Ein Volksgericht in Graubünden

Textdaten
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Autor: unbekannt
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Titel: Ein Volksgericht in Graubünden
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aus: Die Gartenlaube, Heft 9, S. 123–124
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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[123] Ein Volksgericht in Graubünden. Das heutige Bündnerland züngelt an zwei Orten in die Lombardei hinein, nämlich in Puschlav und im Bergell. Es ist, als sollte in diesen kleinen Thälern am südlichen Fuße der Alpen den Bündnern noch eine Erinnerung an die alte Zeit bewahrt bleiben, da ihre Vögte im Prachtgarten von Cläven geherrscht und an den lachenden Ufern der Adda sich bereichert haben. Sowohl im unteren Bergell als im Brusaskerthal, der Fortsetzung des Puschlaverthals, bewundert der Wanderer südlichen Pflanzenwuchs und wird von milden italienischen Lüften angeweht. Nicht nur der Kastanien- und Feigenbaum, sondern auch Sprache, Gesichtszüge, Haare, Kleidung und mancherlei Sitten und Gebräuche der Einwohner sagen ihm, daß er sich an der Schwelle Italiens befinde. Am Ende des wunderschönen Puschlaversee’s steht das Dörfchen Meschino, welches, wie sein Name andeutet, ziemlich armselig aussieht. Von da stürzt der Poschiavino schäumend und tosend durch ein enges, sich rasch absenkendes Thal in die Adda hinunter. In diesem Thale liegen die zerstreuten Häusergruppen und zwei Kirchen der paritätischem Gemeinde Brusio, welche der Schauplatz unserer Erzählung ist.

Mannigfaltigkeit, Größe und Gegensatz ist im Allgemeinen der unterscheidende Charakter der Landschaften der Schweiz. Das gilt im Besondern auch vom Thale am südlichen Fuße des Bernina. Die Riesengestalten der Hochgebirge streben weit über die Wolken empor, oft zwei- bis dreifach über einander hervorblickend, und zu oberst erglänzen die weißen Eismassen, welche im Strahle der Morgen- und Abendsonne wie vergoldet aussehen. Am Fuße dieser Gebirge sammelt der Landmann auf seinen Aeckern zwei Ernten im Jahre, mäht dreimal seine Wiesen und ißt drei Monate fast täglich Kastanien von seinen Bäumen. Nicht nur an erhabenen Naturscenen, auch an geschichtlichen Erinnerungen ist die vom Poschiavino durchströmte Landschaft sehr reich. Wie oft zogen in älterer Zeit Kriegsschaaren von den wilden Höhen des Bernina durch dieses Thal in die zahmen Gefilde der Lombardei hinunter! Wie viel erzählen noch jetzt davon die Väter ihren Kindern und Enkeln! Im gegenwärtigen Jahrhundert ist die Stille des Thales noch nie durch Kriegsgetümmel, um so öfter dagegen durch schreckliche Naturereignisse unterbrochen worden.

Die Felsen sind nämlich vorherrschend von grauem Schiefer und Kalk, verwittern daher rasch, lösen sich in größere und kleinere Steine auf und [124] füllen die Schluchten an. Wenn dann ein Gewitter durch das Gebirge zieht und seine Fluten ausströmt, donnern die angehäuften Felstrümmer unter dem Namen von Rüfen in die Thaltiefe hinunter und verwandeln in wenig Minuten blühende Wiesenfluren und wogende Saatfelder in Schuttflächen, in welchen der betrübte Blick des Landmanns umsonst ein grünes Plätzchen sucht. Nicht nur durch Rüfen, auch durch Schneelawinen werden die Bewohner der rhätischen Thäler oft in Schrecken gesetzt. Die Lawinen reißen sich von den höchsten Firnen der Berge los, stürzen mit entsetzlichem Krachen und Tosen über die Halden herab, werden immer größer und größer, schießen immer schneller, tosen und krachen immer fürchterlicher, jagen die Luft so vor sich durcheinander, daß im Sturme, ehe sie ankommen, ganze Wälder zusammenstürzen und Gebäude wie Spreu davon fliegen. Neben der Straße am Puschlaversee steht auf einem Stein ein eisernes Kreuz. Daselbst fanden vor nicht gar viel Jahren fünf Männer von Brusio in einer Lawine ihr Grab. Drei davon waren leibliche Brüder; die andern zwei waren Schwäger. Ein ähnliches Unglück ereignete sich zu Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts in Brusio selbst am Fuße der östlichen Gebirgskette. Daselbst wird der Blick des Reisenden, welcher Sinn für Naturschönheiten hat, von einem prächtigen Staubbache gefesselt. Es ist, als wenn das Wasser, welches über den Rand einer Felswand wegstürzt, in Staubwolken aufgelöst würde. Unten sammeln sich die aufgelösten Dünste dann wieder und bilden einen Bach, der murmelnd in mannigfachen Windungen dahinfließt, und von den fleißigen Einwohnern zur künstlichen Bewässerung ihrer Wiesen benutzt wird. Zur Winterszeit stürzt über die genannte Felswand statt des Wassers bisweilen eine Schneelawine herunter. Denn wenn auch im tiefen Thale der Boden selten mehrere Wochen nach einander mit Schnee bedeckt bleibt, so lagern auf den Höhen des Gebirges gewöhnlich große Schneemassen, die, wenn Thauwetter eintritt, oft als Lawinen in das Thal stürzen.

Nicht weit vom schönen Wasserfall wohnte vor ungefähr fünfzig Jahren in einem isolirten Hause ein gewisser Paul mit seiner zahlreichen Familie. Das enge Thal ist stark bevölkert. Die meisten Haushaltungen besitzen daher wenig Grundstücke. Paul konnte also mit den Erzeugnissen des Bodens nicht Weib und Kinder, deren er fast ein Dutzend hatte, ernähren, so einfach auch ihre Kost und Kleidung war, und so sorgfältig auch Aecker und Wiesen bebaut wurden. Um sich den nothwendigen Nebenverdienst zu verschaffen, führte der treubesorgte Hausvater, gleich andern Thalgenossen, im Winter mit einem Pferde gewürzigen veltliner Wein, der schon dem Kaiser Augustus so trefflich mundete und noch jetzt allenthalben Liebhaber findet, auf die Höhe des Bernina, von wo er von den Engadinern abgeholt wurde.

„Gott begleite und behüte Dich vor Lawinen und andern Gefahren,“ sagte eines Morgens die liebende Gattin zu Paul, als er einspannte, um in Gesellschaft anderer Fuhrleute veltliner Produkte nach dem Norden zu führen. — „Nehmt Euch in Acht, lieber Vater, daß Euch kein Unfall zustoße,“ fügten die ältern Kinder hinzu.

„Gott bewahre auch Euch vor Unglück,“ sagte Paul, indem er mit einem Peitschenknalle das Zeichen zur Abfahrt gab.

Es wehte ein lauer Wind. Obschon er von Norden kam, wurde er Föhn genannt. Die Winde brechen sich nämlich in den Bergen Graubündens oft dermaßen, daß in manchem Thale zuweilen der Südwind von Norden kommt und umgekehrt der Nordwind von Süden.

Während Rosina — so hieß Paul’s Gattin — in der kleinen Wohnstube am Fenster selbstgepflanzten Flachs spann, und in Gedanken nicht ohne Besorgniß ihren Gatten auf die Berghöhen begleitete, drang plötzlich ein starkes Tosen zu ihren Ohren. Sie blickte unwillkürlich zum Wasserfall empor. In demselben Augenblick stürzte eine Lawine über die Felswand herunter. Die Schneemasse war aber nicht groß und breitete sich unten nur wenig aus. Die Neugierigen, welche da und dort an den Fenstern erschienen waren, zogen sich daher wieder zurück und setzten ihre Arbeiten fort, ohne sich weiter um die kleine Lawine zu bekümmern. Die häusliche Rosina ging aber ein paar Stunden nachher zum Felsen, um nachzusehen, ob die Lawine kein Holz mit sich geführt habe. Sie wollte durch Sammlung desselben ihrem Manne einen Gang in den fernen Wald ersparen. Zwei halberwachsene Töchterlein begleiteten die Mutter. Auch das Haushündlein ging mit. Es waren noch nicht viele Tannenäste zusammengelegt, als ein gewaltiges Krachen die Luft erfüllte. Es ist nicht mehr Zeit zum Fliehen. Eine furchtbare Schneemasse stürzt von der Höhe und thürmt sich am Fuße des Felsens auf. Rosina, beide Mädchen und das Hündlein sind verschwunden.

Der augenscheinlichen Gefahr zum Trotze eilen die Nachbaren mit Schaufeln herbei; allein die bald hereinbrechende Nacht gestattet nicht lange Nachsuchungen. Paul vernimmt am folgenden Tage auf dem Heimwege schon in Puschlav die Trauerbotschaft. Fast außer sich, langt er in Brusio an, weint bitterlich mit seinen Kindern und vielen andern theilnehmenden Personen. Tage und Wochen lang suchte man vergeblich mit großen Anstrengungen die Tiefverschütteten. Der betrübte Gatte und Vater ließ nach dem Glauben seiner Kirche für sie viele Seelenmessen lesen. Sowohl dafür, als für die Nachgrabungen gab er viel Geld aus. Es kam der Frühling; Berg und Thal grünten und tausend Blümchen blühten neben dem Schneehügel am Fuß der Felswand. Es kam auch der Sommer; das Heu wurde gemäht und der Roggen geschnitten und der Buchweizen gesäet, - und noch immer ruhten Rosina und ihre zwei Kinder in ungeweihter Erde unter der Schneemasse, welche auch der italienischen Julisonne trotzte. Paul fühlte sich in der Mitte seiner Kinderschaar hülflos und gehindert, dem Verdienste nachzugehen, und dachte deshalb bereits an eine andere Gehülfin, die um ihn wäre. Schon war ein starkes Mädchen ausfindig gemacht, das sich nicht ungeneigt zeigte, mit dem Wittwer zum Traualtar zu gehen. Beide waren jedoch der Meinung, mit der Hochzeit warten zu müssen, bis Rosina auf dem Gottesacker neben der Kirche ein Ruheplätzchen gefunden hätte. Die Leute des ganzen Thales, sagten sie, würden sonst bis an’s Ende der Welt von uns sprechen und unsere Kinder und Kindeskinder bis in’s dritte und vierte Geschlecht müßten sich unserer schämen.

Eines Tages erglühten Felsen und Steine von der Augustsonne. Der Lawinenhügel hatte schon seit etlichen Tagen sichtbar abgenommen. Da ging Paul wieder hinauf und entdeckte — ich möchte fast sagen mit freudigem Entsetzen — eine Hand. Es war diejenige seiner Gattin. Er ruft Nachbarn zu Hülfe und nach kurzem Suchen werden auch die Töchterlein nicht weit von der Mutter und mitten zwischen ihnen das Hündlein gefunden. Am folgenden Tage bewegt sich ein langer, langer Leichenzug durch die Wiesen hinunter zum Friedhofe.

Paul glaubte nun, der öffentlichen Meinung das schuldige Opfer dargebracht zu haben und schritt schon zwei Tage nachher zum ehelichen Versprechen mit dem erwähnten Mädchen. Deshalb machten ihm Rosina’s Verwandten bittere Vorwürfe und bald konnte er keinen Schritt im Thale thun, ohne Tadel oder Spott zu hören. Ueberall war der Wittwer Gegenstand des Tagesgespräches. Paul meinte aber, wer A gesagt habe, müsse auch B sagen, und ließ sein eheliches Versprechen alsobald öffentlich in der Kirche verkünden, woran ihn kein Landesgesetz hinderte. Er hoffte, daß die Geschichte mit zwei oder drei Katzenmusiken, die jeder Wittwer, der zur zweiten Ehe schreitet, nach der Sitte des Thales sich gefallen lassen muß, enden werde. Er täuschte sich jedoch. Die beleidigte Volksmajestät — also kann die öffentliche Meinung genannt werden — ist nicht so leicht auszusöhnen. Am Tage der kirchlichen Einsegnung mußte sich das Brautpaar durch dichte Schaaren neugieriger Zuschauer hindurch arbeiten, aus denen mancher Pfeil des Spottes auf sie abgeschossen wurde, bis das Gotteshaus sie in Schutz nahm. Schon am Abend vorher hatten sich die Jünglinge aller Höfe und Weiler vom See bis an die lombardische Grenze unter dem Vorsitze eines Hagestolzen versammelt und einmüthig beschlossen, dem Paul zur Strafe dafür, daß er auf unerhörte Weise schnell das Trauerkleid mit dem Hochzeitsgewand vertauscht habe, ein ganzes Jahr lang jeden Abend eine Katzenmusik aufzuführen. Kaum hatte aber das Ave Maria- Glöcklein den fleißigen Landleuten Feierabend verkündet, als da und dort im Thale Töne eines Horns gehört wurden. Es war das verabredete Zeichen, auf dem Sammelplatze sich einzufinden. Die Jünglinge hätten nicht mit größerer Eile aus den zerstreuten Hütten zusammen laufen können, wenn es die Vertheidiguug des Vaterlandes gegen einen eindringenden Feind gegolten hätte. Eine wackere Schaar, worunter auch etwelche Knaben und verheirathete Männer sich befanden, stand vor einem Wirthshause, auf die Befehle des Hagestolzen harrend, welcher ein gewaltiges Horn, wie der Stier von Uri, in der rechten Hand hielt. Die meisten Anwesenden hatten große und kleine Viehschellen um den Hals gehängt, zwei waren mit alten Trommeln, einer mit einer Trompete, ein anderer mit einer alten Baßgeige versehen. Manche hatten eiserne Schaufeln oder Pfannen in der einen und Hämmer in der andern Hand, und die Hörner der Hirten waren alle in Anspruch genommen.

Mit Ungeduld warteten Frauen und Töchter an den Fenstern auf den seltenen Ohrenschmaus. Nun setzte sich der Zug mit einem wahren Höllenlärm in Bewegung. Es wurde nicht nur getrommelt, geblasen, geschellt und gepfiffen; man ahmte auch die Stimmen der Esel, Ochsen, Kühe, Ziegen, Schafe, Hunde, Katzen und anderer Thiere nach. Erst nachdem der wilde Haufen bis lange nach Mitternacht sich um Paul’s Wohnung herum müde und heiser gelärmt hatte, wurde es im Thale wieder stiller. Als das Ehepaar schon mehrere Abende nach einander in der ersten und zweiten Flitterwoche auf solche Weise in seiner Ruhe gestört worden war, wurde ein Versuch gemacht, den Präsidenten des Volkstribunals, den mehrgenannten Hagestolzen, durch ein Geschenk von zwei Dukaten zu bestechen. Es gelang nicht. Deshalb begab sich Paul, von seiner jungen Frau angestachelt, zum ersten Gemeindevorsteher, um ihn auf einen Gesetzesartikel, der solchen Scandal verbiete, aufmerksam zu machen. „Die Sitte ist stärker, als das Gesetz“, gab dieser zur Antwort. Wo das Gesetz ohnmächtig ist, ist Selbsthülfe erlaubt, dachte das handfeste junge Eheweib, und prügelte mit wahrem Amazonenmuth am nächsten Abende zwei Jünglinge nach Herzenslust, die nach dem Abzuge der übrigen in der Nähe ihres Hauses zurück geblieben waren. Nun wurde beiderseits beim Amtspodesta von Puschlav geklagt. Dieser machte sich auch nicht gerne bei dem jungen Volke, das an Wahltagen ein nicht kleines Gewicht in die Wagschale legt, verhaßt; allein die Aussicht, einige Thaler zu erhaschen, bestimmte ihn doch, in der Abenddämmerung zwei Gerichtsdiener nach Brusio zu schicken mit dem Befehle, sobald der Scandal wieder anginge, mit Laternen aus irgend einem Versteck hervorzuspringen und alle Uebertreter des Gesetzes, die sie erkennen, aufzuzeichnen. Die Waibel gehorchten willig, da auch ihnen etwas von den Geldbußen zu Theil wurde. An einer klug gewählten Stelle, wo die Flucht nicht so leicht war, wurde die lärmende Schaar von den Männern mit dem rothen Kragen am Rocke, an denen Niemand wagte, sich zu vergreifen, überfallen. Fünfzehn Jünglinge, die beim Laternenschein erkannt wurden, mußten die gesetzliche Buße, jeder einen Thaler, bezahlen. Der größere Theil daran gehörte dem Podesta, welcher dann viele Jahre lang an den Wahltagen von den jungen Männern in Brusio keine Stimme mehr erhielt. Die Katzenmusiken hörten indessen noch nicht auf. Die jungen Leute, besonders die fünfzehn abgestraften Burschen, lärmten noch viele Nächte, bis es den Geistlichen und andern einflußreichen Personen gelang, das außerordentliche Strafgericht aufzulösen und den nächtlichen Ruhestörungen ein Ende zu machen.