Ein erfreulicher Fortschritt der Desinfektion
[275] Ein erfreulicher Fortschritt der Desinfektion. Es ist bekannt, daß unsere bisherigen Desinfektionsarten nach verschiedenen Richtungen zu wünschen übrig lassen. Lederwaren und Bücher leiden, wenn sie der feuchten Hitze ausgesetzt werden, und während der letzten Choleraepidemie hat sich gezeigt, daß die Desinfektion vielfach der Vernichtung eines Teils des Gepäcks der Reisenden gleichkam. In Kreisen der Chemiker und Hygieiniker war man darum schon lange bestrebt, Mittel zu finden, welche den Anforderungen der Hygieine und der Volkswirtschaft in gleichem Maße gerecht würden, welche an den verschiedenen Gebrauchsgegenständen die Krankheitskeime sicher zerstörten, die Gegenstände selbst aber unbeschädigt ließen.
Was nun Lederwaren, Bücher, Pelze und Kleidungsstücke anbelangt, so ist durch Untersuchungen von Prof. K. B. Lehmann in Würzburg ein derartiges Mittel gefunden worden. Es besteht in einer 40prozentigen Lösung von Formaldehyd, welche unter dem Namen Formalin in den Handel gebracht wird und von der ein Liter gegenwärtig drei Mark sechzig Pfennig kostet. Dieser Stoff verdunstet an der Luft und seine Dämpfe haben eine sehr hohe keimtötende Kraft, greifen dabei aber die Gebrauchsgegenstände wie Leder, Kleidungsstücke, Pelzwaren etc. nicht an.
Im Laboratorium des Professors Lehmann wurden die zu desinfizierenden Gegenstände in Tücher eingewickelt, die man mit Formalin beträufelt hatte, und dann in einer Kiste verschlossen. Es zeigte sich, daß dreißig Gramm Formalin, die etwa elf Pfennig kosten, genügten, um einen Männeranzug in vierundzwanzig Stunden selbst von so widerstandsfähigen Keimen wie die Milzbrandsporen völlig zu befreien. Bücher konnten, ohne beschädigt zu werden, durch Anwendung sehr geringer Mengen Formalins in wenigen Stunden sicher desinfiziert werden. Es ist also nicht ausgeschlossen, daß wir endlich ein Mittel entdeckt haben, um die Bücher der Leihbibliotheken hinsichtlich der Verschleppung von ansteckenden Krankheiten weniger gefährlich oder vielleicht völlig unschädlich zu machen.
Sehr wichtig ist aber die Anwendung des Formalins zur Desinfektion von Bürsten und Kämmen. Daß durch diese in Friseurläden zahlreiche Haar- und Hautkrankheiten verbreitet werden, ist längst erwiesen. Die Friseure sind nicht geneigt, ihr Handwerkszeug gründlich zu desinfizieren, weil es durch die bekannten Desinsektionsarten angegriffen und beschädigt wird. Professor Lehmann teilt nun mit, daß Bürsten, in Tücher eingewickelt, die mit Formalin beträufelt worden waren, nach vierundzwanzig [276] Stunden völlig steril waren und dabei unbeschädigt blieben; nicht einmal die Politur hatte gelitten.
Das Formalin dürfte auch bei der Desinfizierung von Wohnräumen die schweflige Säure und das Chlor ersetzen, Stoffe, die bekanntlich so vieles angreifen, und vielleicht eignet es sich auch zur Mottenbekämpfung.
Es hat allerdings wie alle Desinfektionsmittel seine Schattenseiten. Zwar läßt der üble Geruch sich durch nachträgliches Besprengen mit Ammoniak (Salmiakgeist) leicht beseitigen, aber es ist zugleich giftig und wirkt ähnlich wie die schweflige Säure reizend auf die Schleimhäute des menschlichen Körpers. Bevor man daher in Privathäusern zur Benutzung dieses Mittels schreiten kann, muß noch das Ergebnis weiterer Versuche, die im Gange sind, abgewartet werden. Alsdann werden auch Verhaltungsmaßregeln für den Gebrauch des Formalins von seiten der Laien gegeben werden können. Immerhin müssen wir schon heute die Entdeckung jener Eigenschaften des Formalins als einen erfreulichen Fortschritt in der Desinfektionslehre begrüßen. In kleineren Ortschaften, die über große Dampfdesinfektionsanstalten nicht verfügen und solche auch nicht zu bauen vermögen, wird es sich wahrscheinlich sehr nützlich erweisen, und in den großen Anstalten wird man mit seiner Hilfe Lederwaren und andere Gebrauchsgegenstände, die den heißen Dampf nicht vertragen, sicher und auf ökonomische Weise desinfizieren können. *