie wohl, Genlemen, welche Poesie in einem Damenschuhe liegt? Die Polen sollen in der Ekstase aus den Schuhen ihrer Schönen trinken; ich weiß es nicht, aber ich kann es völlig verstehen; schon als junger Mensch hatten diese zierlichen, eleganten Fußbehälter einen wunderbaren Reiz für mich; aber erst als ich bei Ausübung meines Geschäfts dazu gelangte, so manchen kleinen weichen Fuß selbst, in welchem ich oft das warme Leben pulsiren fühlte, in meine Hände zu nehmen, lernte ich die Höhe eines Genusses kennen, den nur Wenige ahnen. Ich ward Dichter in der Ausübung meines Handwerks; keiner von allen Arbeitern in dem großen Geschäfte, dem ich angehörte, vermochte diesen Schwung des Gedankens in die Erfindung neuer Schnitte, diese Zartheit und Poesie in die Verzierung und Ausschmückung zu legen. Keiner aber verstand es auch, mit der Delicatesse und dennoch einer gewissen Innigkeit den preisgegebenen Fuß jeder unserer jungen schönen Kundinnen zu behandeln, als ich, und es geschah bei hochstehenden Damen, die unser Etablissement besuchten, oft, daß speciell nach mir verlangt ward. Ich war damals jung, Gentlemen,“ fuhr der Erzähler in wehmüthigem Tone, in sein halbgeleertes Glas blickend, fort, „man nannte mich einen schönen jungen Mann, und meine lockigen blonden Haare, die jetzt grau und struppig sind, erregten viel Bewunderung, aber ich hatte bis jetzt nur eine Leidenschaft für diesen oder jenen Fuß gehegt, ohne mein Herz weiter damit zu beunruhigen; jetzt nun sollte ich das höchste Glück meiner Beschäftigung, aber auch den größten Schmerz derselben kennen lernen.“

Er trank langsam sein Glas aus, blickte einen Augenblick wie in schwärmerischer Erinnerung zur Decke und fuhr dann fort:

„Ich hatte eines Tages eine neue Erscheinung in unserm Etablissement zu bedienen; ich hörte, es sei die Tochter eines Baronets, und die Equipage wie die begleitende Bedienung sprachen ganz dafür – was kümmerte das mich aber? Ich sah nur den zartesten Fuß, der je in meiner Hand geruht, fühlte durch den seidenen Strumpf die weiche feine Modellirung desselben, und kühne Gedanken über das, was ich als würdiges Meisterstück dafür schaffen werde, durchströmten mich; da blickte ich mit einer Frage empor zu ihr und sah zwei Augen unter langen dunkeln Wimpern mit einem Ausdrucke auf mir ruhen, der plötzlich ein Gefühl in mir schuf, wie ich es noch nie gekannt, halb Wonne, halb Schmerz, und als ich meinen Blick wieder verwirrt auf meine Beschäftigung senkte, war dieser Fuß nicht mehr ein für sich bestehender Gegenstand, ein bloßer Vorwurf für meine Kunst, er war plötzlich für mich ein Theil der schlanken Gestalt, die vor mir saß, geworden, und fast elektrisch durchzuckte es mich, als ich eine leise Bewegung desselben in meiner Hand fühlte. Wie ich mein Geschäft zu Ende brachte, weiß ich nicht mehr, ich erinnere mich nur, daß, als sie in ihren Wagen steigen wollte, sie sich noch einmal nach mir umsah und ein Zustand wie Verzückung sich meiner bemächtigte.

Von dieser Zeit an war ich ein anderer Mensch – alle Füße der Welt galten nichts für mich, was ich that, geschah nur gewohnheitsmäßig, und nur bei ihren Besuchen – und sie kam oft – fühlte ich ein neues Feuer in mir erwachen, ein Feuer, das die stille Sprache ihrer Augen jeden Tag mehr anschürte, das bei ihrem verständnißvollen Lächeln, wenn sie das Zittern meiner Hand fühlte, fast meine Besonnenheit zu vernichten drohte und das mich, sobald ich zum klaren Bewußtsein kam, zum Unglücklichsten der Welt machte. Ich sah, daß sie oft wegen der kleinlichsten Dinge, welche durch die Sendung eines ihrer Dienstleute hätten besorgt werden können, selbst vorgefahren kam, sie schien es mir absichllich merken zu lassen, daß sie nur einen Vorwand gesucht, um mit mir in Berührung zu kommen, ihre Mienen sprachen endlich so klar zu mir, als es nur Worte hätten thun können – aber bei alledem, was vermochte ich ihr gegenüber zu thun? Ich wußte nur, daß ich sie bis zur halben Raserei liebte und daß ich mich nächster Tage schweigend todtschießen würde, weil sie eine Baronetstochter und ich – ein Schuhmacher war!

Da, eines Tages – o mein Gott!“ fuhr der Redende fort und faßte nach seinem Glase, das er indessen, sobald er es leer bemerkte, weit von sich schob und dann kopfschüttelnd die Stirn in die Hand stützte.

„Noch ein Glas Gin mit Zucker!“ rief Mader, der mit gespannten Augen an des Erzählers Lippen gehangen, dem Kellner zu.

„Ich danke Ihnen, Gentlemen!“ sagte der Fremde mit matter Stimme, das herbeigebrachte Glas in einem Zuge leerend, „ich kann nicht ohne völlige Nerven-Erschütterung an jene so traurige und doch so schöne Zeit meines Lebens denken! – Da, eines Tages, wie ich eben sagte, redet mich der Chef unsers Geschäfts an: „Mac Feargus, es gilt ein besonderes Meisterstück von Geschmack und Eleganz; die junge Lady – (Namen werde ich nicht nennen, schaltete der Erzähler ein) wird nächstens ihre Hochzeit feiern, und Sie werden sich nach ihrem Hause begeben, um die nöthigen Andeutungen über die Brautschuhe zu erhalten; gehen Sie!“

Ich hatte einen in der Oeffentlichkeit ziemlich bekannten Namen gehört, aber was kümmerte ich mich weiter darum? Ich fahre in dem nächsten Miethwagen nach dem palastähnlichen Gebäude, lasse mich melden und werde nach einem lauschigen Boudoir geführt, wo mir, alleingelassen, eine kurze Zeit Muße bleibt, das berauschende Parfüm, von welchem die Luft durchschwängert war, einzuathmen und den luxuriösen Comfort eines solchen Damenzimmers zu bewundern. Da öffnet sich plötzlich eine Seitenthür, und herein tritt bleich, aber mit einem himmlischen Lächeln auf den Lippen und schöner als je, sie, die ich nie mehr einem sterblichen Ohre nennen werde, sie, die mein Glück und meine Qual war. Sie tritt, mir die Hand entgegenstreckend, auf mich zu, und ich, von meinen stürmenden Gefühlen überwältigt, fast einer Ohnmacht nahe, stürze auf den weichen Teppich zu ihren Füßen. Sie beugt sich über mich, legt ihre Stirn gegen die meine und sagt mit einer unendlichen Traurigkeit: „Wußte ich denn nicht, daß wir uns liebten, und konnte ich denn scheiden, ohne wenigstens eine einzige Viertelstunde des Alleinseins mit einander?“ – Da packte mich plötzlich meine ganze wahnsinnige Liebe und mein tödtlicher Schmerz, ich sprang auf, ich schlang meine Arme um sie, ich küßte sie glühend, verzehrend, und sie wehrte mir nicht, sie lag in meinen Armen widerstandslos meiner Leidenschaft hingegeben; da – klang das geräuschvolle Oeffnen einer Thür, mit einem Schrei riß sie sich aus meiner Umschlingung –“ der Erzähler brach ab, erhob sich rasch und machte einen Gang um unsern Tisch. „Es ist die entsetzlichste Minute meines ganzen Lebens, zu der ich jetzt gelangen werde,“ sagte er, sich in sichtbarer Erregung wieder niederlassend. „Lassen Sie mich trinken, Gentlemen, ich muß diese Erinnerungen abstumpfen und tödten, wenn ich weiter reden soll!“

Mich hatte die lebendige Erzählungsweise des eigenthümlichen Menschen mehr erregt, als ich es zu Anfange unseres Gesprächs je für möglich gehalten, und auf meinen Wink sorgte der Aufwärter für eine neue Zufuhr von „Gin mit Zucker“, die, wie in einer Verzweiflungsthat, sofort von dem Erzähler hinab gegossen ward.

„Als ich, aus meinem Rausche aufgeschreckt, um mich sah,“ fuhr Letzterer fort, „trafen meine Augen auf einen in’s Zimmer getretenen Officier, der mit wüthendem Blicke seinen Degen gezogen hatte und mir entgegen stürzte; ich sah ihn die Bewegung des Stichs gegen mich machen, fühlte indessen nichts von einer Verwundung und hatte im nächsten Augenblicke, dem Triebe der Selbsterhaltung folgend, die Waffe aus seiner Hand gerissen. Ich wollte die Thür gewinnen, aber er vertrat sie mir, und in der alle meine Gedanken überwältigenden Erregung stieß ich ihm seinen eigenen Stahl in die Brust – er taumelte, und ich sprang den Degen fortwerfend aus dem Zimmer – hinter mir aber klang es: „Haltet den Mörder, den Mörder!“ und vor mir sah ich zwei von dem Rufe aufgeschreckte Lakaien in meinen Weg treten. Ein gutgezielter, mit der Kraft der Verzweiflung geführter Faustschlag warf den Einen zu Boden, während der Andere meinen Angriff nicht abwartete und erschreckt zur Seite wich. Der Weg war frei, aber schon in der nächsten Minute bemerkte ich, daß ich in meiner hastigen Flucht die Haupttreppe verfehlt hatte und mich in einer Aufeinanderfolge von Sälen und Corridors befand, in welcher mein fliegender Blick vergebens nach einem Ausgang spähte. Schon vernahm ich, wie Alles, was das große Gebäude an Menschen enthalten mochte, auf den Füßen war, durcheinander schrie und lief, wie eine starke Stimme die Richtung angab, welche ich genommen; [195] ich flog vorwärts, denn ich hörte schon die verfolgenden Schritte – da nahm der Corridor, in welchen ich eingebogen, ein Ende, und vergebens strebte ich, nach irgend einer Seite hin eine Möglichkeit zu weiterer Flucht zu entdecken. Ein Zurückeilen hätte mich meinen Verfolgern gerade in die Hände geliefert, und in der Verzweiflung meines Herzens öffnete ich ein Fenster, das mir die Aussicht auf das Laubwerk eines nahestehenden Baumes gab, vielleicht daß es mir gelang, einen der Aeste desselben zu erreichen; aber schon der erste Blick hinaus belehrte mich über die Vergeblichkeit meiner Hoffnung. Da klang der Ruf eines meiner Verfolger ganz in der Nähe – schon die nächste Secunde mußte mich ihnen überliefern, und nur der augenblicklichen Angst nachgebend, stieg ich aus dem Fenster, mich auf eins der schmalen Gesimse, welche das Haus als Zierrath umliefen, hinablassend; der einzige Halt für meine Hände war dabei immer nur die Fensterbrüstung, jeder Blick von innen heraus mußte mich entdecken und ich meinte schon Stimmen in meiner unmittelbaren Nähe zu hören – da fiel mein Auge auf die blecherne Röhre an der Ecke des Hauses, zur Leitung des Regenwassers vom Dache nach dem Boden bestimmt, und auf die Gefahr hin in eine Tiefe zu stürzen, welche das herüber reichende Laub des Baumes mich nicht ermessen ließ, gab ich mir einen Schwung, um den neuen Halt zu gewinnen – und ich gewann ihn; aber während sich meine Hände krampfhaft um die Röhre schlossen, waren meine Füße von dem Gesims geglitten und vergebens strebte ich, an der glatten Mauer einen neuen Stützpunkt dafür zu gewinnen – der Baum, welcher mich mit den äußersten Spitzen seines Laubes verbarg, verwehrte auch dadurch meinen Augen jeden Blick unter mich. Und jetzt, wie ich so da hing, nur von der Kraft meiner Arme vor dem Sturz in die Tiefe bewahrt, fühlte ich zum ersten Male, daß meine Kleider sich naß und schwer an meine rechte Seite anschlossen, fühlte es warm über meine Haut rieseln und erkannte, daß ich verwundet war. Mochte es nun diese plötzlich gewonnene Ueberzeugung oder wirklich eine Folge des schon erlittenen Blutverlusts sein, ich fühlte meine Arme schwach werden, es überkam mich wie eine halbe Ohnmacht, und nur das plötzliche Klirren des Fensters neben mir vermochte es, mir für einige Secunden meine Geistesklarheit wieder zu geben. „Er muß hier hinaus sein, und doch hätte er nicht mit ganzen Knochen unten ankommen können!“ klang es; dann schloß sich das Fenster und ich fühlte, wie meine Finger die Kraft verloren, mich ferner zu halten, die Verzweiflung schlug ihre Krallen in mein Herz und vor meinen Augen dunkelte es wieder, eine unklare Idee, daß meine Glieder im nächsten Momente zerschmettert auf dem Pflaster liegen würden, durchfuhr mich –“ der Erzähler faßte, wie völlig von der Aufregung überkommen, nach seinem Glase, stieß es aber, da es leer war, wieder von sich und ließ das Gesicht in seine Hände fallen.

„Gin, Kellner, bringen Sie Gin!“ rief Mader, als denke er dem Verblutenden damit neue Kräfte einzuflößen. Der Erzähler aber hob erst den Kopf wieder, als der Duft des neu herbeigebrachten Getränkes seine Nase berührt haben mochte, nahm bedächtig zwei große Schlucke und fuhr dann fort: „Es ist wunderbar, Gentlemen, wie in schlimmen Lagen oft der Geist so befangen ist, daß er das Einfachste und Natürlichste nicht zu erkennen vermag. Als meine Finger ihre Spannkraft zu verlieren begannen, fühlte ich mich langsam an der Dachrinne, an welcher ich hing, hinabgleiten, und der Rest meines Bewußtseins reichte gerade noch hin, um durch Anklammern meiner Kniee diese Niederfahrt nicht zu einem raschen Sturze werden zu lassen; kaum hatte ich aber den Boden erreicht, als es auch völlige Nacht um mich ward.

Mein nächstes Gefühl war das, mich auf einem bequemen Lager zu befinden. Wie ein sanfter, süßer Hauch ging es über mein Gesicht, und ich öffnete mühsam meine Augen. Da meinte ich ihr in Thränen gebadetes Gesicht vor mir zu sehen; im nächsten Augenblick aber hatte mir die Anstrengung auch schon wieder meine Besinnung genommen, und als ich am folgenden Tage zum ersten klaren Gedanken wieder gelangt, als ich erfuhr, daß ich im Hospitale lag, wohin ich, fast zum Tode verwundet, von der Straße aufgelesen, gebracht worden war, hielt ich die Erscheinung für einen Traum. Noch todesmatt lag ich an diesem Abende regungslos und mit halbgeschlossenen Augen, da ging derselbe süße Hauch wie Tags vorher wieder über mein Gesicht; ich sah rasch auf, und diesmal war es kein Traum – sie stand mit einem Blicke, aus dem es sich wie unendliche Liebe in den meinen ergoß, über mich gebeugt. Ich wollte mich aufrichten, aber vermochte es nicht – da senkte sie ihre warmen Lippen leise auf die meinen, zugleich aber fühlte ich, wie zwei schwere heiße Thränen auf meine Wangen fielen; dann drückte sie die Hand vor die Augen und trat hinweg. Als ich mühsam den Kopf gewendet, sah ich eben ihr Kleid in der Thür des kleinen Zimmers, welches für mich allein eingeräumt war, verschwinden. Später erfuhr ich, daß, als durch meinen Chef der Aufenthalt seines verschwundenen Arbeiters ermittelt worden war, sie, die Niemand im Hospitale kannte, die Kosten für meine besondere Pflege bezahlt und während der gefährlichsten Periode meines Zustandes jeden Abend weinend an meinem Lager gestanden hatte.

Seit diesem letzten Besuche kam sie nicht wieder, und erst als ich wieder zu Kräften gelangt war, ward mir ein Brief von ihr, ihr letztes Lebewohl, wie sie damals meinte, eingehändigt. Ich habe diese Zeilen so oft gelesen, daß sie Wort für Wort in meinem Herzen eingegraben stehen. Sie schrieb:

„Ewig Geliebter!

Wir müssen für immer scheiden, aber wenn auch Welt und Menschen unsere Körper trennen, so werden unsere Seelen doch fort und fort bei einander sein. Ich will an Dich denken im Wachen und Schlafen, und wenn wir Beide gestorben sind, wird mein Geist durch den Weltenraum fliegen, um den Deinen zu suchen.

Ich sollte verheirathet werden und widerstand, seit ich Dich gesehen; Niemand vermochte sich meine plötzlich veränderte Gesinnung zu erklären, bis mein Bruder Dich bei mir fand. Die Rache der Familie sollte sich jetzt über Dein schuldloses Haupt ergießen, und nur unter der Bedingung meiner sofortigen Zustimmung zu der einmal beschlossenen Heirath ward jede Verfolgung wegen der Verwundung meines Bruders aufgegeben. Er ist wieder hergestellt, und keine Blutschuld haftet auf Dir. Ein Tuch aber, welches Dein Blut getrunken, soll bei mir bleiben bis an meines Lebens Ende.

Ich sollte zu meiner Hochzeit als reichgeschmücktes Opferlamm erscheinen, aber sie haben mir wenigstens die Verhöhnung meiner Herzenstrauer erlassen müssen, und ich lege die dafür bestimmt gewesene Summe Dir hier bei, da sie im Stande sein wird, wenigstens in Etwas Deinen künftigen Lebensweg zu ebenen.

Und so lebe tausendmal wohl, bis unsere Geister in einem neuen Leben, wo kein Unterschied herrscht, selig in einander fließen werden.“

„Und diesen Zeilen,“ fuhr der Redner tiefaufathmend fort, „war eine Summe in Banknoten beigefügt, die mir sofort die Möglichkeit gab, eine eigene Selbstständigkeit zu begründen, und als ich ihre Schriftzüge mit meinen Thränen durchnäßt, leistete ich mir einen heiligen Eid, daß niemals in diesem Leben ein anderes Weib mich dem Andenken an sie untreu machen solle, die mich geliebt wie Keine.

„Aber wozu sage ich das Alles Euch,“ fuhr der Erzähler mit einem Schmerzenstone plötzlich auf, „von denen wohl Jeder meint, schon geliebt zu haben, und doch nicht weiß, was Liebe ist? die Ihr wohl kaum mich verstehen werdet, wenn ich Euch nun den schrecklichsten Abend meines Lebens mittheile, den Abend, der mich für diese Welt zu Grunde gerichtet – gebt mir Gin, Gin, damit ich meinen Gram ersäufe!“

Mader rief mit einer Stimme nach Gin, welche die tiefe Bewegung zeigte, die Ton und Ausdruck des seltsamen Mannes in ihm hervorgerufen.

„Ich stürzte mich jetzt in’s Geschäftsleben,“ fuhr der Letztere nach einem raschen Zuge aus seinem Glase fort, „ich hatte ein eigenes Etablissement begründet, und mein bisheriger Ruf als Arbeiter schuf mir bald einen reichen Kundenkreis, keine meiner Preise waren zu hoch, und je mehr ich mit dem Schicksale, das mich auffallend begünstigte, spielte, desto höher hob es mich. Mein Geschäft ward endlich eins der renommirtesten unter der gesammten Aristokratie, und die offenen und verdeckten Heirathsanerbietungen mehrten sich täglich; aber ich blieb treu dem, was ich geschworen.

Da kam einmal wieder Weihnachts-Abend heran, der Tag, an dem ich zugleich geboren bin. Eine kleine Gesellschaft von Freunden hatte sich in meinem eleganten Parlor eingefunden, fast ward ich selbst heiter unter dem muntern Tone, der sich herausbildete, und das wohlthuende Gefühl durchdrang mich, daß ich den Haupterfolg meines geschäftlichen Lebens meiner eigenen Thätigkeit zu danken hatte. Wir waren, während ein eiskalter Wind an den Fenstern rüttelte, mit einem guten Mahle und einer heißen Bowle Punsch beschäftigt gewesen, und erst nach Mitternacht verabschiedeten [196] sich meine Gäste. Eben hatte ich die letzten, einige junge Damen, die mich gar zu gern von meinem Junggesellenstande erlöst hätten, bis an die Hausthüre zu ihrem harrenden Wagen gebracht, und dieser war abgefahren, als ich plötzlich eine bleiche, schlotternde, kaum nothdürftig gegen die strenge Kälte geschützte weibliche Gestalt vor mir sah. Sie blickte mich mit eingesunkenen Augen an, die Straßenlampe warf nur ein spärliches Licht herüber, aber ein plötzlicher Schrecken durchfuhr mich beim Anblicke dieses Gesichts, das ich kennen mußte. „Seid barmherzig!“ klang es tonlos aus ihrem Munde, und beim ersten Lautwerden dieser Stimme schrie ich auf, ich nannte einen Namen, der mir der theuerste auf der Welt war, und sie zuckte zusammen, ihre Augen wandten sich groß und wie halb entsetzt nach mir; dann streckte sie mit einem unarticulirten Ruf ihre Arme nach mir aus und wankte; ich aber hatte sie schon, meiner Sinne kaum mächtig, umschlossen, ich hob sie auf wie ein Kind und stürmte mit ihr, während ich nach der Dienerschaft rief, dem Zimmer zu – denn, Gentlemen,“ fuhr der Erzähler mit zitterndem Tone fort, „die da an meiner Thüre halb erfroren stand, war sie, der Abgott meines ganzen Lebens.

Wenige Worte von ihr, die sie schluchzend und gebrochen mir mittheilte, als ich sie in den weichsten Lehnstuhl an das Feuer gebettet, gaben mir mit einem Schlage volles Licht. Ihre Eltern waren schon mehrere Jahre todt, ihr Mann hatte ihr reiches Vermögen zum großen Theile verpraßt und war mit dem Reste und einer Concubine entflohen; sie hatte ihre sämmtlichen Habseligkeiten verkauft, um wieder nach London zurückgelangen zu können, aber das Geld war nicht hinreichend gewesen; zu Fuß hatte sie die letzten Stationen zurückgelegt, hatte sich ihren Lebensunterhalt erbetteln müssen und war endlich rath- und hülflos in den Straßen Londons umhergeirrt.

Aber das überströmende Gefühl meines Glücks, als ich sie glaubte dem Elende entrissen zu haben, sollte nicht lange währen – eine völlige Bewußtlosigkeit folgte ihren ersten krampfhaften Aeußerungen, und bald stellten sich noch beunruhigendere Symptome ein. Ich hatte sie zu Bett bringen lassen und nach dem Arzte geschickt – dieser zuckte indessen die Achseln, gab strenge Anordnungen und empfahl mir, nach Anhörung des Sachverhältnisses, nicht zu viel zu hoffen. Ich verbrachte die Nacht an ihrem Bett, sah Bewußtlosigkeit mit halber Fieberraserei wechseln, hörte sie meinen Namen wie in höchster Noth rufen und hätte mir den Kopf an der Wand zerstoßen mögen, daß ich nicht helfen konnte. Am andern Abend war sie eine Leiche, und ich saß in dumpfer Verzweiflung, ihre kalte Hand in der meinen, an ihrem Lager.“

Der Erzähler hatte mit bebender Stimme die letzten Worte gesprochen, den Kopf schwer über den Tisch sinken lassen, und ein paar große Thränen rollten in sein leeres Glas. Mich hatte diese letzte Scene so ergriffen, daß ich, um nur dem Eindrücke zu entkommen, von Neuem nach „Gin und Zucker“ rief. Der Gebeugte griff mit einem stillen Kopfschütteln nach der erneuerten Ladung und fuhr dann fort:

„Seit dieser Zeit war ich ein gebrochener Mensch. Ich mochte London nicht mehr sehen, verkaufte mein Geschäft um die Hälfte des Werths und ging hierher. Aber der Gram war mein Reisegefährte. Ich suchte ihn durch jede Art von Zerstreuung zu tödten, ich stürzte in den Strudel aller möglichen Vergnügungen und wurde endlich nur inne, daß ich mein Geld verthan, ohne etwas dafür gewonnen zu haben. Ich ward endlich zum Bettler, aber was lag daran, da mir das ganze Leben nichts mehr galt? Ich hoffe ja nur, daß es bald zu Ende gehen und der Tod mich mit ihr vereinen soll, die auf mich wartet.

Jetzt, Gentlemen, wissen Sie, warum ich an Spiritualismus und selbst an Seelenwanderung glaube. Einst vielleicht fühlen sich unsere Seelen, mit neuen Körpern vereinigt, in unwiderstehlicher Sympathie zu einander hingezogen und wir erhalten Ersatz für das, was unser jetziger Lebenslauf uns versagt hat. Sie wissen auch nun, warum meine Kleider zerrissen sind, warum ich mich im Gin betäube, und Sie werden nicht mehr spotten, denn noch wissen Sie nicht, unter welchen Verhältnissen Sie selbst sich einmal nach der Stunde sehnen, in der Sie Ihr müdes Haupt zur Ruhe niederlegen können.“ Er schwieg.

Wir waren sehr ergriffen von der Erzählung. Wir bemitleideten den alten Mann von Herzen, der nur durch seine Seelenleiden zu einer Art fixer Idee gekommen zu sein schien, und als ich mein Portemonnaie zog und Mader einen heimlichen Wink gab, war dieser sofort bereit, wenigstens so viel in unserer Macht stand, für seine augenblicklichen Bedürfnisse beizusteuern.

Er nahm das Geld mit ruhiger Würde, dankte und erhob sich etwas schwankend, um das leer gewordene Local zu verlassen.

„Ist der Mann oft hier?“ fragte ich den Aufwärter, als ich bezahlte.

„Sie meinen den alten Sünder?“ erwiderte der Befragte lachend, „jawohl, so oft, als wir ihm nicht gleich vorn Anfange die Thür zeigen.“

„Aber wie kommen Sie dazu einen Unglücklichen so hart …“

„Einen Unglücklichen?“ lachte der Aufwärter. „Ein unverbesserlicher Trinker und Faullenzer ist er, für dessen Frau und Kinder das Armenhaus sorgen muß. Er selbst aber erschwindelt sich durch allerhand rührende Geschichten so viel, daß er zur Noth leben kann und freies Trinken hat – er sieht es auf der Stelle Jedem an, der noch grün in unserm Lande ist –“

„Aber der Mann hat hier geweint!“ rief ich halb verblüfft.

„Hat er das? Ja das ist immer seine Manier, wenn er wirken will und durch den Gin nach und nach warm wird,“ war die Antwort.

Mader sah mich und ich ihn an – Keiner sprach ein Wort, als wir in unsere Röcke gehüllt den Heimweg antraten.
O. R.