Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Ein Vesuvschwärmer
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aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1911, Bd. 1, S. 232, 234, 235
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1911
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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Quelle: Commons
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[232] Ein Vesuvschwärmer war der am 2. August 1909 auf seinem Landsitze bei London verstorbene Lord Robert Balroof, der [234] jährlich mindestens einmal den Vesuv erstieg und fraglos zu den besten Kennern dieses Vulkans gehörte. Balroof wurde 62 Jahre alt, und seit seinem 25. Jahre hatte er eigentlich nur eine einzige Leidenschaft: den Vesuv.

Er ist der Verfasser mehrerer sehr eingehender Werke über die Geschichte dieses Vulkans, ebenso stammen von ihm viele Karten, die die Veränderungen der Krateröffnung nach jedem Ausbruch mit äußerster Genauigkeit wiedergeben. Den Vesuvführern war der reiche Lord ein gütiger, stets hilfsbereiter Freund, und in ihren Kreisen sind viele Anekdoten bekannt, die seine Schwärmerei für „seinen Vulkan“ beleuchten.

So machte Balroof einst in Gesellschaft des bekannten Mineralogen S. von der Genfer Hochschule im Winter einen sehr beschwerlichen Ausflug nach dem Vesuvkrater. Hierbei äußerte sich Professor S. dahin, daß nach seinen Berechnungen der Vulkan seine Tätigkeit innerhalb der nächsten 50 Jahre einstellen werde.

Lord Balroof blieb bei dieser Eröffnung stehen. „Ist das Ihr Ernst?“ fragte er.

Professor S. lächelte und meinte dann: „Nun, ich wollte eben nur sehen, welchen Eindruck die Nachricht von dem Erlöschen ‚Ihres‘ Vulkans auf Sie machen würde.“

Balroof kehrte ihm den Rücken und sagte: „Die Kränkung des Vesuvs werde ich Ihnen nie vergessen.“

Als der Lord zur letzten Ruhe gebettet und sein Testament eröffnet war, erlebten seine Erben, zwei Neffen von ihm, eine keineswegs angenehme Überraschung. Er hatte als unverbesserlicher Vesuvschwärmer die Erbeinsetzung von der Bedingung abhängig gemacht, daß seine Neffen seinen Leichnam am 14. Dezember 1909, dem Jahrestage seiner ersten Vesuvbesteigung, in den Krater des Vesuvs an einer genau bestimmten Stelle und zwar durch drei mit Namen genannte Vesuvführer hinablassen und so einäschern sollten. Die Ausführung dieser testamentarischen Bestimmung hat die Erben viele Tausende gekostet, wurde aber wörtlich befolgt.

Am 14. Dezember 1909 nachmittags zwei Uhr verschwand der einfache Holzsarg mit den sterblichen Überresten Lord Balroofs [235] in den dichten Rauchwolken, die der Vulkan unter dumpfem Grollen ausstieß. Als die Stricke, an denen der Sarg hing, abgelaufen waren, ließen die Männer auf ein gegebenes Zeichen die Enden los, und ein polterndes Dröhnen im Innern der Krateröffnung klang als letztes Zeichen der Erfüllung der merkwürdigen Testamentsbedingung zu den Lebenden empor.

W. K.