Ein Wintertag ins St. Petersburg

Textdaten
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Autor: Eugen Zabel
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Titel: Ein Wintertag ins St. Petersburg
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 46, S. 784–785, 788
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[784–785]

Ein Wintertag in St. Petersburg.
Nach einem Gemälde von Jan V. Chelminski.

[788] Ein Wintertag in St. Petersburg. (Zu dem Bilde S. 784 und 785.) Während das qualvolle Hinsterben Zar Alexanders III. allenthalben das menschliche Mitgefühl bewegt, vor allem aber die russische Hauptstadt mit Trauer erfüllt, ruft unser Bild das Gedächtnis an Tage wach, da sich das russische Staatsoberhaupt noch im Vollbesitz seiner Gesundheit fühlte und bei schönem Winterwetter gelegentlich auch mitten im fröhlich festlichen Treiben des Schlittenverkehrs in den Promenadenstraßen St. Petersburgs gesehen werden konnte.

Freilich, er kam nicht gern nach Petersburg, das in ihm die Erinnerung an das schreckliche Ende seines Vaters durch die Dynamitbomben der Nihilisten neu belebte. Seine Residenz blieb das alte Schloß in Gatschina, wo er ungestört den Regierungsgeschäften und seiner Familie leben konnte. Aber ab und zu vermochte er sich der Verpflichtung, die Hauptstadt zu besuchen, doch nicht zu entziehen. Er wohnte dann gewöhnlich nicht im Winterpalais, wohin man vor dreizehn Jahren seinen Vater sterbend im Schlitten gebracht hat, sondern im Anitschkowpalast, den er bereits als Thronfolger bezogen hatte. Er liegt am Newski-Prospekt und zwar an einer der schönsten Stellen desselben. In seiner unmittelbaren Nähe hat man das Alexandratheater, die Bibliothek, den Kaufhof und das Stadthaus vor sich, so daß man also hier nacheinander die Petersburger bei ihrem Vergnügen, beim Studium, beim Kaufen und Verkaufen, sowie endlich bei ihren städtischen Verhandlungen beobachten kann. Die glänzendste Lebensentfaltung entwickelt sich aber hier, wenn ein heller Wintertag den Petersburger ins Freie lockt.

Ein Petersburger Wintertag bei zwanzig Grad Kälte! Den deutschen Leser überläuft es eiskalt, wenn er daran denkt, und er schiebt schnell einige Stücke Holz in den Ofen, um die unangenehmen Vorstellungen, die dabei in ihm entstehen, zu verscheuchen. Aber in Wirklichkeit ist der Winter für die besitzenden Klassen in Petersburg eine der lustigsten Sachen, die es giebt. Die Kälte ist dort nicht mit trübem Wolkenhimmel und Nebel verbunden, die uns nervös machen und das unbehagliche Gefühl des Fröstelns erzeugen. Die Luft ist krystallklar, der Himmel hellblau, die Sonne scheint fröhlich hernieder und vergoldet die Spitzen der Kirchen und Kapellen. Der Schnee knirscht unter den Füßen und über ihn hinweg gleiten pfeilschnell unzählige Schlitten. „Das ist heute einmal ein guter Frost,“ sagt der gemeine Mann, indem er sich die Ohren reibt und in das nächste Wirtshaus geht, um ein Gläschen zu trinken. In Petersburg regt die Kälte zur Lebenslust an, man sieht in ihr einen Feind, den zu besiegen Freude macht. Das gilt vor allem gerade vom Newski-Prospekt, der prachtvollen Hauptstraße der Zarenresidenz mit ihren unzähligen Kaufhäusern, Palästen, Kirchen und Denkmälern, vor welchen sich die Menge unaufhörlich drängt. Fast fünf Kilometer zieht sich diese Straße vom Admiralitätsplatze bis zum Moskauer Bahnhof hin. Die Hauptpromenade bildet der Teil von der Polizeibrücke bis zur Anitschkowbrücke.

Unser Bild zeigt uns den schönen Square vor dem Alexandratheater, das durch die korinthischen Säulen des Peristyls und die Quadriga von Erz auf dem Dach charakterisiert wird und vor welchem sich ein Standbild der Kaiserin Katharina II. erhebt. An der Ecke der großen Gartenstraße und des Alexandraplatzes befindet sich die Kaiserliche Bibliothek. Die kahlen Bäume sind von Schnee und Frost versilbert und die Schlitten fliegen nach allen Richtungen durcheinander. Sie haben zum Teil allerliebste phantastische Formen, wodurch sie noch leichter und eleganter erscheinen. Der dicke Kutscher hält die Zügel fest in der Hand und freut sich, wie feurig seine Pferde mit den Hufen den Boden schlagen, wie ihre Nüstern blasen, wie das Schneenetz fliegt und alles lustig und zufrieden ist. Da drehen sich die Fahrgäste und Spaziergänger plötzlich nach einer Seite, die Gorodowois (Schutzleute) stellen sich kerzengerade hin, schlagen die Hacken zusammen und legen die Hände an die Hüften. „Der Zar kommt!“ hört man rufen und schon saust der prachtvolle Schlitten an uns vorbei, in welchem das Kaiserpaar sitzt. Die mächtige Gestalt des Kaisers und neben ihm die zarte, noch immer mädchenhafte Figur seiner Gemahlin werden sichtbar auf der Rückfahrt nach dem Anitschkowpalast. Bei dem tragischen Ende, das inzwischen den bedauernswerten Fürsten ereilt hat, kann man nicht ohne Ergriffenheit bei dieser Straßenscene verweilen, wo er, von der Bevölkerung freudig begrüßt, ein Bild der Gesundheit, dahinfährt. Eugen Zabel.