Textdaten
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Autor: C. Lionheart
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Titel: Ein Weihnachtsbrief
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aus: Die Gartenlaube, Heft 51, S. 862–863
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
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Ein Weihnachtsbrief.0 Von C. Lionheart.

Manchester, den 10. December 1885.     
  Meine liebste Elli!
Du bittest um eine Antwort mit Postwendung, ob Du Lizzy’s Einladung annehmen sollst und unsern lichtstrahlenden deutschen Christbaum vertauschen gegen die immergrüne Weihnachtskrone Alt-Englands? Da hast Du meine Entscheidung: Geh’ auf alle Fälle, aber nimm meinen Rath auf den Weg: hüte Dich vor dem tückischen mistletoe! Ich glaube, ohne diesen gefährlichen mistletoe hätte ich mich nicht eben durch jenen erstickenden schwefelathmenden Nebel zu kämpfen brauchen, den nur das Klima meines neuen Heimathlandes zu solcher Intensität entwickeln kann – das wäre was für Dich gewesen, Du herzige Lachtaube! Keine zwei Schritte vor Augen sehen, sich forttappen mit ausgestreckten Händen, um nicht gegen einen Fremden anzurennen, dessen Gestalt wie ein unheimlicher Schemen silhouettenhaft durch den grauen Dunst Dir entgegenschwebt! Wie auf Wolken gleitest Du ängstlich dahin – denn selbst der Boden ist mit der dicken Atmosphäre wie bedeckt und das Licht der Gasflammen ist jetzt um die zwölfte Mittagsstunde von diesen schwebenden Dünsten wie verschlungen und erstickt. Jetzt fallen zarte, leichte Schneesternchen sacht zur Erde. Werden wir doch noch eine weiße Weihnacht haben wie im vorigen Jahre, wo Lizzy Brook mich ohne viel Umstände mit sich nach Hause entführte?

Weißt Du noch, Elli? Du Aermste mußtest das schöne Fest ja in der Pension vertrauern, weil Dir die böse Lungenentzündung das Heimreisen noch nicht gestattete, und nicht besser wäre es mir ergangen, hätten sich Lizzy’s Eltern nicht meiner erbarmt und Lizzy’s Bruder Tom (ein Herr, der mir erstaunlich nahe lebt und eben mein Ohrläppchen zwickt, da ich seinen Namen schreibe) uns von Dresden abgeholt. Im Hause meines Vormundes war die Masernepidemie ja noch nicht völlig überwunden, unsere alten Pensionsfräuleins fürchteten die Ansteckung für mich: ergo die mögliche Einschleppung für unser Dresdener Tusculum, und so mußte ich heimathsloses Waisenkind denn in die Welt pilgern, um überhaupt zu wissen, daß es Festtage waren. Und welche Festtage! Ja, dabei fällt mir ein, ich wollte Dich vor dem mistletoe warnen, ich habe ja noch ein halbes Dutzend Schwäger in den verschiedensten Jahrgängen und darf Dich in der Ahnungslosigkoit Deiner 17 Jahre unmöglich gleichen Fährlichkeiten harmlos entgegenziehen lassen, ohne … Tommy kneipt schon wieder; er sagt, ich sei schändlich undankbar gegen den mistletoe, der inzwischen zu einer Brautkrone für mich angewachsen, ich verleumde ihn barbarisch. Gut, ich werde Dir also nur ganz objektiv von den Weihnachtsbräuchen hier zu Lande referiren, und Du magst daraus die Dir nützlichen Schlüsse selber ziehen.

Wir kamen also im vorigen Jahre einen Tag vor Weihnachten glücklich in Lizzy’s Vaterhause an, nebenbei gesagt, eines der prächtigsten [863] komfortabelsten Landhäuser im großen Stil und ausgedehntestem Garten- und Parkkranz. Eine eigentliche Christbescheerung oder specielle Feier des Heiligabends wie bei uns im deutschen Vaterlande kennt man nicht, dafür aber macht sich der Familiensinn und die Familienzusammengehörigkeit bei den Engländern während dieser Zeit weit mehr geltend als bei uns. Von weit und breit kommen sie zugereist, die in irgend näherem Zusammenhang mit dem Stammhause stehen, um in schönster Gemeinsamkeit die Feiertage zu verleben. Es ist ein heiligschönes Familienfest im wahrsten Sinne des Wortes. Christbaum und Weihnachtsgeschenke lernt man leicht verschmerzen, wenn man inmitten einer so fröhlich-harmonischen Weihnachtsversammlung sitzt, die völlig vergessen zu haben scheint, daß es ernste Lebensfragen und Sorgen für den übrigen Theil des Jahres giebt. Die Alten werden wieder jung mit der Jugend, spielen lustig „Blindekuh“, „Such’ den Pantoffel“ und andere drollige Kinderspiele mit uns heiteren Menschen unter 20 Jahren, und kaum weiß ich, wer sich mit vollerem Herzen dem Genusse des Augenblicks hingab: mein steifer wortkarger Schwiegerpapa mit den schneeweißen Bartkoteletten, vor dem ich an Werkeltagen einen so scheuen Respekt habe, oder meine damals siebzehnjährige Wenigkeit. Drei Schwestern von Mrs. Brook mit Männern und Kindern waren ebenfalls gekommen, sechs Söhne des Hauses aus Oxford und Eton rechtzeitig eingetroffen, und mein langbeiniger, etwas ungeschlachter Tom, an dessen Arm ich wie ein „ridicule“ anzuschauen sein muß (au, da kneipt er schon wieder!), hatte den Fabrikschornsteinen Manchesters auf einige Tage ganz den Rücken gekehrt, um hier in Bowden (ein Platz wie Charlottenburg zu unserem heimischen Berlin) die rauchige Geschäftsatmosphäre aus Kopf und Kleidern los zu werden.

Wir waren eine Gesellschaft von sage dreißig Personen. (Es geht hier übrigens alles im großen Stil zu, Mittelklassen existiren eigentlich nicht und man sieht nur ganz reiche oder ganz arme Leute.) Dreißig Personen, die das gastliche Haus der Brook’s umfaßte, und wie viel „fun“ haben wir getrieben! Nun möchtest Du wissen, was dieser urenglische „fun“ heißt, nicht liebe Seele? Das ist Scherz, gute Laune, Vergnüglichkeit und Amusement alles zusammen genommen; das, was man Andern thut, von diesen bekommt, und was von außen hinzutritt, um fröhliche Stimmung zu verschaffen. Wir Jugend strömten in den schneebedeckten Garten und beraubten die immergrünen Büsche. Ueberall wurden die metallisch-leuchtenden, stachligen, dunkelgrünen Blätter, zwischen denen die dunkelrothen Beeren funkelten, als Zierrath und Weihnachtsembleme angebracht, Bilder, Spiegel, Wände, nichts wurde vergessen, und dann hing Lizzy den Mistelbusch, der in keinem echt englischen Hause zu Weihnachten fehlen darf, mitten unter den Kronleuchter. Schwager Charly hat dazu eine Skizze gezeichnet, die ich zu Deiner besseren Orientirung dem Briefe beischließe, und Schwager Bob, unser gelehrtes Familienlexikon, läßt Dir sagen, die Mistel (mistella) sei als Weihnachtsschmuck ein Ueberbleibsel der Druidenzeit, wahrscheinlicher noch eine Verehruug des Gottes Balder, weil derselbe durch einen Mistelstock erschlagen wurde; da er aber wieder auferstand, wurde der Mistelzweig der Liebesgöttin gespendet, woraus der Brauch entstanden – doch ich will meinem Schlußeffekt ja nicht vorgreifen.

Kehren wir also zuerst zu den Weihnachtsgesängen, die den Tag einleiten und von unsern beiden Jüngsten mit engelhaften Stimmen ausgeführt wurden, und zu der Krone des Festes, dem Weihnachtsdiner, zurück, bei dem ein Etwas nie fehlen darf, was uns Deutschen nicht immer mundet, das von englischen Essern aber in unglaublichen Massen vertilgt wird: plumpudding nämlich, um den die bläuliche Flamme des angebrannten Rums züngelt. Der landesübliche plumpudding, ein riesiger gekochter Globus, der mit seinen reichen Bestandtheilen von Mehl, Fett, Rosinen den Magen leicht beschwert, darf Weihnachten weder im Hause des Reichen noch des Armen fehlen; ebenso schmücken die Fest-Nationalgerichte des fetten Puter nebst geräucherter Zunge und des mächtigen Roastbeefs fast ohne Ausnahme jede Tafel der drei Königreiche.

Und nun zu dem, was Dir als warnendes Exempel dienen mag. Wir hatten unsere Selleriestangen zum Chesterkäse geknuspert, die alten Herren saßen noch über ihrem port und claret und Mrs. Brook forderte uns Jugend auf, den Kaffee im drawing room zu nehmen. Tom, der Heimtückische, reichte mir seinen Arm, in Lizzy’s Augen funkelt es schalkisch auf, in denen ihrer Brüder in geheimer Schadenfreude. Tom, der Verräther, führt mich mit steifer Grandezza aus dem Speisesaal hinaus in die Halle unter den Kronleuchter, von dem der riesige mistletoe herabhängt. Dann packt er mich ahnungsloses, toderschrockenes Opferlamm (nun schließe Deine Ohren, Pensionskind, es schickt sich eigentlich gar nicht für Dich, das zu hören, geschieht aber der Abschreckungstheorie halber), umfaßt mich mit seinen riesigen Armen und küßt mich schallend dreimal auf den Mund, ehe ich noch zur Besinnung komme. Erst bin ich versteinert, dann empört und will zornig losbrechen, da lacht es aber im Chorus um mich her. Die Kinder küßten sich unter dem mistletoe, junge Männer suchen mit tausend Künsten ihre Angebeteten unter das mystische Attribut der nordischen Liebesgöttin zu locken, ja das Hausmädchen, das dem jüngsten Sohn des Hauses unter der geheimnißvollen Krone begegnet, fordert mit höflichem Knix ihr dadurch schuldiges Präsent ein.

Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen, und ich mußte mit den Wölfen heulen. Die geheimnißvolle Macht, die der mistletoe zu Weihnachten demjenigen giebt, der den Anderen unter seiner Krone antrifft, hat sich bei uns ein bischen lange fortgesetzt, und der gewaltthätige Tom hat sein Antragsrecht ein bischen über Gebühr ausgedehnt, ja, denke nur, er macht heute noch an die damals verpfändeten Küsse Anspruch, wo der alte mistletoe längst verwelkt und wir den frischen in wenigen Tagen im Elternhause in leuchtendem Grün neu erstehen sehen. Er behauptet: unsere Liebe welke nie und erfahre ein tägliches Auferstehungsfest. Ueberzeuge Dich selbst von der wunderthätigen Macht dieser mystischen Weihnachtskrone, Du liebe Kleine. Auf Wiedersehen beim englischen Familienfest, beim plumpudding und unter dem mistletoe!
Deine ewiggetreue Freundin
 Martha Brook.